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Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Die Polizei packt zu

»Wer von euch heißt denn Kaschmir?« fragte der, den Tor als den Chef der Geheimpolizei bezeichnet hatte. Das Auto sauste zum Hafen hinunter.

Kaschmir schlug verwirrt die Augen nieder und stammelte:

»Das – das ist miro! – Aber – aber war ich wirklich – hab ich nicht anders können – hab ich müssen den Rad nehmen, damit ich geschwind hineinkomm! Hab ich keine Zeit gehabt, um Erlaubnis zu fragen!«

»Das Fahrrad? Na, das ist eine andere Geschichte! – Aber ist es so, daß dieser Christian Nelson dir einen Messerstich beigebracht hat?«

»Gar nix hat er!«

»Nein? Das ist doch merkwürdig. Aber Bratz, Sie haben es mir doch erzählt?«

»Das war der andere, der Tor, der mir's gesagt hat!«

»Was weiß schon diese Tor?« fragte Kaschmir gereizt. »Ist er doch nicht dabei gewesen!«

»Der Henrik hat's mir erzählt,« sagte Tor und wurde ganz rot, »der, der also jetzt verschwunden ist!«

»Aber wer hat dich denn gestochen?« fragte der Polizeichef.

»Haben mich zwei gestochen. Erst einer und dann anderer. Aber wer war, das ist meinige Sache.«

»Aber du hast doch gesagt, daß dieser Christian Nelson ein gefährlicher Kerl ist, nicht wahr?«

»Ja, und dabei bleib ich bis zu meine Todesstunde.«

Das Auto war inzwischen zur Brücke hinuntergesaust und blieb vor dem Gebäude der Hafenpolizei stehen.

Das Patrouillenboot der Hafenpolizei mit vier Polizisten an Bord lag zur Abfahrt bereit da, und kaum waren der Geheimpolizeichef, der Detektiv und die zwei Jungen an Bord gekommen, als es auch schon davonglitt. Kaschmir saß zusammengehockt neben dem Steuermann. Seine schwarzen Augen sogen tausend neue Eindrücke ein. Was sich doch diese Buros alles ausdenken mußten, um dieses elende Geld einzuscharren! Diese unglaublich riesigen Krallen aus Eisen und Stahl, die von den Brückeneinfassungen hin und herschwangen und hunderte Säcke Kohle hier und hunderte Säcke Mehl dort schnappten und sie in Eisenbahnwagen und Lastautos niederfallen ließen, waren sie nicht wie die eigenen Krallen der Buros selbst, gierig und unersättlich, Tag und Nacht gingen sie auf Fang aus. Und all dieser schwarze Rauch, der wie Gewitterwolken aus Schiffen und Häusern dahintrieb, und dieser Fäulnisgeruch aus dem Wasser selbst, das schnupperten sie gern ein, das fanden sie herrlich! Die mußten ja alle miteinander drinnen in der Brust ganz schwarz sein wie Friedhoferde. Es war das erste Mal, daß Kaschmir den Hafen sah. Er gehörte zum Waldvolk, das in den Binnengegenden umherzog und in den gewaltigen, tiefen Wäldern. Noch heut Abend oder spätestens morgen früh würde er sich wieder in die Wälder schlagen, denn da war es sicher und heimelig – –.

Unterdessen saß Tor drinnen in der Kajüte und erzählte dem Geheimpolizeichef alles, was sich zugetragen hatte, seit Klaus und er auf Henriks Geheiß am Morgen in die Stadt gefahren waren. Er begann damit, von Henriks großer Entdeckung zu erzählen – Doppel-Nelsons geheimnisvoller Klopfsprache. Aber der Polizeigewaltige lächelte nur und winkte abwehrend mit der Hand.

»Dieser Henrik,« sagte er lächelnd, »ist sicherlich ein sehr kluges Bürschchen, aber manchmal geht doch seine Phantasie mit ihm durch! Er hat von Kaschmir eine ganze Reihe von Dingen erfahren, und mit denen scheint es ja seine Richtigkeit zu haben. Aber im übrigen müssen wir schon das eine oder andere abziehen. Was also zum Beispiel den Moppel betrifft, so scheint er leider an dem Dynamiteinbruch in der Bank ganz unschuldig zu sein. Die verschiedenen Fingerabdrücke, die wir auf den Panzerplatten gefunden haben, sind jedesfalls nicht von ihm, sondern stammen von einem anderen berüchtigten Kasseneinbrecher, auf den unser Freund Wold eben in Schweden Jagd gemacht hat.«

»Und hat er ihn gefunden?« fragte Tor gespannt.

»Nein, leider, er ist schon acht Tage dort, ohne ihn erwischt zu haben!«

»Es wird – es wird doch nicht am Ende – die Hasenschnauze gewesen sein?«

Der Geheimpolizeichef nickte nur.

»Aber entschuldigen schon,« sagte Tor verlegen, »der Klaus, der Henrik und ich, und dann noch ein Mediziner, der Per Kragstein heißt, können einen Eid darauf ablegen, daß wir einen Mann mit einer Hasenscharte in dieser Nacht oben, in den Schwarzenwäldern mit dem Moppel zusammen gesehen haben!«

»Da müßt ihr euch geirrt haben!«

»Nein, bitte, ausgeschlossen! Denn, ich hab ihm nämlich einen uppercut gerade unters Kinn gegeben, und da hab ich die Hasenscharte so deutlich gesehen, also so deutlich, wie ich jetzt Sie sehe, Herr Polizeichef!«

Tor wollte sich eben noch näher erklären, als Kaschmir in die Kajüte hineingestürmt kam.

»Ist er jetzt grad an uns vorbeigefahren!« schrie er, »diese Krischtian Nelson mit die Narbe!«

Der Detektivchef und Tor ließen sich das nicht zweimal sagen, im nächsten Augenblick waren sie oben auf dem Verdeck. Der Motorführer hatte schon auf Kaschmirs Weisung und seine eigene Verantwortung eine ganze Umdrehung gemacht und nahm jetzt Kurs auf die Stadt. Aber nun ging das Patrouillenboot mit halber Geschwindigkeit.

»Wo hast du ihn gesehen, Kaschmir?« fragte der Detektivchef eifrig.

»Da, da!« antwortete Kaschmir und deutete auf eine Motorjolle, die etwa hundert Meter vor dem Patrouillenboot davontöffte. »Und irr ich mich nicht, denn diese gottverfluchte Schurke erkenn ich mitten in Nacht!«

»Fahren Sie vorsichtig nach!« sagte der Geheimpolizeichef zu dem Motorführer, »aber wir müssen ihm so folgen, daß er nichts merkt.«

Dann ging er in die Kajüte hinunter, nahm ein Fernglas und richtete es auf die Motorjolle.

Im Achter saß ein langer magerer Kerl mit kohlschwarzem Vollbart. Er rauchte sichtlich nervös Zigaretten, jetzt zündete er sich gerade eine neue an dem Stummel der alten an. Die Jolle glitt die Flußmündung hinauf.

*

Henrik wurde immer erstaunter, ja gereizter, daß niemand kam und sich nach ihm umsah. Es war anstrengend, so dazusitzen und zu tun, als ob man in einen totenähnlichen Schlaf versunken wäre. Sein Bein lag außerdem so ungeschickt, daß es wieder wehzutun anfing. Aber andrerseits traute er sich nicht einmal mit den Wimpern zu zucken. Man konnte ja nicht wissen, ob nicht Marinius in eigener Person mit einem Auge an irgendeinem geheimen Guckloch klebte, um zu beobachten, wie sein Schlaftrunk wirkte. Nun war sicher schon über eine halbe Stunde verstrichen, und der Motorlärm hatte schon längst aufgehört. Das Boot lag also still. Es hatte sich wahrscheinlich in einen der zahllosen Schlupfwinkel verkrochen, von denen es hier in dem oberen breiten Flußlauf so zahllose gab. Hinter irgend einem Lastschiff vielleicht. Dieser durchtriebene Schuft! Alle würden natürlich glauben, daß die Motorjacht in den Fjord hinausgesteuert war und nun zwischen den Hunderten von Inselchen, Holmen und Schären, von denen es dort draußen nur so wimmelt, Versteckens spielte. Aber anstatt dessen war also Marinius mitten in die schwarze Stadt hineingefahren!

Plötzlich hörte er draußen auf dem Vorderdeck Lärm und Getöse. Es hörte sich beinahe an wie eine Schlägerei. Jetzt waren sie wahrscheinlich schon so betrunken, daß sie nicht mehr auf den Füßen stehen konnten, die ganze Mannschaft. Und plötzlich öffnete jemand die Türe des Verschlags. »Jetzt gilt es, steif zu bleiben wie ein Stück Holz,« dachte Henrik.

Im nächsten Augenblick spürte er, wie er von zwei Mann aufgehoben und hinausgetragen wurde. Dann hörte er eine barsche Stimme sagen: »Er ist vollständig bewußtlos!«

Das ging also fein! Jetzt galt es nur keinen Muskel im Gesicht zu verziehen, mit keiner Wimper zu zucken. Dann glaubten sie, daß sie ihn da hatten, wo sie ihn haben wollten! Verriet er sich jetzt, dann betäubten sie ihn wohl wirklich in der einen oder anderen heimtückischen Weise.

Jetzt trugen sie ihn vermutlich eine Treppe hinunter. Denn er wurde so vorsichtig gehalten, als wäre er aus Glas. Nun wurde er auf eine Art Sofa gesetzt. Ein Motor begann zu surren, und dann ging es vorwärts. »Ja, was ist das, sitze ich nicht in einem Auto?« dachte Henrik. Es vergingen etwa zehn Minuten, dann blieb das Auto stehen, und wieder wurde Henrik fortgetragen. Ein Stimmengesumm ertönte. »Also jetzt bin ich im Hauptquartier der Graubeine,« dachte Henrik.

Aber um alles in der Welt, was sollte das bedeuten? Er hörte eine Stimme sagen:

»Ja, ja, ja, das ist sonderbar. Aber Henrik sieht jedenfalls nicht so aus, als ob er vergiftet wäre!«

Das war ja der Krankenhausarzt!

Vorsichtig öffnete Henrik seine Augenlider.

Der erste, den er erblickte, war der Doktor in seinem weißen Kittel. Der zweite war Tor. Und der dritte war Kaschmir.

Da öffnete er die Augen ganz und richtete sich mit einem Ruck auf. Er war ja in dem großen Vorraum des Krankenhauses, da, wo damals, als er herkam, sein Bein geschient worden war!

Erstaunte Ausrufe begrüßten ihn.

Tor kam hergelaufen und drückte ihm die Hand.

Kaschmir rief ganz außer sich:

»Hurra, ist er jetzt wieder gesund!«

Ein ernster graumelierter Herr trat auf ihn zu, lächelte freundlich und fragte:

»Na, wie fühlst du dich, Henrik?«

»Ich? Ich war doch die ganze Zeit so munter wie ein Fisch im Wasser! Aber ich hab geglaubt, daß diese Graubeine mich verschleppen wollten! Und da hab ich mich so gestellt, als ob ich vom ›Todesbruder‹ vergiftet wäre!«

Plötzlich erblickte er einen Jungen, der ausgestreckt auf einem Sofa lag. Zwei Krankenpfleger massierten ihn eben, indes eine Schwester bemüht war, ihm durch seine geschlossenen Zähne etwas zum Trinken einzuflößen.

»Ist – ist – ist das – Klaus?« stammelte Henrik.

»Ja,« antwortete der Herr mit dem graumelierten Haar – »aber hab nur keine Angst – in einer halben Stunde ist er sicher wieder ganz wohl! Ich bin übrigens der Chef der Geheimpolizei. Und ich muß mich noch schön bei dir bedanken, Henrik, für die Dienste, die du uns geleistet hast. Ich kann dich auch durch eine gute Nachricht erfreuen – sowohl der Doppel-Nelson wie Marinius und Simser vom Schwedensteig sitzen jetzt in guter Gewahrsam hinter Schloß und Riegel, nebst acht anderen Graubeinen!«

»Aber nein, ist's möglich!« rief Henrik, »die ganze Bande! Hurra, das ist wirklich ein spannender Tag gewesen!«

»Ja, du warst tüchtig, Henrik!« sagte der Polizeichef und drückte ihm die Hand. »Wir haben einen guten Fang gemacht. Du warst tüchtiger, als du selber ahnst!«

»Ach, das ist nicht so ausgemacht!«

Aber plötzlich legte sich ein Schatten auf Henriks Gesicht. Er duckte sich, so als bekäme er Prügel von einer unsichtbaren Hand. Drüben an der Türe hatte er ein blasses, verzogenes Gesicht erblickt unter einem hellrosa Sommerhut.

Das war Hilde.


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