Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Erregte Debatte über Schiffskarten

In Begleitung eines imaginären Opponenten trete ich in das Seekartendepot ein.

Es ist sehr raffiniert, daß ich mir diesen scheinbar unbequemen Begleiter erfinde: Er bringt mir das Stichwort, er ist die bestellte Interpellation, seine Einsprüche geben meinen Aussprüchen erst Bedeutung, sein Widerspruchsgeist wird meinen Geist ins richtige Licht setzen.

Und je klüger, energischer, gebildeter mein Gegner sich geben wird, um so größer ist dann mein Sieg; schmählich wird am Schluß seine Niederlage sein, wenn ich ihm durch eine knappe, sachliche Widerlegung jeden ferneren Einwand unmöglich mache!

»Was gibt's denn da drinnen zu sehen?« fragt mich mein Golem mürrisch.

Ich, sein hoher Rabbi Löw, erwidere ihm höflich, da drinnen gäbe es Seekarten zu sehen.

»Drücken Sie sich etwas deutlicher aus. Sie meinen also Karten der Meeresküste?«

»Nein, hochverehrter Herr Kollege, vor allem Meereskarten. Die Darstellung des Küstenfestlandes wird zumeist von den Aufnahmen des Militärgeographischen Instituts einfach auf die zugehörige Seekarte übertragen. Was aber hier gemacht, aufbewahrt und von hier ausgegeben wird, sind ausschließlich Seekarten, sozusagen Pläne des Meeres.«

»Das müssen ja unbeschriebene Blätter sein«, lacht er. »Was ist denn einzuzeichnen auf dem Meere? Etwa Gebirge oder Wiesen oder Karrenwege oder Bahnhöfe oder Reisfelder oder Schienen? Auf dreihundertsechsundsechzig Millionen Quadratkilometern der Erdoberfläche ist doch nichts als Wasser, ewige Gleichheit, ewige Horizontale, ewige Glätte. Wie soll denn eine Karte aussehen, auf der ein Quadrat Wasser dargestellt ist, im Norden, Osten, Süden, Westen – und was weiß ich, was es noch für Himmelsrichtungen gibt – immer nur von Wasser umgeben?!«

»Alles Täuschung, hochverehrter Herr Kollege, die ewige Unwandelbarkeit, die ewige Horizontale, alles nur Täuschung, Schwindel, Verstellung, Maske . . . Wir sind aber gewappnet, wie Sie gleich sehen werden, Bertillonage, Daktyloskopie, Meßkartensystem, Verbrecheralbum des Meeres. Spazieren Sie nur weiter, Eintritt verboten. Hier, in diesen langen Sälen, finden Sie Schränke und Regale mit Fächern, in denen die Mappen sind, welche die Karten enthalten.«

Mein Begleiter summt, um mich zu ärgern, die Variante eines Zungenfertigkeitscouplets aus dem Repertoire des Budapester Orpheums vor sich hin: »Es steht ein Haus am Berge . . . In langen Sälen hohe Schränke . . . In hohen Schränken viele Schuber . . . In vielen Schubern breite Mappen . . . In breiten Mappen alle Karten . . . Auf allen Karten tausend Zeichen . . . Es steht ein Haus am Berge, lange Säle, hohe Schränke, viele Schuber . . .«

Ich überhöre das und erkläre weiter: »Diese Karten liegen in ihren Fächern geographisch geordnet, selbst einen Globus bildend. Mit ein paar Handgriffen kann man jede Reiseroute zusammenstellen . . .«

»Also ein Fahrkartenbüro«, bemerkt jener ironisch.

»Gewiß, hochverehrter Herr Kollege, ein Fahrkartenbüro, aber ein unentbehrliches. Ohne diese Fahrkarten gäbe es keine moderne Schiffahrt. Schauen Sie sich einmal die Ziffern und Zeichen eines solchen Blattes an, sie bedeuten Tiefen und Untiefen, Klippen und Bänke, Strömungen und Inseln, Flutzeiten und Radiostationen, Leuchttürme und Peilobjekte, astronomische und magnetische Nordrichtung. Sie sehen, hochverehrter Herr Kollege, jedes Blatt der ›ewig gleichen Ebene‹ ist von dem anderen ganz verschieden. Die Kartographen an den Tischen arbeiten auf aufgespannten Zeichenblättern, auf Kupferplatten oder Lithographensteinen, mit Reißfedern, Pantographen, Koordinaten, Auftragsapparaten, Zirkeln, Linealen und Farben, und zeichnen neue Karten und ändern die alten nach Meldungen, Segelhandbüchern und Vergleichskarten. Glauben Sie, daß die Leute das zum Zeitvertreib machen – ganz abgesehen von der Mappierung, die draußen auf dem Meere schwere Arbeit ist. Bis zu neuntausendsechshundertsechsunddreißig Meter Tiefe ist das Meer ausgelotet.«

»Wozu diese Arbeit? Ist nicht Kolumbus ohne dergleichen Akkuratessen mit seinen gebrechlichen Karavellen geradenwegs auf sein Ziel zugesegelt, jawohl, gesegelt? Hat er nicht sein Fahrtziel dort erreicht, wo er es erreichen wollte, und ist er nicht trotz aller Unbill nach fast acht Monaten der Forschungsreise genau wieder in seinen Auslaufshafen zurückgekehrt? Ohne Ihre Seekarten mit Peilobjekten und wie all das Zeug heißt, dessen Kenntnis Sie da großtuerisch vor mir auskramen!«

»Wohl, wohl, verehrter Herr Kollege! Aber Kolumbus ist eben durch die Kartographie zur Überzeugung von der Möglichkeit eines westlichen Seeweges gekommen. Ich habe Ihren Einwand vorausgesehen, verehrter Herr Kollege, und habe die Geschichte des Kolumbus zu Hause nachgelesen. Seine Einzeichnung von der Schwimmrichtung des geschnitzten Holzes und zweier an die europäische Küste geschwemmter exotischer Leichname, die Karte des Marinus von Tyrus und der Globus des Ptolemäus gaben ihm jene unerschütterliche Sicherheit, mit der er dem täglichen Drängen seiner Begleiter und der latenten Meuterei seiner Matrosen zu trotzen vermochte. Aus einem Raume, wie es dieser ist, in dem wir uns befinden, ja gerade aus einem Seekartendepot kam er nach Amerika. Wie er dieses Kartenmaterial erlangt hat – das ist ein Liebesroman, der noch nirgends beschrieben ist.«

»Und wieso kennen Sie diesen angeblichen Liebesroman?«

»Meine Quellen verrate ich Ihnen nicht, verehrter Herr Kollege, aber die Geschichte kann ich Ihnen erzählen: Cristoforo Colombo war (ebenso wie sein Bruder, der Kosmograph und Seekartenzeichner Bartholomeo in Lissabon) von väterlicher Seite her mit Kartophilie behaftet, ja – wenn Professor Sigmund Freud das Wort gestattet – sogar mit ›Kartomanie‹. Als er nun in Portugal den großen Seefahrer Don Muniz de Perestrello kennenlernte, war es sein krankhafter Wunsch, tage- und nächtelang über dessen Logbüchern und Karten sitzen zu dürfen, um in seinen Phantasien die dargestellten Gebiete durchreisen, die fehlenden Angaben ergänzen und die Mängel – waren es doch nur Erinnerungsblätter einzelner Seeleute – korrigieren zu können. Wie es aber anstellen, um dem Eigentümer dieser Schätze nicht lästig zu fallen? Da war es denn ein doppeltes Glück, daß Don Muniz eine Tochter hatte, deren Schönheit dem kühnen Entdecker trotz all seiner Vertiefung in die Karten nicht entgangen war. Cristoforo war von hohem Wuchs, muskulös, klug und würdevoll, und als er der Donna Felipe sein Herz entdeckte, konnte er das ihre schnell in Besitz nehmen. Don Muniz mußte ja und amen sagen, und er schenkte seinem Schwiegersohn die Seekarten. Kolumbus kopierte und verbesserte sie durch Küstenaufnahmen, verkaufte die Kopien, bestritt damit die Bedürfnisse seines Haushaltes und konnte abends, über den Originalen sitzend, von der Auffindung eines Seeweges nach den fabelhaften Ländern träumen.«

»Einen Liebesroman nennen Sie das? Ich nenne es Mitgiftjägerei.«

»Wie Sie es auch bezeichnen mögen, verehrter Herr Kollege, jedenfalls ist Kolumbus mit Felipe glücklich gewesen und ihr treu geblieben.«

»Treu geblieben! Daß ich nicht lache! Wissen Sie nichts von seinem Verhältnis mit Beatrix Enriquez aus Cordoba, wissen Sie nichts . . .«

»Es ziemt uns nicht, Herr Kollege, großen Männern, Bereicherern der Menschheit, die bürgerliche Forderung zu präsentieren. In Rede stand doch nur, daß Kolumbus die Pläne kannte, daß er ihrer bedurfte.«

»Sagen Sie, was Sie wollen, seine Route, sein Ziel waren doch nicht eingezeichnet, und selbst für die bereits bekannten Gewässer hatte er keine solchen Karten, wie sie mit allen Schikanen der neuzeitlichen Technik und mit tausend Eintragungen hier konstruiert werden. Schauen Sie sich einmal diese Mappen an, die uns eben aus dem Antiquitätenkasten des Institutes gereicht werden. Karl V. hat sie seinem Sohn Philipp zum Geschenk gemacht. Wo sind da Meerestiefen und Windtriften, wo sind da Treibeisgrenzen und Bojen, wo sind da Meeresströmungen und Äquatorialströme eingezeichnet, he? Künstlerisch ausgestattet sind sie, einen verschwenderischen Reichtum an ornamentalen und figuralen Zierleisten haben sie – sie gefallen mir besser als Ihre heutigen und haben denselben Zweck erfüllt. Und erst die Phönizier und Ägypter? Landkarten sind uns von ihnen erhalten, aber Seekarten keineswegs. Die ältesten uns bekannten maritimen Blätter sind die des Marino Sanuto und des Pedro Vesconte aus dem Anfang des vierzehnten Jahrhunderts; sie werden wohl noch bedeutend weniger Angaben enthalten als hier die Caroli V. Sie können aber nicht bestreiten, daß die Ägypter, die Phönizier und Venezianer höchst respektable Marinen besessen haben!«

»Stimmt, stimmt, mein Herr! Ich sehe schon, daß ich Ihnen viel zuviel Kenntnisse auf dem Gebiete der Marinegeographie und Marinegeschichte gewährt habe. Aber zum Glück verstehen Sie von Schiffsbaukunde nicht das geringste, mein Herr!«

»Wie wollen Sie das beurteilen?«

»Haben Sie nicht das Wort ›gesegelt‹ früher unterstrichen, Herr? Gewiß ist die Takelage eine schwierige Materie und gefährlich dazu – und gegen sie ist wirklich die Vervollkommnung der Seekarte kein Präservativ, sie wird freilich durch Schiffskarten nicht leichter und ungefährlicher. Was hat denn auch solch ein Segler für einen Tiefgang? Wenn er ein großer Kutter ist, einen Meter, höchstens anderthalb Meter. Der sieht das Riff unter dem Meeresspiegel, auf das er auffahren könnte, an der helleren Färbung des Wassers schon von weitem und kann gemächlich davon abhalten. Heute vermöchte nicht einmal Lynkeus – ›Scharfsichtiger Lynkeus, der bei Tag und Nacht / Das heilige Schiff durch Klipp' und Strand gebracht‹ – einen modernen Luxusdampfer oder einen Panzerkreuzer, der dreißig Meilen in der Stunde läuft – das ist Schnellzugsgeschwindigkeit, mein Lieber! –, ohne Karte zu navigieren. Versuchen Sie es einmal, mit einem Schiff von zwanzig Millionen Kilogramm Gewicht und einem Tiefgang von vierzehn Metern in der letzten Minute einer Untiefe auszuweichen! Legen Sie einmal ein Kabel oder fischen Sie eines, wenn Sie nicht einmal wissen, wie tief das Meer auf der Strecke ist! Machen Sie einmal ohne Karte mit Tiefenangaben eine U-Boot-Reise in feindliche Gewässer! Laufen Sie nächtlich in einen Hafen ein, wenn Sie keinen Hafenplan und kein Segelhandbuch besitzen! Suchen Sie sich um Mitternacht ohne Leuchtfeuerverzeichnis im Riffgebiete zu orientieren! Machen Sie mit einer Schlachtschiffflottille ohne Seekarten einen Raid in die Otrantostraße – die Marineverwaltung wird Ihnen gewiß für Ihr Experiment gern ein paar Dreadnoughts zur Verfügung stellen. Schauen Sie sich doch, bevor Sie reden, die ältesten gestochenen Karten an, zum Beispiel die ›Hydrographie Française‹ von 1737 oder die des ›I. R. Instituto Geografico di Milano‹! Was fällt Ihnen an all den alten Blättern aus der Kindheit der Meereskunde auf? Die Ausführlichkeit des Textes, die große Zahl der Legenden und die eingezeichneten Silhouetten der Häuser und Felsen an der Küste, nicht wahr? Trotzdem diese Karten schon von ziemlicher Genauigkeit waren, genügte eben die rein graphische Darstellung für die Navigierung großer und schneller Schiffe nicht mehr, und man mußte noch verbale Angaben über Leuchtfeuer, Vorschriften, Küstenpostämter und dergleichen einführen. Heute hätte nicht ein Tausendstel der notwendigen Angaben auf den Kartenrändern Platz!«

»Aha! Und doch kann man navigieren! Sehen Sie!«

»Sie Ignorant, Sie! Weil eben alle diese Angaben heute in nautischen Hilfsbüchern stehen, als da sind: Kundmachungen für Seefahrer, Notices to the mariners, Avvisi ai naviganti, Segelhandbücher, Leuchtfeuerverzeichnisse, Atlanten, Vedutenalben, Signalbücher, Schiffslisten und Instruktionen, periodische und unperiodische Druckschriften aller Art . . .«

»Meinetwegen! Aber sind deshalb die Schiffsunfälle . . .«

»Halten Sie 's Maul, wenn Sie nichts verstehen!«

 


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