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IX.

Aus dem Sturmgesang der Zeit

Die deutsche Muttersprache

Des Erdenlebens wechselnde Gestalten
Entstehn – vergehn; es altern Zeit und Ort.
Nur ich hab' ew'ge Jugend mir erhalten,
Des Geistes Tochter, das lebend'ge Wort.

Früh habt ihr meinen ersten Gruß empfangen
Als Mutterschrei herzinn'ger Lieb' und Lust,
Und heute noch erglühn euch Herz und Wangen,
Mein Widerklang lebt fort in eurer Brust.

Aus Vatermund habt ihr mich einst vernommen,
Als Segenssprüchlein unterm Weihnachtsbaum,
Als Märchenfee bin ich zu euch gekommen,
Die Wiege schaukelnd sang ich euch in Traum.

Ich bin das Lied, das in der Kindheit Tagen
Im Wald erklang, wie Rolands Zauberhorn,
Ich hab' die Sehnsucht euch ins Herz getragen,
Ich gab euch Gold aus deutscher Sage Born.

Durch mich allein habt ihr zuerst gefunden
Den Gruß der Freundschaft auf des Lebens Bahn,
Ich sprach zu euch in ewig schönen Stunden,
In meiner Schule wuchs das Kind zum Mann.

Mit meiner Zunge habt ihr fromm gesprochen:
– »Ich liebe dich, ich bin dir ewig treu!«
Und wenn ihr Lieb' und Treue habt gebrochen:
In meiner Sprache straft euch Zorn und Reu'.

Kein Röslein blüht im Garten eures Lebens,
Drauf nicht mein Mund den Weihekuß gedrückt,
Kein Ideal, kein Ziel des Menschenstrebens,
Die Muttersprache nennt's und hat's geschmückt.

Oh, seid gegrüßt, gegrüßt aus freud'gem Herzen,
Die ihr mich liebt und die ihr an mich glaubt!
Seht, ich bin keine Königin der Schmerzen,
Wie eine Sonne heb' ich hoch mein Haupt.

Wer ist so kühn, mir Ehrfurcht zu versagen?
Wer hemmt den Schritt mir zu der Kinder Schar?
Mein Ruhm wird um den Erdenkreis getragen,
Hier aber ist mein Haus und mein Altar.

Was Walter sang, was Goethe uns gesungen,
Des Lebens Glück, der zorn'gen Waffen Tanz,
Das Schicksalslied der stolzen Nibelungen –
Mein Herzblut ist's, mir flochten sie den Kranz.

Was ich erschuf, der Menschheit ist's beschieden,
An treuen Jüngern hat's mir nie gefehlt;
Ich bin die Kraft, die Freiheit und der Frieden,
In meiner Schule sitzt der Geist der Welt.

Das haltet fest! das ist die große Sache,
Der Menschheit Bildung lebt in meinem Wort.
Verleugnet nie die deutsche Muttersprache,
Dann ist sie euch ein Segen fort und fort.


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