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Tropfen und Meer.

Es sinkt vom hohen Himmel
Ein Tropfen silbergrau;
Das ist der Lebensbringer,
Das ist der ew'ge Tau.
Er ist dem Meer entstiegen,
Wie Venus, in der Nacht,
Er schmückt die dunkle Erde,
Daß sie glänzt und funkelt und lacht.

Er schmückt die höchsten Berge,
Daß sie glühn im Morgenstrahl,
Er schmückt die kleinste Blume,
Daß sie duftet im tiefsten Tal.
Es rauschen die Quellen hernieder
Aus des Berges steinerner Brust,
Es rieseln die tausend Bäche,
Es wandeln die Ströme mit Lust.

Und an der Ströme Ufern
Da wohnt der Menschen Geschlecht,
Die leben in Arbeit und Sorge,
In Freude und Frieden und Recht.
Sie alle blicken verlangend
Empor zu des Himmels Blau,
Auf alle senkt sich hernieder
Der Lebensbringer, der Tau.

Der wandelt sich rieselnd zum Regen
In brennender Sommerszeit,
Er schenkt der darbenden Erde
Ihr schönes, grünes Kleid.
Er treibt das Gewässer der Mühle,
Er befruchtet den fruchtlosen Sand,
Er verwandelt die Heide zur Weide,
Er segnet das Ackerland.

Aber endlos kommen die Wolken,
Die grauen Töchter der Luft,
Sie schweben um Berge und Wälder,
Ihr Führer, der Sturmwind ruft.
Es ist nicht mehr das liebliche Säuseln,
Das Veilchen und Rosen erweckt.
Es ist ein Aechzen und Stöhnen,
Das Erde und Himmel schreckt.

Das sind nicht mehr die silbernen Tropfen
Auf duftigem Laub und Klee,
Es schütteln aus frostigen Schleiern
Die Wolken Eis und Schnee.
Und wo nur Menschen wohnen
Am einsamen Gestad',
In Dörfern und in Weilern,
In wohlummauerter Stadt,

Da zieht kein Schiff durch die Wogen,
Der Strom ist still und starr,
Unwillig beugt er den Nacken
Als eisige Brücke dar.
Er liegt in kristallenen Banden,
Doch knirscht er in seiner Haft –
Oh, hütet euch! er schläft nur
Und träumt – von seiner Kraft.

Noch trägt er gewaltige Lasten
Auf seinem Riesenleib,
Er duldet der Menschenspiele
Mutwilligen Zeitvertreib.
Doch plötzlich kann er erwachen,
Erwärmt vom Sonnenblick,
Und seines Panzers Ringe
Abschütteln Stück für Stück.

Ihr träumt vielleicht im Schlummer
Und ahnt nicht, daß er's tut –
Ihr Menschen an den Ufern,
Oh, seid auf eurer Hut!
Bald wird der Strom zerreißen
Sein ehernes Gewand,
Das Grundeis wird zerbersten,
Versinken wird das Land.

Und wo nur Menschen wohnen
Am einsamen Gestad',
In Dörfern und in Weilern,
In hochgetürmter Stadt,
Da faßt der Strom die Brücken,
Zerbricht sie Joch für Joch,
Schäumt über seine Ufer,
Kein Damm ist ihm zu hoch.

Nun weckt ein Schrei des Schreckens
Die Schläfer aus dem Schlaf:
»Das Wasser kommt! das Wasser!
Ihr Männer, rettet brav!«
Kein Fels und keine Klippe
Ruft halt! der zorn'gen Flut,
Was jüngst den Strom gebändigt,
Versinkt vor seiner Wut.

Hört ihr das wilde Treiben?
Es überheult der Sturm
Den Jammerruf der Menschen,
Den Glockenschlag vom Turm.
Nun ist's nicht mehr der Tropfen,
Der liebevoll erquickt,
Es ist ein – Meer geworden,
Das tötet und erstickt.

Dort kriecht aufs Dach der Hütte
Der Notgenossen Schwarm,
Hier sinkt ein Weib hinunter,
Ihr einzig' Kind im Arm.
Den einen trägt ans Ufer
Ein morsches, dürres Brett,
Dem andern wird zum Sarge
Sein eignes Schlummerbett.

Seht, bei dem Schein der Fackeln,
Der überm Wasser blinkt,
Taucht hoffnungslos ein bleiches
Antlitz empor und – sinkt.
Und durch das laute Toben
Der Brandung dringt ein Schrei
Und wird nicht mehr verstanden,
Und alles ist vorbei.

O Menschenherz! Nun kannst du
Erproben deine Kraft,
Im Augenblick des Todes
Verstummt die Leidenschaft.
Jetzt wirft sich treue Liebe
Für Liebe in den Tod,
Jetzt wird der Feind zum Freunde,
Jetzt wird der Mensch zum – Gott.

Und wieder strahlt die Sonne
Herab vom Himmelsblau,
Und auf den Gräbern funkelt
Der Lebensbringer, Tau.
Da singt ein Chor von Männern:
Ist auch das Herz uns schwer,
Es lebt die Menschenliebe,
Gewaltig, wie das Meer,

Und wenn die Sonne funkelt
Herab vom Himmelsblau,
So denkt nicht an die Wolke,
An Sturm und Nebelgrau.
Der Tropfen wird geboren,
Der Tropfen muß vergehn,
Die Menschen müssen sterben,
Die Menschheit wird bestehn.


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