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Achtundzwanzigstes Kapitel.
Gewonnen!

Der berüchtigte Kasseneinbrecher Oskar Hampe, mit dem Spitznamen Moppel oder »der feuchte Händedruck«, saß auf der Anklagebank. Er zitterte vor Erregung. Immer wieder steckte er die Zungenspitze heraus und befeuchtete seine trockenen Lippen. Und unaufhörlich ließ er seine ängstlichen Augen über die dichtbesetzten Zuhörerplätze schweifen, als ob er unter diesen hundert gespannten, abwartenden Gesichtern einen festen Anhaltspunkt suchte. Mit beiden Händen umklammerte er die Schranke.

»Der hat eine wahnsinnige Angst, daß der Mord verraten wird!« dachte Henrik. Er saß in einer der vordersten Zuhörerbänke, das Kinn auf die verschränkten Arme gestützt. In der rechten Hand hielt er einen kleinen, fast unsichtbaren Bleistiftstummel, unter der linken Hand verbarg er ein Stück Papier.

In einer anderen Bank saß Klaus. Er sah müde aus, denn das Gift war noch nicht ganz aus seinem Körper heraus. Es mußte irgendwo in der Nähe der Kinnbackenmuskeln stecken, so daß er in einemfort gähnen mußte. Jeden Augenblick war er gezwungen, die Hand an den Mund zu führen, damit der Richter nicht in seinen weit geöffneten Schlund blickte. Es ging beinahe im Takt, so oft gähnte er.

Plötzlich fühlte Klaus, daß die Augen des Moppel starr auf ihm ruhten, ein langer, forschender, unerträglicher Blick. Hatte er ihn erkannt – erinnerte er sich an den uppercut, den er oben in der Elchkalbshütte von ihm bekommen hatte? Oder genierte ihn sein Gähnen? Er starrte ja wie behext auf seine Hand, jedesmal, wenn er sie zum Munde führte. Zur größeren Sicherheit blinzelte ihm Klaus geheimnisvoll zu. Da wandte der Moppel seine Augen wieder ab.

Die Jungen hatten sich über eine Arbeitsteilung geeinigt. Henrik sollte wie ein Haftelmacher auf die Fingerbewegungen des Moppel aufpassen, während Klaus den Auftrag hatte, zu beobachten, ob er blinzelte. Was Tor betrifft, so war auf ihn das Los gefallen, sich unten auf der Straße vor dem Publikumseingang zu postieren und sich alle gut anzusehen, die den Gerichtssaal verließen, bevor die Verhandlung zu Ende war. Merkte er einem von ihnen etwas Verdächtiges an, so hatte er ihm wie ein Schatten zu folgen.

Und nun begann die Gerichtsverhandlung.

Aber eben als der Staatsanwalt das lange Sündenregister des Moppel zu verlesen begann, glitt ein Hintertürchen auf, und der Geheimpolizeichef betrat zusammen mit Wold den Saal.

Sie nahmen auf einer Bank im Hintergrund Platz und betrachteten den Moppel mit scheinbar gleichgültigen Blicken.

Henriks Augen wichen keine Sekunde von den Händen des Moppel. Fing er denn nicht bald an?

Plötzlich begannen ein paar Burschen dicht hinter ihm zu kichern, und eine Stimme flüsterte:

»Du, schau, der Moppel kann mit den Ohren wackeln!«

Henrik gab es einen Ruck. Er ließ den Blick blitzschnell von den gelblichen feuchten Händen des Moppel zu seinem Ohr hinaufgehen. Ja, wahrhaftig, der saß da und bewegte das Ohr wie ein Kaninchen! »Jetzt werden wir sehen, jetzt werden wir sehen!« dachte Henrik. »Da haben wir das Signal!«

Und er begann mit zitternder Hand zu notieren: Strich, Punkt, Strich – Strich – Punkt – Punkt, Strich –.

Hurra, da hatte man es! Glücklicherweise ging es ziemlich langsam, so daß Henrik die Zeichen ganz gemächlich notieren konnte. Und nach Verlauf von fünf Minuten hatte er folgende Botschaft auf dem Papier:

 

kteag, ktw, atüosku, atkkzw, tehmq, kteag, ktw, atüosku, attkzw, tehmq –.

 

Als er diese Hieroglyphen entziffern wollte, indem er die Striche mit den Punkten vertauschte, bemerkte er, wie ein vierzehnjähriger Junge, der auf derselben Bank wie er selbst dicht an der Wand gesessen hatte, aufstand und sich einen Weg hinauszubahnen begann.

»Sitzen bleiben!« flüsterten mehrere.

»Nein, ich muß hinaus,« flüsterte der Junge.

Der Richter schlug auf den Tisch.

»Ruhe dort unten, sonst lasse ich den Saal räumen!«

Aber der Junge drängte sich immer weiter durch, und da Henrik an einer Ecke saß und ja außerdem die Botschaft schon aufgeschnappt hatte, beschloß er auch den Saal zu verlassen. Eine Sekunde begegnete er dem Blick des Detektiv Wold. Henrik blinzelte ihm ein paarmal zu. Dann nahm er seine Krücke und hinkte hinaus. Eben als er zur Galerietür hinausging, schob sich der Vierzehnjährige an ihm vorbei, warf ihm einen funkelnden, wütenden Blick zu und stürmte die Treppe hinunter.

»Warum ist denn der so wütend?« dachte Henrik, aber im selben Augenblick blitzte ihm ein Verdacht auf. Vielleicht war der Junge ein Graubein? Kaschmir hatte doch von dem Buben mit dem Karren erzählt, der dem Marinius geholfen hatte.

So rasch er konnte, riß er das Gangfenster auf und pfiff auf die Straße hinunter. Ja, da stand Tor Wache! Er hörte den Pfiff und guckte hinauf.

Der Knabe aus dem Zuhörerraum kreuzte gerade die Straße. Henrik deutete auf ihn und nickte energisch. Tor nickte verständnisvoll zurück und begann sofort dem Buben nachzugehen. Und im selben Augenblick erkannte Henrik ihn. Er hatte ihn an Bord der Yacht des Doppel-Nelson gesehen, da war er in der Schiffsküche gestanden und hatte eine weiße Schürze umgehabt. Der war also damals über Bord gesprungen und entkommen.

Nun begann Henrik in fieberhafter Eile die Botschaft des Moppel zu übersetzen. Und jetzt hieß es:

 

retnu red nezsorg nerrüd etchif – –:

Unter der großen dürren Fichte!

 

Henrik fühlte eine Hand auf seiner Schulter und fuhr zusammen. Rasch drehte er sich um.

»Ach,« rief er ganz erleichtert aus, »Sie sind's, Herr Wold! Das ist wirklich gut, daß Sie gekommen sind!«

Henrik senkte die Stimme:

»Hier habe ich nämlich das Signal vom Moppel!«

Der Detektiv sah ihn ganz verdutzt an:

»Aber der Kerl hat doch nicht eine einzige Bewegung gemacht!«

»Doch, er hat mit den Ohren gewackelt! – Hier können Sie selbst sehen, ich hab's schon übersetzt! ›Unter der großen dürren Fichte‹, steht da, so deutlich wie die Runen auf einem Hünengrab!«

»Ist das – hm – das deutlichste, was du dir denken kannst?« fragte Wold mit einem Lächeln und nahm das Papier. Aber er hatte es kaum eine halbe Minute angeschaut, als er schon sah, daß das wirklich eine Botschaft war und daß Henrik sie in der einzig richtigen Weise gedeutet hatte!

»Das hast du wirklich nicht schlecht gemacht, Henrik,« murmelte er, »aber sehr viel klüger sind wir darum doch nicht! Hier im Lande wird es wohl einige tausend dürre Fichten geben!«

»Aber wo diese steht, weiß ich! Das kann nur die große dürre Fichte am Südende des Schwarzensees sein. Er war ja in dieser Nacht dort oben, und – und – und – nein, jetzt erinnere ich mich ja ganz deutlich, daß Per unter dieser Fichte etwas rascheln hörte, als wir auf dem Heimweg vorbeikamen – das war natürlich der Moppel – und wir haben geglaubt, es sei ein Tannenzapfen!«

Die Tür öffnete sich, und Tor kam ganz außer Atem in die Vorhalle hereingestürzt.

»Ich bin dem Buben nach,« japste er, »bis in eine Seitengasse – und da sind vier Kerle gestanden und haben gewartet – und er hat ihnen was zugeflüstert – und dann sind alle miteinander weitergegangen und haben sich ein Auto genommen – und dann hat einer von ihnen dem Chauffeur zugerufen: Hof Lystad!«

»Ich habe Recht gehabt,« flüsterte Henrik.

*

Jetzt folgten die Ereignisse blitzschnell aufeinander.

»Wart einen Augenblick,« sagte Wold und verschwand. Im nächsten Moment war er wieder da. Er winkte den Knaben zur Türe hinzukommen, die er angelehnt ließ.

Und nun hörten sie den Richter sagen:

»Auf Grund neuhinzugekommener Beweisstücke hat der Gerichtshof beschlossen, den Fall bis auf weiteres zu vertagen.

Die Verhandlung ist geschlossen!«

Vor Enttäuschung murrend, verließen die Zuhörer die Galerie. Und da kam Klaus mit einem ganz langen Gesicht. Henrik machte ihm ein Zeichen, Klaus sah erstaunt aus, aber sagte nichts.

Zehn Minuten später sausten zwei Autos über die Landstraße, in der Richtung nach Lystad. Im ersten saß der Geheimpolizeichef, Wold und die drei Jungen. In dem zweiten vier Polizisten.

Vor der Lystadbrücke kam ihnen ein Mietauto entgegen, auf dem Rückweg in die Stadt. Es wurde aufgehalten. Ja, ja, erklärte der Chauffeur, er hatte eben fünf Personen abgesetzt, die gleich den Pfad der Schwarzenseeache entlang hinaufgegangen waren!

Den Pfad hinauf ging es flott. Henrik hatte bereits eine fabelhafte Übung im Gebrauch der Krücke erlangt. Er ging beinahe schneller als die anderen. Und über gestürzte Stämme und derlei machte er leicht und elegant Stabhochsprünge, während die andern hinüberklettern mußten.

Ja, so war er also wieder hier! Es schien ihm fast eine Ewigkeit her, seit er zuletzt da gewesen war. Der erste Akt war ja spannend genug gewesen, aber doch nichts gegen den letzten Akt! Das war ein Endspurt, der sich sehen lassen konnte.

Hurra, da war die große, dürre Fichte! Schon einen halben Kilometer weit weg konnte man sie wie ein Wegzeichen über den Wald hinausragen sehen. Jetzt hatten sie nur mehr sieben, acht Minuten bis dorthin.

Der Schlachtplan war klar und einfach. Man brauchte nur gerade loszugehen! »Aber haltet euch ein bißchen im Hintergrund, Buben,« sagte der Polizeichef, »denn ihr seid ja doch eigentlich Zivilisten und sollt lieber nicht in die Schußlinie kommen!«

Aber die Jungens krochen doch vorsichtig vor und wurden Zeugen des Ganzen.

Die Fünf waren eben dabei, die Wurzel der Fichte bloßzulegen, als das Polizeiaufgebot plötzlich aus dem Waldesdickicht vorrückte. Nun warfen sie die Geräte von sich und liefen jeder in eine andere Richtung, aber vier von ihnen wurden nach einer kurzen Treibjagd gefaßt. Nur dem Jungen gelang es, spurlos zu verschwinden. Vermutlich war er wieder in den Fluß gesprungen wie am Tag vorher. Der mußte ja schwimmen können wie eine Otter, der kleine Kerl!

Unter der Fichte, einen halben Meter tief in der Erde fanden die Polizisten zwei kleine Blechkassetten, die Bargeld und Wertpapiere im Betrag von etwa einer Viertelmillion Kronen enthielten. Das war die Beute von dem Dynamiteinbruch in den »Vereinigten Banken« am Johannisabend. Die eine Kassette war schon halb bloßgelegt. Wenn die Polizei fünf Minuten später gekommen wäre, hätten sich die Graubeine wahrscheinlich schon mit ihrer Beute aus dem Staub gemacht.

Das war ein großer Tag für Henrik, mit Gratulationen und allem Erdenklichen. Der Polizeichef lud alle drei Jungen zum Mittagessen zu sich ein, ein feines Mittagessen mit vielen Gängen. Dabei scherzte und lachte der Polizeichef und hielt dann eine lange Rede auf Henrik, den er die ganze Zeit Mister Sherlock Holmes junior titulierte. Klaus, frech wie immer, stand auch auf und hielt eine Rede.

»In meinem und im Namen meiner Kameraden,« sagte er, und balanzierte das Bierglas elegant auf den Fingerspitzen, »gestatte ich mir, für die glänzende Bewirtung zu danken!«

Nachher gab es Kaffee auf der Veranda. Der Polizeichef wohnte in einem feinen alten Fachwerkhaus mit einem großen Garten. Während sie noch so saßen und plauderten und es gemütlich hatten, kam ein älterer Herr zu Besuch. Er begrüßte die Knaben freundlich, und als er Henrik die Hand schüttelte, sagte er:

»So, du bist also Henrik Kragstein? Ich gratuliere dir, mein Junge, und danke dir für den großartigen Dienst, den du uns erwiesen hast! Ich bin nämlich Direktor Grau von den Vereinigten Banken!«

Und dann zog er vier versiegelte Kuverts aus der Tasche, und indem er jedem Knaben das seine reichte, sagte er:

»Wir haben soeben eine Direktionssitzung abgehalten und sind darüber einig geworden, daß, wenn Henrik uns nicht geholfen hätte, und ihr anderen auch, wir das geraubte Geld nie wiedergesehen hätten. Es ist ja auch im allerletzten Augenblick gefunden worden. So haben wir denn beschlossen, euch eine Belohnung zu überreichen. Jedem ein Bankbuch! Aber wo ist denn der vierte?«

Der Bankdirektor sah das vierte Kuvert an und las die Adresse:

»Wo ist Kaschmir Kaschmirson?«

»Der ist gestern Abend verschwunden,« sagte Klaus und starrte ganz erstaunt das Kuvert an, das er in der Hand hielt.

»Aber er kommt doch zurück?«

»Wir werden schon dafür sorgen, daß er das Geld bekommt!« sagte der Polizeichef und übernahm das Kuvert in Kaschmirs Namen. Im selben Augenblick wurde er zum Telephon gerufen.

Als er bald darauf zurückkam, machte er ein sehr ernstes Gesicht. Er ging direkt auf Henrik zu und drückte ihm die Hand.

»Du hast wieder einmal recht behalten, mein Junge,« sagte er, »soeben telephoniert mir Wold, daß Oskar Hampe ein volles Geständnis abgelegt hat. Er ist es, der die Hasenschnauze ermordet hat!«

 

Ende

 


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