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Einundzwanzigstes Kapitel.
Was ist mit Klaus?

Es war keine leichte Sache, Hilde zu beruhigen. Sie hatte einen Nervenschock erlitten, und Henrik mußte seine ganze Beredsamkeit aufbieten, um ihr begreiflich zu machen, daß sowohl der unschuldig verdächtigte Mörder wie der mutmaßliche wirkliche Mörder hinter Schloß und Riegel saßen. Klaus war also keineswegs ausgezogen, um sich mit Raubmördern zu boxen.

»Aber wo ist er denn, wo ist er?« jammerte sie.

»Er hat nur einen Ausgang zu machen gehabt!«

»In Zigeunerkleidern!«

»Sie sind ihm glänzend gestanden! Wie angegossen!«

»Aber so eine Schande, wenn jemand ihn erkennt!«

»Eben damit ihn niemand erkennt, hat er doch die Kleider genommen!«

»Um Gotteswillen, was sagst du da! Warum soll ihn denn niemand erkennen?«

»Weil – ja, also weil es eben notwendig ist.«

»Aber das hört sich ja an wie ein Verbrechen – –.«

Hilde wollte eben wieder ohnmächtig werden, als es fest an die Tür klopfte. Ein langer, knochiger Kerl mit kohlschwarzem Vollbart trat herein. Henrik erstarrte förmlich, wie er da auf seinem Bettrand saß. Mit einem blitzschnellen Blick hatte er gesehen, daß der Mann eine große Narbe an der linken Schläfe hatte. Kein Zweifel, das war Christian Nelson mit der Narbe.

Doppel-Nelson blieb einen Augenblick an der Tür stehen und musterte die drei Personen im Zimmer scharf. Dann räusperte er sich und sagte:

»Hm. – Liegt hier nicht ein Bub, der Kaschmir heißt?«

Tor wollte schon antworten, als ein Blick von Henrik ihn verstummen ließ.

»Wie sagen Sie?« fragte Henrik. »Kaschmir? Das kann doch nicht der Name eines Christenmenschen sein!«

»Christenmensch oder nicht Christenmensch – wo ist er, der Kaschmir?«

»Hier ist eine Zeitlang ein Patient gelegen, aber wie der geheißen hat, das wissen wir nicht. Er hat nichts reden dürfen, ich glaube, er hat Wasser in der Lunge gehabt. Oder einen Herzfehler. Aber jetzt ist er abgereist!«

Der Teppichklopfer blinzelte mit den Augen und fragte:

»So? hat er nicht gesagt, wohin er reist?«

»Der hat doch überhaupt kein Wort gesagt. Wenn die Krankenpflegerin zu ihm geredet hat, hat er sie in den Finger gebissen. Wenn ich also meine Meinung sagen soll, so glaub ich, der hat eher Wasser im Kopf gehabt als in der Lunge. Oder möglicherweise hat er an der Tollwut gelitten! War das vielleicht Ihr Sohn?«

Doppel-Nelson murmelte etwas in sich hinein.

Hilde hatte den Mund zusammengezogen und fächelte sich wie rasend.

Tor biß sich in die Unterlippe und hatte ganz rote Augen. Ohne ein Wort zu sagen, machte Christian Nelson plötzlich kehrt, ging aus dem Zimmer und schmetterte die Tür hinter sich zu.

»Um Gotteswillen, was war denn das für ein Grobian?« japste Hilde.

»Keine Ahnung,« sagte Henrik, »aber er hat wie ein Zigeuner ausgesehen!«

»Ist das ein Haus!« stöhnte Hilde. – »Das soll ein Krankenhaus vorstellen! Hier halte ich es keine Sekunde länger aus! – Sag dem Klaus, wenn er endlich einmal kommt, daß ich warte. Im Kontor von Herrn Gutsbesitzer Kragstein. Vergiß nicht zu sagen, daß ich warte

Und damit segelte Hilde zur Türe hinaus.

Henrik und Tor atmeten erleichtert auf.

»Eigentlich merkwürdig, daß er noch nicht zurück ist! Aber jetzt ist er da! Hör nur!«

Tor stand auf und lief zum Zensier.

Unten aus dem Garten hörte Henrik Hilde rufen:

»Klaus, Klaus, aber so bleib doch stehen! Hörst du denn nicht, du abscheulicher Bub!«

Eine Sekunde darauf wurde die Türe weit aufgerissen und Kaschmir stürmte herein. Er schlug die Türe hinter sich zu und drehte rasch den Schlüssel im Schloß um.

»War diese Zwiderwurzen schon wieder da!« stammelte er atemlos. »Die muß ja schon ganz blödsinnig sein!«

Aber Henrik und Tor starrten ihn sprachlos an.

»Hast du den Klaus getroffen?« fragte Henrik.

»Woher denn!«

»Aber die Kleider, Mensch – du hast ja Klaus' Kleider an.«

»Ja, hab ich sie unter meine eigenen!«

»Aber deine eigenen, wo hast du denn die her?«

»Hab ich sie drinnen bei diese Krischtian Nelson mit die Narbe gefunden! Darum komm ich ja her. Bin ich ganze Weg gelaufen.«

Und damit richtete Kaschmir seine großen schwarzen Augen auf Henrik und flüsterte:

»Glaub ich, sie haben umgebracht deinen Kameraden – und dann sie haben ihn in eine Kiste weggeführt!«

Es donnerte an die Türe. Hilde stand draußen. Ganz außer sich.

»Du Kaschmir,« flüsterte Henrik, und er fühlte, wie er vor Angst und Erregung am ganzen Körper zitterte – »sag kein einziges Wort über irgend etwas auf der Welt, wenn wir die jetzt hereinlassen – tu, als ob du taubstumm wärest! Und laß mich reden. – Tor, mach die Türe auf!«

Hilde blieb auf der Schwelle stehen und sah Kaschmir ganz entgeistert an.

»Aber Gott, das ist ja gar nicht der Klaus!«

»Nein, sie haben jetzt wieder die Kleider getauscht – Klaus wird schon nach Sonnberg hinausgefahren sein, denk ich mir,« sagte Henrik.

Es galt Zeit zu gewinnen, jede Sekunde war kostbar! Zuerst mußte Kaschmir erzählen, was er wußte. Aber wenn Hilde da blieb, gab es nur Geschrei und Durcheinander.

Hilde warf einen geringschätzigen Blick auf Kaschmir, und um so recht zu zeigen, was sie dachte, hielt sie sich das Taschentuch an die Nase.

»Dann fahre ich selbstverständlich auch hinaus,« sagte sie nur und ging.

Henrik packte Kaschmir beim Jackenaufschlag und flüsterte:

»So, jetzt erzähl aber!«

Kaschmir erzählte schnell und knapp, was er erlebt hatte, seitdem er aus dem Krankenhaus durchgebrannt war.

Henrik überlief es eiskalt, als er Kaschmirs Jacke aufriß und sah, daß er Klausens Kleider unter seinen eigenen trug. Also mußte sich Kaschmirs Geschichte nicht so weit von der Wahrheit entfernen. Aber ein Mord, nein! Das konnte nicht sein! Die Leute ermorden doch nicht so mir nichts dir nichts fünfzehnjährige Jungens. Aber was hatte dieser Tollkopf auch beim Doppel-Nelson zu tun gehabt? Jetzt hatte er bestimmt das ganze Spiel verpatzt, nur weil er immer so tollkühn losgehen mußte.

»Aber der Brief, Kaschmir, der Brief! Wo hast du ihn?«

Kaschmir zog den zerknüllten Brief aus der Tasche, und Henrik griff begierig danach. Tor war nicht weniger eifrig. Er beugte sich über die Schulter Henriks, der den Brief laut las:

»Lieber Freund!« stand da – »nimm dich des Überbringers an. Das ist bestimmt ein gefährlicher Bursche. Er weiß viel mehr, als ihm gut ist. Hat unsere Signale herausgeschnüffelt und hat mir einreden wollen, daß er drinnen mit dem ›feuchten Händedruck‹ gesprochen hat. Hat sich zuerst Kaschmir Kaschmirson genannt, es aber dann wieder aufgegeben. Hat gesagt, daß er zwei Monate eingekastelt war und eben herausgekommen ist. Bestimmt derselbe Lausbub, von dem du damals erzählt hast, daß er sich ›beklagt‹ hat! Möchte wissen, ob der ›Kamerad‹ im Krankenhaus nicht der Kaschmir ist? Was sagst du zu einem kleinen Gläschen ›Todesbruder‹? In aller Eile. E. S.«

Henrik ließ den Brief fallen: »Das geht auf Klaus. So sicher wie nur was!«

»Todesbruder!« flüsterte Tor.

»Das ist aller- allergefährlichste Gift, was es auf ganze Welt gibt!« sagte Kaschmir mit Grabesernst. »Wer das trinkt, wird er steifer als Stück Holz und kann er achtundvierzig Stunden nicht einmal mit kleine Finger wackeln.«

»Aber – aber sterben tut man also nicht davon –?«

»Kommt vor, daß man vergißt alles, sogar seine eigene Namen! Hab ich nur an Flasche gerochen, aber hab mir gleich Nase zugehalten, denn möcht ich meine Namen nicht vergessen, bis ich nicht habe abgerechnet mit diese gottverfluchte Hund, diese Krischtian Nelson mit die Narbe. Aber jetzt wir können ihm an Gurgel fahren. Jetzt haben wir Meuchelmörderspur ausgeschnüffelt, und jetzt gehen wir ihm nicht von Ferse und kläffen und bellen so lange, bis für seine ganze übrige Leben sitzt in aller- allerinnerste, dunkelste Kerkerloch!«

»Aber das Gift, Kaschmir, das Gift! Stirbt man davon? So red doch, Mensch.«

Henrik weinte fast vor Angst.

»Nein – aber kommt vor, daß die Leut werden lebendig begraben.«

»Was sagst du?«

»Ja, denn wenn wer Fremder findet sie, glaubt er, sie sind tot!«

*

Zwei Minuten später hatte Henrik, auf seine Krücke gestützt, das Krankenhaus verlassen. Er tat so, als ginge er spazieren und plauderte ganz gleichgültig mit Tor und Kaschmir, und in einem unbewachten Augenblick schlichen sie sich alle drei zum Gartenpförtchen hinaus. Im selben Moment kam ein Auto herangesaust.

»Das nehmen mir,« sagte Henrik.

»Aber wir haben ja kein Geld!« rief Tor.

»Macht nichts. Das bringen wir schon später in Ordnung.«

Damit hielt er das Auto mit einer Handbewegung an.

»Sind Sie frei?« fragte er den Chauffeur, der zusammenzuckte, ganz als ob er geschlafen hätte.

»Ich bin bestellt – gleich hier drüben in der Gasse – aber wenn's nicht sehr weit ist – kann ich vielleicht noch zuerst mit Ihnen fahren.«

Tor und Kaschmir halfen Henrik in das Auto und stiegen dann auch ein. Kaschmir schmunzelte:

»Ist das jetzt zweites Mal, daß ich in Auto fahr!«

»Du bist erst einmal gefahren?« fragte Tor.

»Ja, aber das war lange Tour, kann ich dir sagen. Von Lystadbrücke bis in Krankenhaus!«

»Fahren Sie zur Polizeistation!« sagte Henrik kurz zum Chauffeur.

Es waren nicht viele hundert Meter bis zur Polizeistation. Unterwegs bemühte sich Henrik Tor zu erklären, was er dem Detektiv Wold sagen sollte, aber der Straßenlärm war so stark, daß er geradezu brüllen mußte. Darum hatte er ihm auch noch nicht viel sagen können, als das Auto bereits vor der Polizeistation stehen blieb.

Als Tor schon auf dem Trittbrett stand, sagte Henrik:

»Red nicht zuviel, überlaß das mir! Sag nur, daß es sich um den Mord am Schwarzensee handelt und um den Panther, aber erwähne vorläufig Christian Nelsons Namen nicht!«

Der Chauffeur drehte langsam den Kopf und warf einen raschen Blick auf Henrik und Kaschmir.

Dann schlug Tor die Autotür zu und lief die Treppen hinauf.


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