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Das Lied des Elends.

Es führt mein Weg mich durch die Straßen
Bei grauer Nacht, bei Frost und Wind;
Da schleicht das Elend durch die Gassen,
Als Weib und Mann, als Greis und Kind.

Ein Meer des Lichts aus tausend Fenstern,
Ein Klang des Lebens hier und dort –
Sie aber wandeln gleich Gespenstern,
Sie wechseln weder Blick noch Wort.

Nur manchmal, wenn ein Strahl der Lichter
Den Zug der Traumgestalten streift,
Dann seh' ich schmerzliche Gesichter,
In Not verblüht, in Weh gereift.

Ich seh', wie dort ein Auge funkelt,
Heißhungrig nach der goldnen Pracht,
Wie hier eins weinend sich verdunkelt.
Hinstarrend in die leere Nacht.

Auch Worte hör' ich ausgesprochen,
Fluchworte, daß mein Herz mir bebt,
Die an das Tor des Himmels pochen,
Als wäre dort kein Gott, der lebt.

Und von der Menschenliebe Trauern,
Von Wehmut wird das Herz mir groß,
Es schüttelt mich ein fremdes Schauern,
Ich misch' mich in des Elends Troß.

Du armes Weib mit bleichen Wangen,
Was suchst du hier bei Nacht und Frost?
»Mein Mann ist in den Krieg gegangen,
Und tot ist meiner Kinder Trost!«

Und du, der wie ein Bettlerkönig
Mich anblickt mit dem Aug' der Not, –
»O Herr! ich bitt' Euch untertänig,
Gebt mir nicht Worte, gebt mir Brot!«

»Auch ich hab' brav und unverdrossen
Für Weib und Kind gesorgt, geschafft,
Man hat die Werkstatt uns geschlossen –
Jetzt komm' ich aus der langen Haft.

Glaubt mir, ich will nicht ehrlos lungern,
Dankt Gott, daß Ihr so glücklich seid!
O Herr, es denkt sich viel – beim Hungern,
Und bei der Schuld liegt auch das Leid!«

Da wandt' ich bebend mich zum Greise:
Wohin so spät noch, alter Mann?
Blödsinnig lächelnd sprach er leise:
»Wohin? Wohin? – So weit ich kann!

Herr! Meine Kinder sind gestorben,
Mein Gnadenbrot, es reicht nicht zu;
All, was ich liebte, ist verdorben –
Nur in der Erde find' ich Ruh'!«

Erschüttert von dem Bild der Schmerzen
Wandt' ich mich atemlos zum Kind:
Dir schau' ich durch das Aug' zum Herzen,
Sag' mir, wo deine Eltern sind.

Und mit dem Jammerblick, dem stummen,
Sah jetzt das Kind zu mir empor
Und reichte mir – erfrorne Blumen,
Selbst eine Seele, die erfror! – –

Laut heult der Sturmwind auf den Straßen,
Durch die der Zug des Elends zieht. –
Das ist ein Christfest in den Gassen,
Das ist des Elends ew'ges Lied.


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