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Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Henrik denkt sich eine Kriegslist aus

Henrik saß in dem dunklen Verschlag und grübelte. Was für ein Esel war er doch gewesen! So in die Falle zu gehen! Aber um Wasser bitten oder um etwas zu essen, das tat er um keinen Preis! Jetzt kannte er sich aus. Die würden ihm keinen Tropfen »Todesbruder« einflößen, und wenn sie ihm auch ein Messer zwischen die Zähne zwängten. Der Chauffeur war selbstverständlich eine von Doppel-Nelsons Kreaturen. Das hätte er sich doch denken können. Denn der Chauffeur hatte doch gesagt, daß er gleich drüben in der Gasse bestellt war – beim Doppel-Nelson natürlich! Es war ja noch keine zehn Minuten her, daß der Anführer der Graubeine im Krankenhaus erschienen war und da herumgeschnüffelt hatte. Er hatte es auf Kaschmir abgesehen, aber auch Tor und ihn hatte er so heimtückisch angeschaut. Es war klar, er hatte Lunte gerochen und wußte, wieviel es geschlagen hatte. Dann hatte er wahrscheinlich auf der Lauer gestanden und hatte gesehen, daß Kaschmir in seinen eigenen Kleidern zurückgekommen war, also in den Kleidern, die er Klaus abgenommen hatte. Das mußte ihm wohl einen ordentlichen Schrecken eingejagt haben, und er hatte sofort angefangen neue Schurkenstreiche auszusinnen. Hatte einem der Graubeine telephoniert, blitzschnell mit einem Auto zu kommen! Und unterdessen hatten sich also alle drei Buben hineingesetzt, ohne zu ahnen, daß sie ebenso gut in eine Raubtierfalle hätten hineinspazieren können. Das mußte Doppel-Nelson gesehen haben und dann war er ihnen bestimmt so rasch nachgeeilt, als seine langen Beine ihn nur tragen konnten, hatte das Auto wahrscheinlich bei der Polizeistation eingeholt und dem Chauffeur einen Wink gegeben. Er selbst, Henrik, war übrigens wirklich ein Ochs gewesen. So unvorsichtig zu sein, und noch dazu seine Instruktionen so laut herauszuschreien, als ob er und Tor die einzigen Leute auf der Welt wären! Aber wer kann denn auch riechen, daß jeder zweite Chauffeur ein Graubein ist? Der sechste Sinn sitzt doch nicht in den Nasenlöchern!

Die Zeit kroch schneckenhaft hin, und eine tiefe Niedergeschlagenheit begann sich Henriks zu bemächtigen.

Um sich etwas zu tun zu machen, spuckte er auf sein Taschentuch und fing an, das verschmutzte Bullauge zu reiben und zu putzen. Und dann guckte er hinaus.

Da lag die Brücke, und auf der Brücke stand ein Lastauto.

Von diesem Lastauto hoben eben vier Mann eine schwere, rosenbemalte Bauerntruhe. Und auf der Truhe saß ein winzig kleines, abscheulich häßliches Kerlchen, das aussah, als wäre es eben einem Zirkus entlaufen.

»Marinius,« konstatierte Henrik und nickte.

Der Kasten wurde an Bord der Motorjacht getragen.

Einen Augenblick darauf öffnete sich die Türe des Verschlags und Marinius steckte seinen Kopf herein.

Wenn der Kopf einer Klapperschlange sich zur Türe hereingeringelt hätte, hätte Henrik auch nicht mehr Abscheu und Ekel empfinden können.

Marinius zog rasch den Kopf wieder zurück, und Henrik zuckte zusammen, als er die kreischende Stimme des Zwergs draußen hörte:

»Aber das ist ja gar nicht der Richtige!«

»Richtig oder nicht richtig, 's ist der junge Hund, den der Steffel hergebracht hat.«

»War nicht noch einer da?«

»Nur ein Kolli, Master.«

»Es ist doch ganz ausgeschlossen, daß so ein blondhaariger Bub ein Zigeuner sein kann!«

»Was mich betrifft, so hab ich schon weiße Neger gesehen, Master!«

»Aber der Zigeunerbub ist doch in der Brust verwundet und nicht im Bein.«

»Was mich betrifft, so hab ich schon von Leuten gehört, die das Herz in den Hosen haben, Master – und da kann's ja auch vorkommen, daß einer die Lunge in der Wade hat!«

»Du bist ja total besoffen!«

»Nur dreiviertel, Master. Hab seit Mittag noch nichts getrunken.«

Wieder öffnete sich die Türe und Marinius glitt in den Verschlag. Er blieb eine Weile stehen und glotzte Henrik an. Dann fragte er scharf:

»Wie heißt du?«

Henrik hatte sich schon seinen Plan zurechtgelegt. Hier war eine Chance, das Spiel zu retten, denn Marinius wußte ja offenbar nicht, wie der Zigeunerbub aussah.

»Wie miro heißt? – Und das fragt dero?«

»Ich frage, um eine Antwort zu bekommen,« kreischte Marinius.

»Heiß ich Kaschmir, entschuldigen dero, daß ich nicht erst hab gebeten um Erlaubnis! Warum sitz ich denn hier? Was wollen dero denn mit mir tun?«

»Dich auf einer Insel im Skagerrak mit einer Dose Schiffszwieback und einer Flasche Wasser ans Land setzen!« schrie Marinius, schoß hinaus und schloß die Türe hinter sich zu.

»Es sollte mich nicht wundern, wenn er das im Ernst meint,« dachte Henrik; es war ihm unbehaglich zumute, »aber dann bekomme ich wohl Gesellschaft, denn so sicher wie nur etwas, liegt Klaus in dieser Bauerntruhe!«

Plötzlich spitzte er die Ohren. Der Motor war angelassen! Er guckte durch das Fenster hinaus. Ja, wahrhaftig, das Boot glitt von der Brücke weg!

Henrik grübelte angestrengt nach. Der Weg zum Skagerrak ist weit. Er mußte sich doch etwas ausdenken können, bevor die Motorjacht am Ziel war. Die Lage war schlimm, das ließ sich nicht leugnen. Aber wenn nur Tor den Detektiv Wold erwischt hatte! Wenn nur Kaschmir Kraft genug gehabt hatte, sich in die Stadt hineinzuschleppen und dort Lärm zu schlagen. Dann war ja von dieser Seite Hilfe zu erhoffen! Aber Kaschmir hatte ja das Boot nicht gesehen, er ahnte vielleicht überhaupt nicht, daß ein Boot da gewesen war. Das wäre ja zum aus der Haut fahren. Kaschmir wußte allerdings, daß Doppel-Nelson ein Boot hatte, er hatte es ja gestern selber erzählt. Zwei und zwei sind vier, und wenn Kaschmir auch nicht lesen und schreiben konnte, zwei und zwei konnte er schon zusammenlegen. Nebenbei war es ja ein wahres Glück, daß der Doppel-Nelson sich jetzt ganz sicher fühlte. Er glaubte doch, Klaus und Kaschmir so prächtig aus dem Wege geräumt zu haben – die beiden einzigen, wie er wohl meinte, die das Geheimnis herausgeschnüffelt hatten. Wußte er die nur wohlgeborgen, bis die morgige Gerichtsverhandlung vorüber war, dann hatte er sein Schäfchen schon ins Trockene gebracht! Wenn er nur nicht Tor in die Polizeistation hatte gehen sehen! Das wäre dumm! Dann würde er ihn wohl auch noch zusammenpacken, er war doch so teuflisch schlau und raffiniert! Sicherlich war er einer der gefährlichsten Verbrecher, die je gelebt hatten. Zuerst hatte er aller Wahrscheinlichkeit nach Kaschmirs Vater erstochen, und vierzehn Jahre später hatte er versucht, auch den Sohn umzubringen. Dann hatte er es so einzurichten gewußt, daß der Verdacht, die Hasenschnauze ermordet zu haben, auf den Panther fiel. Wenn aber der Moppel sich nicht fügsam zeigte, würde Doppel-Nelson den Verdacht im Handumdrehen auf ihn richten. Und dann? Dann hatte Doppel-Nelson Klaus vergiftet. –

»Jetzt hab ich's!« murmelte Henrik und damit klopfte er an die Türe. Gleich darauf hörte er Schritte draußen, und ein kleiner Spalt der Türe wurde geöffnet.

»Was willst du?« fragte irgendjemand.

»Bin ich schon fast verdurstet. Kann ich denn haben gar nichts zu trinken?«

Draußen ertönte ein Grunzen, und die Türe wurde wieder geschlossen.

Ja, was war denn das jetzt für ein Lärm? Es hörte sich an wie Ankerwinden und Lokomotivpfiffe und Autorattern! Henrik guckte hinaus. Nein, hatte man so etwas gesehen! Das war doch der reinste Schwindel! Das Boot war der Stadt zugedreht, da sah er schon die Kohlenkrane und die Kornspeicher und die gewaltigen Warenlager vorbeigleiten, und jetzt steuerte das Boot der Flußmündung zu!

Nun wurde die Türe wieder geöffnet, und ein Glas hereingesteckt.

»Da hast du Himbeerlimonade!« sagte die Stimme. Und die Türe wurde geschlossen.

Henrik lächelte befriedigt. Das war ganz so, wie er berechnet hatte. Blitzschnell schüttete er den Inhalt des Glases in eine Art Ausguß, der sich in der Ecke befand. Dann roch er vorsichtig an dem Glase, es war ein süßlicher Geruch. Hm. Am besten sich ordentlich die Nase zu putzen, damit nichts von dem Giftgestank hängen blieb. Aber zuerst stellte er das Glas so weit von sich weg, als es nur möglich war.

Nach einer kleinen Weile stellte er sich, als ob er eingeschlafen wäre. Ließ den Kopf auf die Brust sinken und begann zu schnarchen. Die Hauptsache war jetzt, nicht wirklich einzuschlafen, denn dann hätte er sich ja leicht verraten können, wenn er geweckt wurde.


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