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Neunzehntes Kapitel.
In der Höhle des Teppichklopfers

Klaus kugelte sich innerlich vor Lachen über seine eigene Frechheit und Simsers Dummheit, während er zugleich vor Stolz beinahe platzte. Für alle Fälle sah er sich mehrere Male verstohlen um, während er den Schwedensteig hinunter bummelte. Er blieb stehen und tat, als bewunderte er die merkwürdigsten Dinge, von Kinderwagen bis zum Dompfaffen im Käfig, aber in Wirklichkeit geschah es nur, um einen raschen Blick in die Richtung des Trödlerladens hinaufzuwerfen. Aber nein, Simser war nicht zu sehen. Wie fabelhaft rasch er ihn herumgekriegt hatte! Natürlich – ein bißchen Glück war auch dabei gewesen. Das ließ sich nicht leugnen. Es war ja so etwas wie ein Treffer – aber doch eigentlich ein ganz natürlicher Treffer – daß Simser das Kennwort Ytxxsi getrommelt hatte, und da war es ja klar, daß Klaus gar nichts anderes antworten konnte als Leppom, Leppom! Gut, daß der Trödler ihn nicht mit einem längeren und schwereren Wort auf die Probe gestellt hatte – Frauenstimmrechtvereinssekretariatskanzlei zum Beispiel. Er schauderte bei dem Gedanken, einen solchen langen Eisenbahnzug zu übersetzen, zuerst von hinten nach vorne und dann wieder in das umgekehrte Morsealphabet der Graubeine. Das wäre nicht wie geschmiert gegangen!

Aber dort drüben in der Einfahrt stand Tor und wartete. Hatte er Einkäufe gemacht? Er trug ein mächtiges Paket unter dem Arm.

»Ja sag mir nur, was schleppst du denn da? hast du dir vielleicht eine Matratze gekauft?«

»Nein, das sind nur ein paar Kleinigkeiten. Hemden und so was,« antwortete Tor verlegen.

»Hast du die hier bei den Trödlern gekauft?«

»Nein, ich hab gleich einen Sprung nach Hause gemacht. Ich wohne hier drüben, nämlich.«

»Hier mitten auf dem Schwedensteig?«

»Nein – etwas weiter weg! In der Deutschengasse. Der Vater hat dort sein Geschäft. – Wie ist's gegangen?«

»Also großartig! Den hab ich hineingelegt! Aber weißt du, ich war auch glatt wie ein Aal! Und frech wie ein Zigeuner! Der ist geschwinder in die Falle gegangen als eine blinde, verhungerte Ratte, hat gleich an der Speckschwarte geknabbert, ohne nach rechts oder links zu schauen. Der ist erledigt! Simser heißt er übrigens.«

»Aha, also doch der Simser – der mit der Beule hinter dem Ohr? – Hab mir's übrigens gedacht. Der ist schon gesessen wegen Hehlerei. Feiner Zeuge, das! Ein Meineid mehr oder weniger spielt bei dem keine Rolle! Und es ist ja auch allgemein bekannt, keine Frage, daß diese Kugel, die er da im Nacken hat, nur von der Bosheit kommt.«

»Aber dumm ist er auf jeden Fall,« sagte Klaus, »das werd ich dann später beim Henrik oben schwarz auf weiß beweisen! Reden wir hier lieber nicht über all das! Ich weiß nicht, ich fühl mich hier nicht recht behaglich. Es ist grad so, als wenn die Pflastersteine horchen würden.«

»Ja, sei nur recht vorsichtig! Siehst du dieses Haus dort an der Ecke? Vierter Stock, zweites Fenster von links? Da, wo der rote Blumentopf steht – da wohnt der Moppel! ›Der feuchte Händedruck‹, so nennt man ihn auch, weil er immer so naßkalte Hände hat.«

»Du bist also mit diesem furchtbaren Menschen bekannt?«

Klaus starrte Tor verblüfft an.

»Bekannt, was dir nicht einfällt! Aber da ich schon einmal hier in der Gegend wohne, so muß ich ja die Leute vom Sehen kennen, das ist doch klar wie Stiefelwichse! Er hat ab und zu bei meinem Vater eingekauft! Und wenn ich's schon sagen soll, ich hab auch manchmal der Familie dort oben, wo er wohnt, Waren gebracht – nur so am Freitag Abend, wenn sehr viel zu tun war, oder wenn der Laufbursch krank war! Aber das kannst du dir doch denken, daß wir keine Ahnung gehabt haben, daß er ein Kist – oder – oder gar ein Mörder!«

Hoho, dachte Klaus und in ihm gluckste es vor Lachen – das sollte Hilde gewußt haben! Die hätte keinen schlechten Tanz gemacht! – Aber laut sagte er: »Ach was, also was mich betrifft, ich möchte ganz gern hier wohnen. Denn in dieser Gasse geht's doch riesig lustig und spannend zu! – Aber jetzt hab ich etwas furchtbar Wichtiges zu besorgen – und sehr eilig ist es auch. Unterdessen kannst du ja einen Sprung zum Justizpalast machen und mit dem Diener dort oder sonst wem ein Gespräch anbandeln und herausbringen, was für Fälle morgen verhandelt werden. Frag ganz besonders nach dem Bankdiebstahl! In einer halben Stunde treffen wir uns dann beim Henrik. Wiedersehen!«

Damit schieden sie.

Das Haus, in dem der Doppel-Nelson wohnte, war eine baufällige, einstöckige Holzbaracke, eines jener uralten verschimmelten Häuser, die die Entwicklung auf ihrem schwindelnden Siegeszuge durch die Großstadt vergessen hat niederzureißen oder zu renovieren. Ein Stückchen Kleinstadt, zwischen hohe moderne Geschäftshäuser eingekeilt. Es sah aus, als ob Christian Nelson der einzige Mieter wäre, wenn ihm nicht gar am Ende das Haus selber gehörte. Die Fenster im oberen Stock klafften dunkel und leer, ein paar Scheiben waren zerbrochen. Aus der Einfahrt schlug Klaus ein muffiger Geruch entgegen. Aber der Hof sah ganz anheimelnd aus, mit großen, alten Kastanien. An einem dicken Stahldraht, der quer über den Hof gespannt war, hingen zwei dunkelrote Teppiche. Das waren also Doppel-Nelsons Morseapparate, dachte Klaus.

Es ist nicht ausgeschlossen, daß es ihm ein wenig kalt über den Rücken kribbelte, als er das Schild sah:

Schild

– und anklingelte. Ob es wohl hier ebenso glatt gehen würde wie beim Antiquitätenhändler? Eine Weile verging, ohne daß jemand kam und öffnete, und Klaus wollte eben noch einmal klingeln, als er zusammenfuhr. Der Schieber vor dem kleinen Guckloch in der Tür war zurückgezogen worden. Und dahinter sah er ein grünlich graues, böses Auge, das ihn unverwandt und prüfend anstarrte.

»Wer da?« ertönte plötzlich eine Stimme, die so schrill und durchdringend war, daß Klaus erschauerte.

»Ich hab einen Brief von dem Simser,« sagte Klaus und rappelte sich zusammen.

Er hörte eine Kette klirren, eine Spalte der Türe wurde geöffnet, und eine magere, welke Hand streckte sich aus.

»Gib mir den Brief,« piepste die Stimme.

Klaus steckte den Brief in die welke Hand und fuhr unwillkürlich zusammen, so als hätte er eine Kröte berührt.

Die Tür wurde wieder zugeschlagen, Klaus wartete. Einige Minuten krochen schneckenhaft langsam hin, dann wurde die Tür abermals geöffnet, und Klaus stand Auge in Auge dem Doppel-Nelson gegenüber. Ja, ganz richtig, er hatte die Narbe an der linken Schläfe!

»Kannst hereinkommen,« sagte Christian Nelson kurz.

Mit pochendem Herzen betrat Klaus die Wohnung des Teppichklopfers.

Es war ein großer, halbdunkler Raum, mit allerhand Gerümpel angefüllt. Alte Bauerntruhen und Schatullen standen an den Wänden und mitten im Zimmer lag ein schwerer Stoß zusammengerollter Teppiche. Dicke gelbe Fenstervorhänge ließen das Licht nur trübe ein. Die Luft war von Naphtalinduft und von altem säuerlichen Tabaksrauch durchzogen.

»Platz dich auf diesen Stuhl und warte,« sagte Christian Nelson freundlich und wies auf einen Sessel. Dann ging er in ein Nebenzimmer und schloß die Tür hinter sich zu. Klaus setzte sich. Der Anfang ließ sich ja ganz vielversprechend an. Doppel-Nelsons Stimme hatte direkt kameradschaftlich geklungen. Er war offenbar mit beiden Beinen auf den Leim gegangen! Klaus sah sich neugierig um und versuchte den ganzen Raum mit all seinem Gerümpel seinem Gedächtnis einzuprägen. Drüben an dem einen Fenster stand ein offener Schiffskoffer, und aus verschiedenen Dingen, die auf einem Stuhl daneben lagen, entnahm Klaus, daß Christian Nelson beim Packen gewesen sein mußte. Unter anderem sah er ganz deutlich Rasierzeug, eine Haarbürste, einen Stoß Taschentücher und ähnliche Dinge, die man immer in einem Reisekoffer findet. Diese Entdeckung machte seine Spannung wahrlich nicht geringer. Der Doppel-Nelson war also auf dem Sprung zu fliehen! Sobald er morgen dem Moppel das Geheimnis von dem Versteck des Geldes erpreßt hatte, beabsichtigte er zu verduften, einfach seinen Kameraden mit der ganzen Beute durchzubrennen, genau wie der Moppel und die Hasenschnauze es gemacht hatten. Feiner Sportsgeist unter diesen Graubeinen!

Aber gefährliche Leute! Wahrhaftig, dieser Henrik war doch wirklich ein feiner Kerl, daß er dieses furchtbare Geheimnis aufgespürt hatte!

Nun kam Christian Nelson zurück. Er hatte eine brennende Pfeife im Mund und trug ein Tablett mit einer Likörflasche und zwei Gläsern. Er setzte sich auf ein Sofa, legte die Beine auf einen Stuhl, machte ein paar lange Züge und blies die Rauchwolken zur Decke hinauf, von der unter anderem ein ausgestopfter Papagei, ein paar Hammelknochen und ein geräucherter Schinken herabhing – Klaus gebrauchte seine Augen gut – und dann sagte er:

»Das ist gescheit, daß du gekommen bist, grade im rechten Augenblick. Ich habe vielleicht Verwendung für dich! Morgen in aller Früh.«

Hierauf schenkte er sich ein Glas ein und trank es auf einen Zug aus. Dann machte er wieder ein paar Züge an der Pfeife und schließlich fragte er:

»Du bist also zwei Monate gesessen?«

»Zwei Monate auf den Tag, Meister!«

»Da bist du aber sehr billig davongekommen, für einen Raub! Und du bist erst heute früh herausgekommen?«

»No, so gegen elf Uhr,« antwortete Klaus, »ja, wie ich auf dem Platz gestanden bin, wars auf der Turmuhr grad elf.«

»Und von dort bist du geradeaus zum Simser gegangen?«

»Ja. Gleich auf nüchternen Magen.«

»So, so, da hättest du vielleicht Lust auf ein kleines Glasel, nicht?«

»No ja, so eine kleine Herzstärkung wär gar nicht so ohne – nach allem, was ich da mitgemacht hab,« erwiderte Klaus, denn etwas anderes blieb ihm wohl nicht übrig. Von einem Glas wurde man doch schließlich nicht gleich stockbesoffen!

Doppel-Nelson schenkte das Glas voll und reichte es Klaus. Ohne mit der Wimper zu zucken trank dieser es aus. Es war nicht gerade schlecht, nur so süß und klebrig, aber es brannte in der Kehle wie flüssiges Feuer.

Christian Nelson hatte Simsers Brief noch einmal vorgenommen und guckte hinein. Dann faltete er ihn zusammen und legte ihn auf den Tisch.

»Er sagt, du kennst dich mit unserer Sprache aus,« sagte er und schenkte sich ein neues Glas ein, »wo zum Kuckuck hast du das übrigens erlernt?«

»Na, vom Moppel!«

»Hm. – Im Gefängnis?«

»Nein, wieso denn? Ich kenn den Moppel doch schon von Kindesbeinen auf! Wir sind ja seit Jahren dicke Freunde.«

Christian Nelson lächelte. Er hatte kräftige, aber gelbschimmernde Zähne.

»Seit dem Moppel seinen Kindesbeinen?«

»Nein, seit meinen eigenen! Höh, höh – das ist doch klar!«

Der Teppichklopfer schmatzte an seiner Pfeife und warf einen raschen Blick zu Klaus hinüber:

»Dir ist's aber gut gegangen, im Gefängnis, seh ich! Hast ordentlich zu essen bekommen?«

»No ja, das Futter war nicht einmal so schlecht.«

»Und recht braun verbrannt bist du auch, wie ich seh!«

Klaus zuckte zusammen. Das hatte er wirklich nicht bedacht. Er fühlte, wie er bis zu den Haarwurzeln hinauf rot wurde. Ein Glück noch, daß es hier drinnen so finster war.

»Oh, ich bin immer so dunkel im Gesicht,« sagte er und versuchte zu lächeln, aber es fiel ihm schwer – »vielleicht, daß mein Vater ein Italiener war. Oder ein Spanier. Gekannt hab ich ihn ja nicht. – Wie ich klein war, haben sie mich übrigens immer den ›Mulatten‹ genannt!«

»Aber jetzt nennst du dich also Kaschmir Kaschmirson?«

»Ah, das war nur, um dem Simser einen Wink zu geben!«

»Na, recht zigeunermäßig schaust du ja aus. Und was die Kledasche betrifft, siehst du dem Kaschmir aufs Haar gleich. Sogar den Riß nach dem Messerstich auf der rechten Brustseite hast du, wie ich seh, wenn er auch fest zusammengeflickt ist. Ich erkenn ihn schon!«

Christian Nelson lachte befriedigt in sich hinein. Dann heftete er einen verschmitzten Blick auf Klaus und fragte:

»Hast du übrigens eine Ahnung, wo dieser Kaschmir steckt?«

»Die Leut sagen doch, er ist tot!«

»Hm. Wär schad um den Jungen! Wer sagt übrigens, daß er tot ist?«

»Der Panther hat's heute nacht erzählt. Er hat eine ganze Stunde lang mit einem anderen Zigeuner geklopft.«

»So, so – dann muß er in letzter Zeit sehr gesprächig geworden sein. – Willst du noch einen Drink haben? Was?«

»Ja, es tut schon verflucht gut,« antwortete Klaus, obgleich er fühlte, daß das erste Glas ihm den Kopf schon heiß genug gemacht hatte.

»Das ist ein feiner Drink,« sagte der Teppichklopfer träumerisch, »wir nennen ihn den Nachtschatten

»Und wenn er so recht, recht fein und stark ist, dann titulieren wir ihn Todesbruder!« setzte eine andere Stimme hinzu.

Beim Laut dieser Stimme fühlte Klaus, wie ihn ein Schauer durchrieselte. Es war eine schrille, kreischende, piepsende Stimme, die drüben von der Tür zum andern Zimmer kam. Langsam drehte Klaus den Kopf, als fürchtete er etwas Schreckliches zu erblicken. Und mit entsetzten Augen sah er einen häßlichen mißgestalteten kleinen Zwerg dort drüben stehen. Er hatte eine weiße Schürze um. Es war der häßlichste Mensch, den er in seinem ganzen Leben gesehen hatte.

»Prost!« sagte der Teppichklopfer und leerte sein Glas,

»Prost!« sagte Klaus und trank aus. Aber während er den süßlichen, brennenden Trank durch seine Kehle strömen fühlte, blitzte ein entsetzlicher Gedanke in seinem Hirn auf:

»Marinius! Der Giftmischer


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