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Fünftes Kapitel.
Kaschmir und seine Großmutter

Ihr habt sicher schon von den Wikingern gehört, die sich mit eigener Hand die Lanzenspitze aus dem Herzen zogen und lächelnd sagten: Der König hat uns gut gezogen. Oder von jenem alten Römer Scaevola, der ohne zu mucksen seinen Arm ins Lagerfeuer steckte und ihn wie Zunder brennen ließ. Wißt ihr: all das macht sich ja in den Geschichtsbüchern sehr gut, ist aber natürlich nur erdichtet und erlogen. Oder die Leute damals müssen rein taubstumm gewesen sein, die ganze Gesellschaft! Henrik jedenfalls genierte sich gar nicht. Als der Doktor an seinem gebrochenen Bein herumquetschte, stieß er ein wohlgelungenes Geheul aus, und das half auch. Als wenn das etwas mit Heldentum zu tun hätte, still und stumm dazuliegen wie eine Mumie, wenn das Bein wie fünftausend hohle Zähne weh tut. Nein! wenn er nun daläge und die Zähne zusammenbisse und sich einbildete, das ganze sei nur ein Mückenstich und keinen Muckser von sich gäbe, höchstens nur so ein bißchen unter der Decke stöhnte, dann würden die anderen Patienten wohl glauben, man habe ihn wegen Bleichsucht hergebracht, oder mit einem Herzfehler, und davon hatte er doch gar nichts, hier sollten nur alle und jeder wissen, daß ein regelrechter Beinbruch gekommen war. »Ja, ja, ja,« tröstete der Doktor und drückte auf die allerempfindlichste Stelle, »weh tut's schon, natürlich, aber schrei doch nicht so laut, mein Junge, ich habe doch schließlich auch Nerven!« » Nein,« schrie Henrik. Und auf diese Art bekam er sein eigenes Zimmer.

Als er am nächsten Morgen erwachte, wußte er gar nicht, daß er geschlafen hatte. Er hatte ein so seltsam schweres Gefühl im Kopf. Es war so, als ob ihm jemand irgendwo drinnen im Hirn mit messerscharfen Krallen herumkratzte. Aber was um Himmelswillen war das, was da an der Wand neben dem Bett hing und baumelte? Das war ja ein Gipsbein, zum Trocknen aufgehängt. Quatsch, das war ja sein eigenes Bein! Jetzt erinnerte er sich an alles. Er lag nun im Krankenhaus. Und da hing sein gebrochenes Bein geschient und eingegipst und an Riemen aufgezogen. Ja, so war die Geschichte. Also darum hatte der Doktor ihm gestern irgend eine Flüssigkeit in das Bein eingespritzt; kaum war das geschehen, als er auch schon eingeschlummert war. Jetzt fühlte er auch, daß das Bein noch ganz ordentlich weh tat. Aber es war doch nichts gegen die gestrigen Schmerzen.

Gleich neben ihm hustete jemand. Henrik lugte vorsichtig über den Bettrand und entdeckte, daß im Laufe der Nacht ein Bett mit einem neuen Patienten hereingerollt worden war. Er sah nur einen schwarzen krausen Kopf auf den weißen Kissen.

»Hallo!«, sagte Henrik.

Der neue Gast drehte langsam den Kopf. Es war ein Jungengesicht, so sonnverbrannt, daß es ganz gut einem Mulatten hätte gehören können. Das Haar hing in wilder Wirrnis in die Stirn, so daß Henrik nur das eine der beiden Augen sehen konnte, aber das funkelte. Nun schnitt der Junge eine Grimasse und streckte die Zunge heraus.

»Buro!« Buro – in der Zigeunersprache: Ansässiger Bürger im Gegensatz zum Fahrenden Volk. sagte er nur mit einer schwachen kläglichen Stimme und starrte Henrik höhnisch an.

»Was hast du gesagt, wenn ich so frei sein darf zu fragen?«

»Hab ich gesagt, morgen wird regnen!«

»Nein, das hast du nicht gesagt. – Warum liegst denn du da?«

»Bissel sonnen!«

»Ich habe dich höflich gefragt, warum du daliegst.«

»Warum miro Miro – ich. daliegt!« Der neue Junge lachte, so daß er sich verschluckte. »Ja, kann ich dir schon sagen, Buro, hab ich Hölkusstich Hölkus – Messer. durch Lunge, verstehst?«

»Hölkusstich?«

»Gott, Buros sind doch dümmste Luder auf ganze Welt. Weißt nicht einmal, was Hölkus ist? Taschenmesser, dumme Kerl! Zweimal so lang wie meine Finger! Das ist keine Spaß, Bubi!«

»Bubi! sagst du! Wie alt bist denn du überhaupt, wenn ich mich erkundigen darf?«

Nun kam eine Krankenpflegerin mit dem Frühstück herein. Als sie den fremden Knaben sprechen hörte, hätte sie vor lauter Schrecken fast das Tablett fallen lassen.

»Aber Kind Gottes!« rief sie. »Wir haben dir doch gesagt, daß es lebensgefährlich für dich ist, wenn du redest, Kaschmir!«

Kaschmir? Der hieß doch nicht am Ende Kaschmir? So wie ein Land in Asien? Oder hatte er sich verhört? Die Krankenpflegerin schüttelte die Kissen auf und sprach weiter:

»Du weißt doch, was für eine schlimme Wunde du hast, Kaschmir. Wir werden dich schon wieder gesund machen – aber du mußt auch tun, was man dir sagt. Lieg jetzt schön still, Kaschmir!«

Also hieß er wirklich Kaschmir! Und vielleicht mit dem Zunamen Afghanistan?

Es war gut, etwas zu essen zu bekommen, denn Henrik hatte einen Wolfshunger. Das letztemal hatte er in der Elchkalbshütte gegessen. Und da hatten zuerst die Strolche sie zweimal bei der Mahlzeit gestört und dann die Zigeuner.

Es gab nicht weniger als drei Eier. Er hatte gefürchtet, Wassergrütze zu bekommen oder Milchpapp, das ärgste, was er kannte, nächst Biersuppe. Die Schwester saß auf einem Stuhl mitten zwischen den beiden Betten, mit einem ganz sanften Gesicht, die Hände im Schoß. Gott, mußte das langweilig sein, Krankenpflegerin sein zu müssen, jedenfalls im Sommer, mitten in den Sommerferien. War es nicht um aus der Haut zu fahren, daß er sich das Bein ausgerechnet an dem Tage hatte brechen müssen, bevor die Sommerferien anfingen! Und nun mußte er hier so im Krankenhaus liegen und sich pflegen lassen, das kostete sicher einen Haufen Geld – nach diesem Frühstück zu schließen.

»Danke schön, Schwester, gesegnete Mahlzeit,« sagte er und streckte nach alter Gewohnheit die Hand aus.

»Hahahaha! Danke schön! Gesegnete Mahlzeit!« Der fremde Junge schüttelte sich vor Lachen. – »Liegst ja im Krankenhaus, dumme Buro!«

»Pst, Kaschmir!« sagte die Schwester und legte ihm die Hand auf den Mund. Aber kaum hatte sie das getan, als sie vor Schmerz aufkreischte und die Hand blitzschnell zurückzog. Der Mittelfinger blutete. Hatte dieser Kaschmir sie gebissen! Das war wirklich ein Raubtier!

Jetzt gab es plötzlich einen furchtbaren Spektakel drüben bei der Türe. Henrik drehte vorsichtig den Kopf, nein, so etwas hatte er doch noch nie im Leben gesehen! Eine winzig kleine, zerzauste, uralte Hexe in furchtbar zerlumpten Kleidern und mit einem feuerroten Kopftüchel auf den weißen Haarzotteln kam in das Zimmer geschossen. Dazu zeterte sie mit einer rostigen, schnarrenden Stimme: »Will ich ihn aber sehen, meinen Kaschmir, will ich ihn aber sehen!«

Ihr dicht auf den Fersen – sie war übrigens barfuß – folgte eine Krankenpflegerin und ein Doktor mit flatterndem weißem Kittel, und alle beide riefen durcheinander: »Nein, hören Sie mal! Das müssen Sie doch verstehen! Das kann ja lebensgefährlich sein! Da müssen Sie schon selbst die Verantwortung übernehmen, das sage ich Ihnen!« – Das ganze spielte sich im Lauf einer Sekunde ab.

Da erklang eine muntere Stimme von dem einen Bett her:

»Kreuzteuxel, das ist ja Großmutter!«

Und die Alte heulte los:

»Jeu, Kaschmir! Jeu, Kaschmir!«

Der Doktor fuchtelte mit den Armen.

»Aber das müssen Sie doch einsehen!«

»Gor nix seh' ich ein, du dumme Buro!«

Die Alte warf sich schluchzend auf einen Stuhl neben dem Bett, ergriff Kaschmirs Hand und fing an sie zu streicheln, wie den Buckel einer Katze. Dann wischte sie sich mit einem Zipfel des Leintuchs die Augen und murmelte etwas ganz Sonderbares, von dem Henrik keine Silbe verstand. Miroderomoskro. Und Kaschmir ihr gleich nach: Miroderomoskro. Das hörte sich wie Rotwelsch an. Vielleicht war es Rotwelsch?

Aber jetzt wurde der Doktor ernstlich böse. Er packte die Alte an der Schulter und sagte scharf:

»Der Bub darf nicht reden, verstehen Sie denn das nicht? Herrgott noch einmal!«

Die Alte drehte sich ganz ruhig zu dem Doktor um, heftete ein paar kleine, rotgeränderte Äuglein auf ihn und sagte mit heiserer Stimme:

»Na, Buro, das ist doch kein Verbrechen, wenn wir zwei miteinander sprechen.«

Redete die Alte in Versen? Der Doktor starrte sie an wie eine Geistererscheinung. Die alte Hexe legte den Kopf schief, streckte einen Zeigefinger in die Höhe, genau wie eine Lehrerin, und legte los:

»Ich bin doch die Marta aus Kebnekaise! Und ich bin klug und ich bin weise. Kann salben, segnen und prophezeihn und die Leut kurieren mit meinen Arznein. Und ein Hölkusstich, das ist gar nix für mich. Den heil ich geschwind, mit Wasser, das nordwärts rinnt. Nun ohne Verzug her mit dem Krug, das ist mir genug.«

Der Doktor riß Mund und Augen auf, aber die Alte fuhr fort:

»Paß gut auf mein Wort, das Wasser muß rinnen nach Nord!« Damit zog sie ein Salbenkrüglein aus ihrer Bluse und balancierte es auf drei Fingerspitzen:

»Den Balsam hab ich selber gebraut, aus dreierlei Wurzeln und neunerlei Kraut. Seidelbast und Dill, Thymian und Petersil und dies und das und dann noch was, so süß wie sauer, gepflückt an der Kirchhofsmauer, ganz allein, beim Mondenschein, wenn kein Stern nicht scheint und das Käuzlein weint.«

Nein, eine solche Alte hatte Henrik noch all sein Lebtag nicht gesehen oder gehört. Und wie die zu reimen verstand! Der Doktor konnte ein Lächeln nicht unterdrücken und sagte:

»Ja, ja, ja, meine liebe Frau, aber ich glaube es ist besser, wir reden drinnen im Büro weiter. Kommen Sie nur jetzt, dann können wir alles besprechen!«

Aber da sprang die Vogelscheuche auf und fuchtelte mit ihren Krallen in der Luft herum:

»Ich geh nicht weg, nicht eine Stund, bevor der Kaschmir frisch und g'sund!«

Bei der mußten wirklich sämtliche Schrauben los sein.

Kaschmir benützte einen unbewachten Moment, um den Salbentiegel zu schnappen, aber dies wurde sofort von der Krankenpflegerin mit ihren Adleraugen entdeckt, und während Kaschmir vor Wut heulte, entwand sie ihm das Krüglein.

Dem Doktor ging die Geduld aus.

»Also jetzt hören Sie einmal,« sagte er, »gehen Sie gutwillig mit!«

Und damit nahm er die Alte unter den Arm und wollte mit ihr abziehen, aber da gab es einen Mordsspektakel. Die alte Hexe sträubte sich und schrie, sie sei die Marta aus Kebnekaise, ja die Marta aus Kebnekaise, aber das half ihr gar nichts, sie hätte ebenso gut sagen können, sie sei die Kaiserinwitwe von China, denn der Doktor und die beiden Krankenpflegerinnen zerrten sie aus dem Zimmer, als wäre sie eine Kuh oder ein wütender Stier, und dann schlossen sie die Tür zu.

Wahrhaftig, auch in einem Krankenhaus kann es manchmal ganz lustig zugehen.

Plötzlich hörte Henrik ein stilles seltsames Lachen aus dem andern Bett.

»Mit die werdens nicht so leicht fertig,« kicherte Kaschmir, »das war Großmutterle meiniges! Du, das ist dir gescheiteste Person auf ganze Welt! Jeu, jeu, jeu! Das kannst mir glauben, Buro!«

»Warum nennst du mich denn immer Buro?«

»Weil du bist bleich und weich!«

»Ich!«

»Dero, Dero – Du. ja! Wenn ich nicht hätt diese mordsverflixte Hölkusstich, ich möcht dir soviel Schläg geben, daß du nicht mehr weißt, bist du Mandl oder Weibl – au – ah – au!«

Damit begann der Junge so zu husten, daß das Blut nur so über das Leintuch spritzte. Henrik erblaßte. Dann drückte er heftig auf die elektrische Klingel und herein kamen sie alle gestürzt, der Doktor und drei Schwestern und zum Schluß der Herr Professor selbst, und das war wahrlich im letzten Moment. Denn Kaschmir war schon ganz weg. Henrik hörte nur mehr ein schwaches Stöhnen. Gleich darauf wurde das Bett behutsam aus dem Zimmer gerollt, und Henrik war wieder allein.

»Wenn dieser Kaschmir jetzt stirbt, so ist das vielleicht auch ein bißchen meine Schuld!« dachte Henrik, und bei dem Gedanken wurde ihm ganz kalt. – »Ich hätt ja nicht mit ihm schwätzen sollen. Ich hab ja gewußt, daß es lebensgefährlich ist. Wo doch nicht einmal seine Großmutter es hat dürfen!«


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