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Viertes Kapitel.
Vor dem Lystad-Fall gerettet

Die Jungen wollten eben wieder den Hang hinauflaufen, als mit einem Mal wildes Hundegebell ganz unten auf dem Pfad ertönte. Und dann ein lauter durchdringender Ruf: Hallo, – wir haben ihn gefunden!

Die Jungen sausten wieder hinunter, so rasch die Beine sie nur tragen wollten. Keiner von ihnen sagte ein Wort, jeder hatte genug mit seinen Gedanken zu tun. Und die waren nicht erbaulich. Jetzt hörten sie das Tosen des Lystad-Falls. Das ist das letzte Mal, daß ich in die Elchkalbshütte mitkomme, dachte Per, um ein Bild wegzuschieben, das sich ihm immer wieder aufdrängte. Denn er hatte einmal einen Jungen gesehen, der ertrunken war. Klaus und Tor dachten an die gewaltigen, siedenden Schaummassen des Lystad-Falls, die zwischen riesigen Steinen zu Staub zermahlen wurden.

Plötzlich fiel ihnen durch das dichte Gebüsch unten am Flußufer, dicht vor dem Lystad-Fall, ein greller Lichtschein entgegen. Aber das Donnern des Falls war so stark und dröhnend, daß man in der Dunkelheit unmöglich wissen konnte, ob es von oben oder von unten kam. Die Knaben sprangen die Böschung hinunter und bahnten sich einen Weg durch das Erlengebüsch. Und da, in dem scharfen Licht der Blendlaterne, lag Henrik ausgestreckt, unbeweglich und, wie es schien, ganz leblos da.

Per wankte in den Lichtkreis der Laterne vor, er konnte sich gerade noch auf den Füßen halten, solche Angst hatte er. Die beiden anderen blieben scheu und entsetzt im Hintergrund stehen. Alle drei waren fest überzeugt, daß Henrik nicht mehr am Leben war. Der eine der Hunde stand da und leckte dem Jungen kläglich jammernd das Gesicht. Der andere schüttelte sich das Wasser aus dem Pelz. Aber Wold zündete sich eben seine Pfeife an.

»Ist nicht so gefährlich,« sagte der Polizist, »das Bein hat er sich freilich gebrochen, aber es hätte schlimmer ausgehen können!«

Er wies auf eine weiße Schaumwolke, die kaum fünfzehn Meter tiefer über dem Fluß stäubte. Da war der Lystad-Fall.

Nun kam Leben in die drei anderen Jungen. Die furchtbarste Angst war wie weggeblasen. Beinahe freudestrahlend liefen sie auf Henrik zu.

Er hatte sich also nur das Bein gebrochen!

»Aber einen kräftigen Puff hat er schon abbekommen,« sagte Wold, »er muß im Fallen mit dem Kopf auf einen Stein aufgefallen sein, denn seit wir ihn gefunden haben, ist er bewußtlos!«

Per, der nun zum ersten Mal zeigen sollte, was er als Mediziner konnte, beeilte sich, Henrik zu untersuchen. Er befühlte sorgfältig den ganzen Schädel und kam bald zu dem Ergebnis, daß von einem Bruch der Hirnschale keine Rede sein konnte. Aber während er noch so beschäftigt war, schlug Henrik plötzlich die Augen auf, starrte erschrocken um sich und flüsterte:

»Wo bin ich?«

»Beim Lystad-Fall!« antwortete Per.

Dann wurde Henrik wieder ohnmächtig.

»Holt Wasser!« rief Per.

»Wasser muß er doch schon genug gehabt haben,« dachte Tor, indem er seine Kappe mit Flußwasser füllte. Dann schüttete er es Henrik über das Gesicht.

Hierauf begann Per das Bein des Jungen zu untersuchen und entdeckte, daß es wirklich ein ernster Beinbruch war.

»Macht eine Bahre zurecht!« rief er Klaus und Tor zu. – »Hof Lystad liegt nur fünf Minuten von hier,« sagte der Polizist – »und da ist es wohl das beste, ihr tragt ihn gleich hinunter und telephoniert einem Doktor!«

»Bitte, mein Bruder ist Mediziner! Der wird ihn schon verbinden können!« sagte Klaus, nicht wenig stolz.

»Ist er Doktor? das fügt sich wirklich gut!«

»Nein, so ganz fertiger Doktor noch nicht, aber er braucht nur noch sechs Jahre.«

Wold konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Und Sie?« fragte Klaus ehrerbietig, »sind Sie nicht Detektiv?«

»Na ja, so etwas Ähnliches werden wir schon sein, mein Kollege und ich.«

»Das stell ich mir aber riesig spannend vor, Detektiv zu sein,« bemerkte Klaus und sah bewundernd zu dem kräftigen ruhigen Mann mit dem dichten Schnurrbart auf. Ob er den nicht am Ende nur aufgeklebt hatte? Um sich unkenntlich zu machen?

»Na, ab und zu kann es ja auch spannend sein,« antwortete der Polizist gelassen, »aber gemütlich und friedlich haben wir es leider dafür nie!«

»Und heute Nacht sind Sie vielleicht auf der Jagd nach Verbrechern?«

»Was dir nicht einfällt, mein Junge! Wir haben nur sehen wollen, wie die Blaubeeren heuer stehen! Aber was mir gerade einfällt – habt ihr dort oben irgend welche Leute gesehen?«

Klaus wollte gerade des langen und breiten die Erlebnisse des Abends erzählen, als es im Buschwerk raschelte und der andere Polizist atemlos herangelaufen kam. Als er Henrik erblickte, der auf dem Boden ausgestreckt lag, machte er ein ganz verblüfftes Gesicht:

»Na so was! – Ihr habt ihn gefunden?«

»Wie du siehst,« erwiderte Wold, »aber es war wirklich im allerletzten Augenblick. Er war an ein paar Klötzen hängen geblieben, die so sieben, acht Meter über dem Fall, aus dem Fluß hervorragten. Der King hat ihn aufgespürt.«

»Aber zum Donnerwetter!« – Der zweite Polizist griff sich verwirrt an die Stirn – »wer kann dann der andere gewesen sein?«

»Welcher andere?«

»Der Bursch, der oben im Wald so herzzerreißend geschrien hat!«

»Ja, das haben wir auch gehört,« rief Klaus eifrig.

»Ich bin den Schreien nachgegangen,« fuhr der Detektiv fort, »aber plötzlich war alles totenstill. Ich hab gesucht und gesucht, aber keine Spur gefunden. Dann bin ich wieder hier heruntergegangen, um die Hunde zu suchen. Denn diese Schreie, die haben sich bös angehört!«

»Dann wird es wohl das beste sein, wir schauen gleich wieder hinauf!« sagte Wold. Und dann fragte er die Jungen:

»Ihr werdet doch euren Kameraden allein bis nach Lystad hinuntertragen können?«

»Das will ich meinen!« sagte Tor. »Wir haben Kräfte für fünf! Da fehlt's nicht!«

Damit trennten sie sich, und die Jungen bedankten sich herzlich für die Hilfe.

»Mir scheint, heut Nacht passiert hier im Wald viel Grausliches,« sagte Tor, indem er Henrik vorsichtig unter den Armen anfaßte.

»Ja, aber das mit Henrik ist doch das ärgste,« meinte Klaus – »wärs nicht übrigens besser, wenn wir ihn jeder ein Stück weit auf dem Rücken tragen würden?«

»Vorwärts marsch,« kommandierte Per.

Trotz der schweren Last ging es ganz glatt abwärts. Sie brauchten kaum zehn Minuten, um den Bauernhof Lystad zu erreichen, wo die Jungen gleich an eines der Fenster des Wohnhauses klopften. Der Besitzer kam selbst und machte auf, und als er sah, was es gab und wer die Jungen waren, nahm er sie sehr gastlich auf. Henrik wurde in die Küche gebracht, wo die Schaffnerin schon am Herd herumrumorte. Im Handumdrehen hatten die Jungen Henrik ausgekleidet und ihn in eine warme Wolldecke eingerollt. Und während Lystad ging, um nach einem Auto zu telephonieren, fing Per schon an das gebrochene Bein vorläufig zu schienen, aber dabei mußte er sich unaufhörlich mit Tor und Klaus beraten, denn die beiden waren Pfadfinder und verstanden die Kunst weit besser als der Mediziner.

Plötzlich hörten sie gerade vor dem Haus das Summen eines Autos. Tor lief zum Fenster.

»Hurra!« rief er, »das Auto ist schon da. Es steht auf der Lystadbrücke!«

Der Lystadbauer kam eben herein und trat ebenfalls ans Fenster.

»Hm,« sagte er, nachdem er sich das Auto genau angesehen hatte, »das ist das Gendarmerieauto.«

Und ganz richtig, drei Mann in flachen Uniformkappen sprangen aus dem Auto und verschwanden über den Pfad, der der Schwarzenseeache entlang hinaufführt.

»Wahrscheinlich setzen sie diesem Zigeunergesindel nach,« brummte der Bauer und kraute sich hinter dem Ohr. »Wenn sie nur schon gleich die ganze Bande hoppnehmen würden! Gestern sind mir fünf Hühner weggekommen, und der Fuchs wars nicht, den Meister Reineke kenn ich schon. Niemand anderes als diese verdammten Zigeuner müssen es gewesen sein!«

Henrik erwachte wieder zum Bewußtsein, jammerte leise, sah sich verwirrt um und fragte:

»Wo bin ich?«

»In Hof Lystad!« antwortete Per.

Henrik schloß die Augen und schlummerte wieder ein. Als er das nächste Mal zu sich kam und fragte:

»Wo bin ich?«

Da antwortete ein freundlicher Mann im weißen Kittel:

»Im Sanitätskrankenhaus! Aber lieg jetzt nur schön still, dann werden wir dein Bein schon wieder in Ordnung bringen, mein Sohn!«


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