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Vierzehntes Kapitel.
Henrik kommt in große Form

»Um Gotteswillen, dir ist doch nicht wieder schlecht geworden, Kaschmir?« fragte die Krankenpflegerin ängstlich und klaubte die Reste der Frühstückstasse vom Boden auf.

»Wer weiß, ob ich nicht bin gsünder wie vorher?« antwortete Kaschmir düster.

»Aber vielleicht soll ich doch lieber den Doktor rufen?«

»Red nicht soviel auf mich, sag ich dir – bin ich schlecht aufgelegt!«

Die Krankenpflegerin sah verdutzt aus, aber sagte nichts. Sie schüttelte nur verständnislos den Kopf und trug das Frühstücksgeschirr hinaus.

»Sei ganz ruhig, Kaschmir,« sagte Henrik beschwichtigend, »wir werden deinen Onkel schon heraushauen!«

»Höh, du! Und die zwei andere Kalben! Schau lieber, daß du mit deine Haxel fertig wirst, bevor dich in erwachsene Leute ihre Sachen dreinmischst!«

»Aber paß doch auf, Kaschmir – –.«

»Halt schon einmal Maul, dumme Luder!«

»Hallo, da sind wir!«

Klaus und Tor kamen zur Türe hereingestürmt.

»Es ist gut,« sagte Henrik, »gehen wir in den Garten hinaus!«

Die Jungen fanden in einer Ecke des Gartens einen Pavillon. Es war niemand sonst drinnen als die alte Frau mit dem Hörrohr. Sie saß da und strickte Strümpfe. Ihre Hände zitterten und bebten, aber stricken mußte sie. Die Laube war sehr dicht und lauschig, und man war also ganz ungestört. Denn auf die stocktaube Person brauchte man doch keine Rücksicht zu nehmen.

Henrik warf Tor einen mißbilligenden Blick zu und sagte:

»Sie haben den Panther verhaftet. Du warst also derjenige, der sein Versteck verraten hat?«

»Ja, natürlich. Ich hätte mir doch sonst Gewissensbisse machen müssen! Du hast ja nichts gesagt!«

»Dazu hab ich ja gar nicht die Zeit gehabt. Aber darüber werden wir später reden. – Ich hab eine fabelhafte Entdeckung gemacht!«

»Ja, wirklich?« fragten beide Jungen eifrig und beugten sich über den Tisch vor. Und nun legte Henrik seine aufsehenerregende Entdeckung dar. Punkt für Punkt, und wie er selbst meinte, mit überzeugender Kraft. Aber die Überzeugung wirkte offenbar nicht kräftig genug, denn Klaus und Tor blinzelten einander nur vielsagend zu. Dann räusperte sich Klaus und sagte:

»Du, damals wie du in die Schwarzenseeache gepurzelt bist, mußt du dir aber den Schädel tüchtig angehaut haben?«

Henrik brauste auf:

»Was meinst du?«

»Also, wenn ich sagen soll, was ich meine, so meine ich, daß sich das alles ungeheuer phantastisch anhört!«

»Phantastisch, ja. Das ist doch eben das Spannende!«

»Aber paß jetzt auf, Henrik! Glaubst du, der Gefangene, von dem du da fabelst, darf drinnen in seiner Zelle auch Teppich klopfen?«

»Nein, das darf er natürlich nicht!«

»Aber wie soll er dann antworten können, Menschenskind?«

»Er braucht gar nicht zu antworten!«

Klaus und Tor zwinkerten sich wieder zu. Dann sagte Tor:

»Aber dann versteh ich nicht, warum dieser Doppel-Nelson, wie du ihn nennst, ihm – he he he – Botschaften sendet!«

Klaus begann zu kichern.

Henrik bekam einen ganz roten Kopf.

»Es läßt sich wohl denken,« sagte er ärgerlich, »daß er ihm Befehle gibt, was? Also Instruktionen, zum Beispiel so oder so zu lügen, falsch zu schwören oder dergleichen, wenn seine Sache vor Gericht kommt – oder ihn vor gefährlichen Zeugen zu warnen! Verrätern zum Beispiel! Kaschmir hat doch erzählt, daß der Doppel-Nelson der Anführer der Graubeinbande ist!«

»Na ja,« sagte Klaus, »wenn du glaubst, was dir Zigeunerbuben erzählen, ja dann!«

»Kaschmir ist kein Dummrian!«

»Na eben, darum bindet er dir ja solche Bären auf!«

Klaus warf Tor einen belustigten Blick zu, und dieser blinzelte zurück. Merkwürdig, wie rasch die zwei so dicke Freunde geworden sind, dachte Henrik ärgerlich.

»Also, was mich betrifft,« sagte Tor, »so hab ich immer gelesen, daß die Gefangenen ihre geheimen Instruktionen in einer viel umständlicheren und ausspekulierteren Weise bekommen. Also Depeschen ins Brot eingebacken – ein falscher Geistlicher, natürlich ein verkleideter Bandit, der auf Besuch in die Zelle kommt und den Gefangenen ermahnt, während er ganz heimlich einen Brief, eine Stahlsäge und dergleichen in die Bibel einschmuggelt.«

»Hast du das von deiner Großtante gelernt?« zischte Henrik wütend.

»Aber keine Spur! – Und dann lassen sich ja noch unzählige andere Dinge denken. Also lautlose Telegraphie, zum Beispiel!«

»Lautlose Telegraphie!«

»Ja, warum nicht? Man nimmt ganz einfach einen Taschenspiegel und wirft die Sonnenreflexe auf die Zellenwand – so – lang, kurz, kurz, lang – ja, so wie wir's so oft in unserer Gasse machen!«

Henrik mußte vor Wut auflachen. Aber dann antwortete er nachsichtig:

»Aber dann müßte ja der draußen mit absoluter Bestimmtheit wissen, in welcher Zelle der Gefangene sitzt und sein Fenster von den hundert anderen unterscheiden können. Und außerdem könnte es doch gerade bewölkt sein! Nein, so ist es nicht, Tor. Du mußt doch einsehen, daß das Großartige an Doppel-Nelsons Erfindung gerade das ist, daß alle Gefangenen, ausgenommen also die stocktauben, das Klopfen hören müssen – die Kerkermeister natürlich auch, aber die glauben eben, daß da jemand einfach Teppiche klopft – und nur der eine, der den Schlüssel zu der Chiffresprache hat, kann die Bedeutung verstehen!«

»Ach, möchtet ihr nicht noch ein bissel lauter reden, ja, seid so gut!«

Die Jungen fuhren zusammen wie bei einem Minenschuß und starrten verwirrt die alte Frau an, die mit ihrem Gebrüll das Gespräch unterbrochen hatte. Sie hatten gar nicht bemerkt, daß sie mit ihrer Höreinrichtung im Ohr dasaß und begierig lauschte. Der Trichter des Apparats schwang hin und her, wie die Fühlhörner eines Käfers.

»Ja, ihr müßt schon entschuldigen, Kinderchen,« brüllte sie, »aber ich heiße Frau Berg und bin dreiundvierzig Jahre im Weibergefängnis Wärterin gewesen. Aber vor drei Monaten bin ich von vier Gefangenen überfallen worden, und die haben mich so zugerichtet, daß man mich ins Krankenhaus bringen mußte!«

»Aber so schreien Sie doch nicht so laut, liebe Frau,« brüllte ihr Klaus in das Hörrohr.

Die Alte fuhr von ihrem Sitz auf.

» Du schreist doch – nicht ich

Aber dann dämpfte sie doch ihre Stimme, und indem sie sich einbildete, daß sie flüsterte, schrie sie:

»Der Kleine dort ist gar nicht so dumm!« – Sie wies mit dem Hörrohr auf Henrik – » Und jetzt werd ich euch ein Geheimnis erzählen

»Aber bitte nicht so laut, gute Frau,« schrie ihr Henrik ins Hörrohr, denn er hatte ja eine Heidenangst, daß die Alte ihm das Spiel verderben könnte. Der Doppel-Nelson wohnte ja nur einige Häuser weit weg – »könnten Sie nicht lieber schreiben?«

Er schob ihr eifrig den Block hin und steckte ihr einen Bleistift in die zitterige Hand.

Und nickend und lächelnd, aber mit ungeheurer Mühe, schrieb die Alte:

»Probiert einmal, ob sie nicht die langen mit den kurzen vertauscht haben!«

Dann reichte sie Henrik das Papier, und indem sie offenbar bemüht war, das Nebelhorn auf dem großen Dampfschiff nachzuahmen, heulte sie:

»Ich bin nämlich dreiundvierzig Jahre Gefängniswärterin gewesen – im Weibergefängnis!«

Henrik riß das Papier an sich, machte Klaus und Tor ein Zeichen, nahm seine Krücke und hinkte hinaus. Die beiden anderen folgten nach. Henrik humpelte gleich in sein Zimmer, das war das Sicherste. Als sie alle drei drinnen waren, schloß er die Türe.

»Jetzt wollen wir sehen,« sagte er und war so gespannt, daß der Schweiß ihm von der Stirn perlte. Er setzte sich, nahm den Schreibblock und begann Doppel-Nelsons Morsebotschaft nach der Anweisung der stocktauben Alten zu ändern – da, wo Striche waren, setzte er also Punkte und umgekehrt. Klaus und Tor beugten sich über Henriks Schulter und sahen interessiert zu. Aber als er dann an die Übersetzung in gewöhnliche Buchstaben ging und die ersten Worte auf dem Papier standen, konnten sie nicht umhin, einander wieder vielsagend zuzublinzeln. Das war ja genau ebenso blödsinnig wie das erste! Wenn nicht noch blödsinniger und sinnloser – –.

Da begann plötzlich Doppel-Nelson wieder Teppiche zu klopfen.

»Hört,« flüsterte Henrik, »nehmt jeder ein Papier und Bleistift, dann werdet ihr schon sehen!«

In den nächsten Sekunden saßen alle Drei da und schrieben wie die verrückten. Aber je länger sie schrieben, desto blasser wurde Henriks Gesicht, und desto röter und röter das der beiden anderen vor unterdrückter Lachlust. Das war ja immer nur Punkt, Punkt, Punkt, Punkt und wieder Punkt! Und ein seltenes Mal ein vereinzelter Strich dazwischen!

»Siehst du jetzt, daß deine ganze Entdeckung die reinste Phantasie ist?« sagte Klaus und warf den Bleistift weg.

»Nein!« rief Henrik, »diesmal klopft er seine Teppiche eben im Ernst!«

»Und früher hat er sie nur im Spaß geklopft?« lachte Klaus. Henrik antwortete nichts, er starrte nur auf das Papier, auf das er Christian Nelsons erste Botschaft niedergeschrieben hatte. Und plötzlich rief er:

»Hurra, Kinder, schaut her! Die vier ersten Worte sind doch Moppel!«

Klaus und Tor warfen einen gleichgültigen Blick auf das Papier.

»Du hast Fieber,« sagte Klaus. »Da steht doch leppom, leppom, leppom, leppom!«

»So lies es doch umgekehrt, Menschenskind!«

Klaus las und stutzte.

»Wahrhaftig, du kannst recht haben,« flüsterte er, »da steht Moppel, Moppel!« – Aber Henrik war schon in vollem Gang den Rest zu übersetzen. Als er fertig war, reichte er glühend vor Stolz und Triumph seinen zwei Kameraden das Papier. Und mit staunenden Augen lasen die Knaben:

 

ow tsi sad dleg – gas se – negrom etztel tsirf – tsnos netarre riw.

 

Und das ergab umgekehrt:

 

Wo ist das Geld – sag es – morgen letzte Frist – sonst erraten wir.

 

Klaus ließ das Papier vor Aufregung fallen. Dann streckte er den Arm aus und drückte Henrik die Hand.

»Aber das ist ja großartig,« sagte er tiefernst, »Sherlock Holmes soll sich einsalzen lassen!«

»Mensch – prima!« flüsterte Tor, bleich vor Bewunderung.

»Ach was,« sagte Henrik, »es war eigentlich ganz einfach, wenn man einmal auf die Spur gekommen war.«


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