Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Fürst Bolkonski am Grabe Trencks

Apokryphes Kapitel von Tolstois »Krieg und Frieden«

Wohl ist es richtig, daß Fürst Andrej Bolkonski in den ersten Stunden der Fahrt von seiner Mission erfüllt war. Er hatte Marathonbotschaft zu überbringen, dem verbündeten Kaiser persönlich die Meldung vom Siege zu erstatten, und seine Entsendung war Auszeichnung, hob ihn jäh aus der ausgerichtet dastehenden Reihe aller russischen Offiziere heraus. Auch war er noch der Gedanken an die gestrige Schlacht voll, an das blutige Hin und Her, an die tote Schützenkette vor Dürrenstein, an den österreichischen General Schmidt, der eben mit ihm gesprochen hatte, als ihn eine Franzosenkugel tödlich in den Hals traf, und an das furchtbare Chaos der Verwundeten, die vor dem Lazarett in Krems Hilfe heischten.

Hinter Znaim jedoch wurden seine Träume von zukünftigem Ruhm, die Erwartung der Audienz, die Erinnerung an seine Kaltblütigkeit im Gefechte und an die gräßlichen Szenen geradezu gewaltsam von den Farben der Landschaft verdrängt, die durch die Fenster der leichten Chaise drangen und deren Inneres erfüllten. In den Furchen der Äcker und auf den höher gelegenen Teilen der Hügellehnen lagen noch Schneereste. Auf diese Zeitgenossen des Winters starrend, die hier mitten im Frühlingslager starben, dachte Fürst Bolkonski an die Franzosen, die auf dem Schlachtfelde geblieben waren: auch sie mußten ja verblutend den Sieg ihres Feindes sehen. Der Frühling hatte das Feld behauptet, und seine Farben flatterten über dem Gelände. Aber für wie lange?

Wird man in Wien die Taborbrücke halten können?

Ein wundervolles Land war es, durch das er fuhr. Goldenes Gebüsch säumte die Gärten ein, die satten schwarzen Schollen auf dem Felde erzählten dem Grundherrn von Wolowjew von großer Fruchtbarkeit, die Forste waren noch grün und dicht, die kalkbeworfenen Häuserwände, die Staketen wilden Weines und der Lack der Fensterläden verrieten Glück und Heimatliebe der Bewohner. In Gasthöfen, vor denen der Postkutscher die Pferde tränkte und auch der Kurier einen Imbiß genehmigte, sprach man eine fremde Sprache, die im Tonfall wie Russisch klang. Das dürfte Mährisch sein, dachte Bolkonski und daran, daß er noch nie von der Existenz einer mährischen Sprache etwas gehört hatte. Natürlich, das hatte man in der Moskauer Kriegsakademie nicht gelernt! Die Geographie der österreichischen Erblande, der inneren besonders, hatte man nur kurz abgetan, und was kümmerte es den Soldaten, welche Sprache die Leute der Gegend sprachen, wo man eine Schlacht zu liefern hat!

Nur von diesem Gesichtspunkte aus lernen wir von der Welt. Rußland ist ihr Kern. Kein anderes Volk kommt in Betracht, kein Land ist so schön wie Rußland, keines hat solch eine ruhmreiche Geschichte, keines solch eine wunderbare Kultur.

Allein, wenn man hinauskommt, so weit wie ich, Fürst Andrej Bolkonski, sieht man, daß das anders ist. Was bedeuten für die Leute in Mähren unsere großen Fürsten Michael Feodorowitsch und Peter der Große, unsere Feldherren Suwarow und Korssakow, unsere Dichter Cheraskow und Bagdanowitsch, von denen wir glauben, daß die ganze Welt sie bewundert? Nicht einmal die Namen hat man hier je gehört und feiert hier wohl andere Zelebritäten, die wieder wir nicht kennen. Jedes Volk glaubt, es sei das herrlichste der Welt, und will die anderen beherrschen!

Freilich, unser Moskau, das macht uns niemand nach, die märchenhaft schwarzen Paläste mit Karyatiden und Ornamenten, die prächtigen Kirchen mit Riesenportalen und hohen Kuppeln! Wie armselig sehen dagegen hier die ebenerdigen Häuser aus.

Gegen einhalb vier Uhr nachmittags machte sich Bolkonski empfangsbereit. Sein Diener packte auf dem Kutschbock den Galarock des Fürsten aus dem Koffer, Andrej legte ihn an und ließ sich im Wagen die silbergespornten Stiefel bürsten. In zwei Stunden konnte er schon vor dem deutschen Kaiser stehen.

Auf dem Kamm des kleinen Hügels, der, umgeben von der Stadt, mitten im Tale stand, sah Andrej die rechteckige Festung Spielberg, als es fünf Uhr abends war. Nervös drückte er mit der flachen Hand die Orden auf den Waffenrock, zupfte die Handschuhe über die Finger und fuhr bald darauf beim Palaste vor.

Die Tatsache, daß er, der Spezialkurier Kutusows, nicht noch heute vom Kaiser Franz empfangen, sondern vom Präsidenten des Hofkriegsrates abgespeist worden war, und die ostentative Interesselosigkeit, die Graf Latour für den russischen Sieg über Mortier an den Tag gelegt hatte, waren der Grund dafür, daß Fürst Bolkonski in höchstem Maße verstimmt war, als er das Schloß verließ, um in das Palais des russischen Botschafters zu fahren. Bilibin war nicht zu Hause, er war bei einer Unterredung mit Stadion, mit Gyulai und mit dem heute aus Wien eingetroffenen Lichtenfels, aber sein Gesandtschaftssekretär Fürst Hippolyt Kuragin begrüßte Bolkonski mit respektvoller Herzlichkeit. Gegen neun Uhr werde der Herr Gesandte zum Souper erscheinen.

Fürst Andrej, der sich vom Sitzen in der Kutsche noch durchgerüttelt fühlte, beschloß, die passiven Strapazen durch einen Spaziergang auszugleichen.

Eine schlendernde Menge bewegte sich überall, schöngekleidete Frauen, um deren Gunst sich begleitende Herren bemühten. In den Zimmern aller Häuser brannte verschwenderisches Licht, man sah von draußen, wie hoch die Plafonds waren, und konnte die kostbare Ausstattung der Wohnungen erraten. Geschäfte sind erleuchtet, Wagen rollen nach allen Richtungen.

Als ob nicht Weltkrieg wäre. Als ob nicht, nahe genug, eben eine Schlacht geliefert worden wäre. Als ob es nicht dort Todesschreie junger Menschen und zerfetzte Gliedmaßen gegeben hätte. Als ob nicht bald der Feind hiersein könnte.

Der fremdländische Offizier mit goldenen Fangschnüren und Orden erregt allgemeine Aufmerksamkeit auf der Promenade. Der Fürst merkt das und freut sich dessen. »Morgen heftet mir der Kaiser sicher einen hohen österreichischen Orden an die Brust. Und wenn der Krieg noch lange dauert – wer weiß, als was ich nach Petersburg zurückkehre.«

Die Straßen sind breit, Plätze erstrecken sich in großen Bogen, die Häuser stehen wuchtig da und sind an künstlerisch gemeißelten Zieraten reich. Ein Riese von Dom reckt sich, froh seiner Größe, über die Stadt und hebt seine Arme senkrecht zum Himmel. Zu dieser Kirche, vor der Bolkonski steht, führt eine Rampe, und die verwitterten Sandsteinmönche auf der Balustrade mögen bei Tageslicht ein künstlerischer Genuß sein.

Eine herrliche Stadt, dieses Brünn, und dabei doch nicht mehr als ein Refugium des Kaisers. Wien muß viel prachtvoller sein, gewiß noch wunderbarer als Petersburg. Welcher Russe würde das glauben! Man führt uns irre, damit Kriege möglich sind. Aber – er denkt an morgen – manchem sind Kriege von Vorteil.

Aus der Kirche flutet ein Menschenstrom, Bolkonski, neugierig, ihr Inneres zu sehen, zwängt sich durch die Menge. Das Kirchenschiff ist schmucklos, der Hauptaltar plumpe Schnitzerei, die Decke unbedeutend bemalt. Während er die Seitenaltäre abschreitet, hat sich das Gotteshaus geleert, und ein bärtiger Mann im braunen Habit mit dem Zingulum steht neben ihm und fragt den interessierten Fremdling dienstbeflissen: »Wollen Sie vielleicht die Katakomben sehen?«

Andrej nickt gleichgültig und läßt sich von dem Mönch in das Kloster geleiten, dessen Eingang gleich neben dem Kirchenportal ist. Ein breites Holztor im Korridor. Durch den Glasbogen, der sich darüber wölbt, sieht man die blutenden Hände eines gekreuzigten Heilands. Nichts weiter als die blutenden Hände . . . Der Klosterbruder öffnet, und der Gang geht weiter. Eine schmale Wendeltreppe, von deren Nische er eine Lampe nimmt und anzündet, führt hinab.

Die Kellerräume sind lang, nur an wenigen Stellen der Ziegelwände ist Mörtelverputz erkennbar. Überall liegen Leichen. Manche in offenen Särgen, manche – die Äbte – uneingesargt in zerfallenen Kutten in einer Reihe, bloß die Kapuze ist ihnen Kopfpolster. Sie sehen gar nicht wie Skelette aus, sondern wie halb verhungerte, zusammengeschrumpfte Menschen, die vom Schlaf der Erschöpfung befallen sind. Die Kellerluft hat ihrer Gesichtshaut verschiedene, nicht unnatürliche Farben gegeben. Zwischen den keuschen Mönchen ruht eine Frau – die Gattin Grimms, des Baumeisters der Kirche, wie der Klosterbruder erklärt.

Der Kapuziner hebt die Laterne in die Höhe und läßt ihren Schein aufwärts strahlen. Bolkonski sieht, daß der Luster aus Menschenknochen zusammengestellt ist, in denen Kerzen stecken. Auch ein Altar aus Totenschädeln ist hier.

Ein Memento steht in schwarzen Lettern auf weißer Tünche. »Ego fui – tu eris«, darunter liegt, abseits von den anderen, ein riesenhafter Leichnam auf rotem Mantel. Fürst Bolkonski starrt ihn an, und der Mönch, der dem Blick des Gastes gefolgt ist, erklärt: »Der berühmte Pandurenoberst Baron Franz von der Trenck. Hat sich am 4.#160;Oktober 1740 auf dem Spielberg vergiftet, 38#160;Jahre alt.«

Andrej läßt keinen Blick von dem Toten: ein ruhmvoller Kamerad, russischer Offizier wie er. Der große Trenck! In Rußland waren seine Kriegstaten mit Schanzarbeit in der Kiewer Festung gelohnt worden, und hier, in seiner Heimat, hatte man den Kalabreser Helden bis zum Tode in die Spielberger Kasematten gesperrt. Was waren die Verbrechen Trencks gewesen? Tollkühnheit, Rücksichtslosigkeit, Willkür? Man sagte so. Aber sind denn nicht bloß Feigheit, Verrat, Auflehnung und vor allem kriegerisches Mißgeschick die einzigen strafbaren Verbrechen des Soldaten? Etwas anderes hatte ihn gestürzt, etwas, was Bolkonski seit vorgestern kannte, als ihn Kutusow vor allen Offizieren zur Reise an den Hof beordert. Niemand hatte gesprochen, aber die Blicke hatten verraten, daß die Kameraden ihm keine Kameraden mehr seien.

Was hatte der blutjunge Obrist der Panduren verschuldet, das ihn, den Schutz und die stete Vorhut der ganzen Armee, ihn, den Schrecken der Feinde, in Ungnade geschleudert? Den Neid hatte er erweckt, das war seine tragische Schuld!

Morgen werde ich vielleicht den Theresienorden erhalten, sagte sich Fürst Andrej Bolkonski, als er sich fröstelnd zum Gehen wandte.

Die schwarze Inschrift über dem toten Trenck streifte noch einmal sein Auge.

 


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