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Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Die Graubeine gehen los

Kaum hatte Tor die Autotür zugeworfen und war in der Polizeistation verschwunden, als der Chauffeur ohne weiteres den Motor anließ.

»Stehen bleiben!« schrie Henrik, »wir müssen warten!«

Aber der Chauffeur tat, als wäre er stocktaub, er drehte nicht einmal den Kopf. Das Auto sauste davon, bog in öde Seitengassen und schoß dann mit unerlaubter doppelter Geschwindigkeit in der Richtung der Stadtgrenze dahin.

Henrik traute seinen eigenen Sinnen nicht – träumte er? Kaschmir hielt sich mit den Fäusten krampfhaft fest und hatte solche Angst, daß er kein Wort hervorbringen konnte. Aber schließlich stammelte er doch:

»Sind wir ja an dem Haus vorbeigefahren!«

»Was für ein Haus?«

»Da, wo liegt dein Kamerad! Hast nicht gehört, wie diese Kerl hat etwas hinaufgeschrien zu die Dachfenster? Da, wo hat so scheußlich getutet in seine Horn!«

»Was hat er geschrien?« – Henrik hatte in seiner Aufregung gar nichts von alledem bemerkt.

»Soll mich gleich Teuxel holen, wenn ich hab verstanden! Aber hab ich grausliche Fratze von diese Marinius gesehen.«

Henrik grübelte nach, so daß ihm der Schädel brummte.

Die Geschwindigkeit war so stark, daß es lebensgefährlich gewesen wäre, aus dem Auto zu springen, selbst mit zwei gesunden Beinen. Und noch gefährlicher würde es sein, den Chauffeur zu schütteln, um ihn zum Stehenbleiben zu bringen. Da würde er das Lenkrad loslassen und das Auto gegen eine Hausmauer schmettern. Hatte der Bursche denn den Sonnenstich?

Jetzt passierten sie die Stadtgrenze und bogen in die meilenlange, breite Landstraße ein, die Henrik von seinen Ausflügen nach Sonnberg so gut kannte.

Plötzlich flüsterte Kaschmir:

»Schau dir nur Schweinehund an, sitzt da und sauft!«

Und ganz richtig, während der Chauffeur mit der einen Hand das Lenkrad hielt, umklammerte er mit der anderen eine Feldflasche, die er an den Mund geführt hatte.

»Das ist Schnaps,« stellte Henrik mit einem Kälteschauer fest. Der Geruch war nicht zu verkennen.

Jetzt hatte er also die Aufklärung des Rätsels, und es schauderte ihn. Der Chauffeur war stockbesoffen. In wenigen Minuten lagen sie wohl alle im Straßengraben.

Ganz zufällig warf Henrik einen Blick durch das rückwärtige Guckloch des Autos, aber kaum hatte er dies getan, als er vor Freude in die Höhe fuhr.

Da, kaum zwanzig Meter hinter ihnen, kam ein grün lackiertes Auto herangesaust, ein Zweisitzer, den er unter tausend andern Autos erkannt hätte. Es war Onkels Rennwagen! Und darin saß Hilde mit Willi am Volant. Seine Brillengläser funkelten in der Sonne.

Willi war ein wilder Fahrer, hatte Klaus gesagt. Aber heute war das ausnahmsweise einmal ein wahres Glück. Selbst bei der unerlaubten Geschwindigkeit, mit der sie fuhren, würde der Rennwagen doch kaum mehr als eine Minute brauchen, um in eine Linie mit ihnen zu kommen. Und dann galt es rasch zu handeln, den Autoschlag aufzureißen und um Hilfe zu schreien. Vorsichtig begann Henrik an der Nickelklinke zu tasten, um bereit zu sein.

Aber da geschah etwas ganz Unerwartetes und Schreckliches.

Plötzlich schwenkte der Chauffeur auf einen kleinen Seitenweg ab, der zum Meer hinunterführte. In der nächsten Sekunde sah Henrik, wie der grüne Rennwagen weiter über die Landstraße raste und in einer Staubwolke verschwand. Henrik knirschte mit den Zähnen und ballte die Fäuste.

Der Seitenweg, der durch eine Allee mit hohen, schattigen Kastanien lief, war schlecht gehalten, und der Chauffeur mußte daher die Geschwindigkeit bedeutend herabsetzen.

Henrik öffnete einen Spalt der Autotüre, gab Kaschmir einen Puff in die Seite und warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. Kaschmir verstand augenblicklich und nickte zurück.

Und als das Auto eine knappe Biegung machte, gerade an der allerdunkelsten Stelle der Allee, schlich sich Kaschmir vorsichtig wie eine Tigerkatze auf das Trittbrett, duckte sich und sprang in ein Nesselgebüsch.

Der Chauffeur hatte nichts bemerkt. Er nahm einen neuen tüchtigen Schluck aus der Feldflasche und begann dann in seine Hupe zu stoßen.

Henrik zuckte zusammen. Der Chauffeur signalisierte! Und er bediente sich dabei des umgekehrten Morsealphabets der Graubeine.

Dank seiner Übertragung am Morgen nahm Henrik das Signal diesmal ganz leicht auf. Es wurde übrigens nicht weniger als achtmal wiederholt. Und es lautete: eiisr gü tqymch, eiisr gü tqymch, eiisr gü …

Henrik brauchte nicht lange, um das zu übersetzen. Es wurde zu: tmmok uz eflih, tmmok uz eflih, tmmok uz – …

Aber als er endlich den richtigen Wortlaut gedeutet hatte, war es, als liefe ihm ein Eisstrom über den Rücken.

Der Chauffeur telegraphierte irgendwelchen Graubeinen, die in der Nähe sein mußten: Kommt zu Hilfe, kommt zu Hilfe, kommt zu –.

»Jetzt bin ich verloren,« dachte Henrik. »Ich bin ihnen in die Falle gegangen!«

Im selben Augenblick ratterte das Auto auf eine Brücke, an der eine Motoryacht lag. Drei verdächtig aussehende Burschen kamen auf das Auto zugelaufen und rissen den Schlag auf. In der nächsten Sekunde fühlte Henrik sich von kräftigen Armen ergriffen und wurde weggeschleppt. Er wollte um Hilfe schreien, aber eine schwere Faust legte sich ihm auf den Mund, so daß er das Gefühl hatte zu ersticken.

Dann wurde er an Bord der Motoryacht getragen, aber unterwegs hörte er, wie einer der Graubeine, die übrigens alle miteinander betrunken waren, zu den andern sagte:

»Der Steffel muß aber – hikk – einen Mordsrausch haben – hikk – der sieht ja – hikk – doppelt – hikk – er hat g'sagt – hikk – es sind zwei Lausbuben im Auto – hikk – und da ist ja nur einer!«

Trotz seiner Wut und Verzweiflung wurde Henrik sehr froh, als er das hörte. So war also doch noch eine Hoffnung, denn Kaschmir war auf freiem Fuß, ohne daß die Graubeine es ahnten!

Aber bald hatte er an anderes zu denken. Man trug ihn in einen engen Verschlag und legte ihn auf ein zerfetztes Sofa. Es war dunkel und drückend da drinnen, nur ein mattes, trübes Licht sickerte durch ein verschmiertes Bullauge herein.

In der Türe stand ein dicker Kerl mit einem feuerroten, aufgedunsenen Gesicht. Er hatte kleine, blinzelnde Schweinsäuglein, sah aber im übrigen nicht so besonders gefährlich aus.

»Wenn du Lust auf etwas zu essen hast, oder auf ein Glas Wasser, dann klopf nur an die Tür,« sagte der Mann mit einer Stimme, die so heiser und brüchig war, daß er die Worte fast nicht herausbekommen konnte, »klopf zweimal fest an, aber nicht öfter! Und wenn du dich unterstehst zu schreien, dann komm ich mit dem spanischen Rohr!«

Damit schloß er die Türe und versperrte sie von außen.

*

Kaschmir kroch vorsichtig aus dem Brennesselgestrüpp heraus. Sein Gesicht und seine Hände waren von diesen mordsverflixten Nesseln ganz verbrannt. Seine Großmutter pflegte aus solchen Brennesseln Tränke zu brauen und saß am Abend am Feuer und trank ein Krüglein nach dem andern – ob sie sich da nicht bei lebendigem Leib inwendig verbrannte?

Nun trabte er den Weg wieder hinauf. Es stach und zerrte noch in seiner Wunde, er mußte schon etwas vorsichtig sein. Diese Hitze! Er blieb einen Augenblick stehen, schlüpfte in ein Haselgebüsch und riß sich seine Zigeunerlumpen ab. »Brauch ich sie ja so nicht mehr,« dachte er und schleuderte das Bündel weg, »jetzt, wo ich bin feiner als wie Kronprinz!«

Dann lief er weiter. Was war das, das dort wie funkelndes Silber blitzte? Jeu, jeu, das war ein Fahrrad, das drüben an einem Gartengitter lehnte, ein Fahrrad mit einem großen Schild darauf! Im Vorbeilaufen schnappte Kaschmir sich das Rad, sprang auf und fuhr davon. Bald war er wieder auf der großen Landstraße. Hier ging es glatter, hui, und wie es ging! Aber müde war er doch, allmählich konnte er sich kaum noch auf dem Rad halten. Da kam, dicht hinter ihm, ein mächtiges Lastauto heran, mit Mehlsäcken beladen. Mit einem raschen Griff erfaßte Kaschmir den hinteren Wagenrand, ohne daß der Chauffeur auch nur seine Nasenspitze gesehen hatte. Jetzt ging es flott vorwärts. Ehe er's noch recht wußte, war er mitten in der Stadt, Elektrische und Autos ratterten vorbei, die Menschenmassen wurden dichter und dichter, aber Kaschmir hielt sich fest wie eine Klette. Nein, hatte man je so etwas gesehen! Das war doch das, was die Leute ein Wunder nennen! Denn in diesem Augenblick fuhren sie an der Polizeistation vorbei, gerade hieher hatte er doch gewollt!

Kaschmir ließ das Auto mit einem Ruck los und sauste mit voller Geschwindigkeit auf den Gehsteig. Sofort stand ein Polizist mit dem Notizblock da. Aber der hatte sich getäuscht! Kaschmir steckte ihm ganz einfach das Rad in die Hand und sagte:

»Paß Augenblick drauf auf! Ist gestohlen. Lauf ich nur gschwind hinauf anmelden! Komm ich gleich wieder!«

Damit lief er die Treppen hinauf, und der Polyp blieb mit offenem Munde stehen und hielt krampfhaft das Fahrrad fest. Was war denn das für ein aufgeblasener Protz?

Kaschmir stürzte in das Büro der Kriminalpolizei.

»Ist hier gewesen Bub und hat was erzählt von eine Giftmeuchelmord?« fragte er, während seine Brust wie eine Lokomotive arbeitete.

Der Wachthabende blickte von seinen Protokollen auf und warf über seinen Zwicker hinweg einen raschen Blick auf Kaschmir. Dann räusperte er sich umständlich und sagte:

»Tja, vor etwa dreiviertel Stunden ist ein Junge hier gewesen, aber der war, scheint mir, nicht richtig im Kopfe.«

»Was sagst du, Mensch! Ihr habt nicht gehört auf ihn?«

»Er hat doch lauter Unsinn zusammengeredet. Der hat zweiundvierzig Grad Fieber gehabt!«

»n'Dreck hat er gehabt, du Ochs!«

Der Wachthabende erhob sich langsam von seinem Sitz, beugte sich über die Schranke vor und heftete ein paar grimmige Augen auf Kaschmir – immer über seinen Zwicker hinweg:

»Was hast du gesagt – Ochs hast du gesagt?«

»Sag ich Ochs und Hornochs zu Leute, die was nicht Finger rühren wollen, um arme Teufel zu retten, was liegt in eine Kiste und stirbt! Ja, sag ich, und könnts mich von mir aus in eure schwärzeste Kerkerloch hineinstecken! Wo ist jetzt, frag ich?«

Der Wachthabende streckte blitzschnell seinen Arm aus und packte Kaschmir an der Brust.

Kaschmir stieß ein Schmerzensgeheul aus und versuchte wütend seine Zähne in den Handrücken des Mannes zu schlagen, bekam ihn aber nicht zu fassen.

»Laß mich los,« schrie er, »hab ich Hölkusstich durch Lunge!«

Der Wachthabende ließ augenblicklich los und sah den Zigeunerbuben verblüfft an:

»Bist du gar am Ende der, der Kaschmir heißt?«

»No ja, wenn Ihnen nicht zu sehr geniert!«

Der Wachthabende nahm das Haustelephon und rief in die Sprechmuschel:

»Kommen Sie doch mal heraus, Sie scheinen sich da doch geirrt zu haben! Hier steht der Bub mit dem Messerstich durch die Lunge springlebendig vor der Schranke und ist vor lauter Wut nicht zu bändigen!«

Der Detektiv öffnete die Tür, warf einen neugierigen Blick auf Kaschmir und forderte ihn dann auf einzutreten.

Der Wachthabende schüttelte den Kopf und schrieb an seinem Protokoll weiter. »Ja, was kann man wissen,« murmelte er, »in der Stadt geht's schrecklich zu. Was es hier für Strolche gibt, das ist schon nicht mehr schön!« Als er fünf, sechs Minuten geschrieben hatte, wurde die Tür zum Nebenraum aufgerissen und sein Kollege kam herausgestürzt, und dicht hinter ihm drein Tor und Kaschmir. Der Detektiv sah erregt aus. Indem er an der Schranke vorbei zu einem der versperrten Schränke lief, rief er dem Wachthabenden zu:

»Telegraphieren Sie Wold, er soll augenblicklich zurückkommen – mit Auto, Extrazug oder Flugzeug!«

Dann öffnete er rasch den Schrank, steckte etwas Klirrendes in die Tasche und war schon zur Türe hinaus.

Der Wachthabende nickte und murmelte:

»Hm, er hat den Revolver und die Handschellen mitgenommen!« – Und dann schickte er das Telegramm an den Detektiv Wold.


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