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Zehntes Kapitel.
Eine unheimliche Nachricht

»Red leise,« flüsterte Henrik, »denn der Bursch in dem andern Bett hat Ohren wie ein Luchs!«

»Wir können uns ja in der Zigeunersprache unterhalten!«

Henrik hätte beinahe einen Lachkrampf bekommen. Er mußte sich einen Leintuchzipfel in den Mund stecken, um nicht laut aufzubrüllen. Dann flüsterte er:

»Der dort liegt, ist doch ein Zigeuner!«

Tor machte ein dummes Gesicht und drehte vorsichtig den Kopf.

Kaschmir saß aufrecht im Bett mit dem Rücken gegen die Knaben. Er war eifrig damit beschäftigt, seine Wunde mit dem Mönchsbalsam der Marta aus Kebnekaise einzuschmieren. Die Buben hörten, wie er in sich hineinmurmelte, aber sie konnten kein einziges Wort verstehen, nur immer: miroderomoskro.

» Das ist zigeunerisch!« flüsterte Henrik kichernd. – »Was wir untereinander zu schwätzen pflegen, diese umgekehrten Wörter, das ist nur ein Kauderwelsch! – Aber erzähl jetzt!«

Tor zog mit geheimnisvoller Miene ein Heftchen aus der Tasche und hielt es Henrik unter die Nase.

Steckbriefliche Anzeigen

stand darauf.

Tor nickte. Henrik platzte beinahe vor Spannung.

»Gestern waren der Onkel und ich zum Nachmittagskaffee beim Gendarmeriepostenführer,« flüsterte Tor, »und da hab ich mich halb zu Tod gelangweilt. So hab ich halt in ein paar Zeitungen und Schriften herumgeblättert, die auf dem Schreibtisch lagen. Und schau her, da hab ich das gefunden. Halt deine Haare fest, daß sie dir nicht davonfliegen!« Tor blätterte ein bißchen in den steckbrieflichen Anzeigen und steckte sie dann Henrik zu.

Da stand das Bild eines Mannes, von dem Henrik sofort wußte, daß er ihn schon einmal gesehen hatte. Und mit klopfendem Herzen las er den Text, der darunter stand:

 

Gibelhaus Benjaminson, 32 Jahre alt, von Zigeunerabstammung, wird als des Mordes in den Schwarzenwäldern am 26. Juni verdächtig verfolgt, seit welchem Tage er abgängig ist.

 

»Das ist er,« flüsterte Henrik.

»Ja, der Zigeunerhäuptling aus der Elchkalbshütte! Der mit dem Hund und dem Messer!«

»Ich glaub, das ist der, den sie den Panther nennen!«

»Panther?«

»Ja, der Onkel von dem dort drüben im anderen Bett!«

Wenn man Tor mit einem Messer gestochen hätte, er hätte nicht heftiger zusammenfahren können.

»Mir scheint, du bist ganz –,« flüsterte er.

»Pst, das werd ich dir später erzählen!«

»Der ist also der Neffe von einem Mörder!«

»Ganz richtig. Und außerdem ist er selbst halb ermordet!«

»Und mit dem traust du dich allein dazuliegen! Tag und Nacht!«

»Was soll ich denn tun? Mit meinem Bein kann ich doch nicht davonlaufen!«

»Hast du das die ganze Zeit gewußt? Daß er von Mördergeschlecht ist!«

Tor starrte Henrik entsetzt an.

»Nein, du bist nicht recht gescheit,« flüsterte Henrik, »das hab ich doch bis jetzt gar nicht geahnt! – Aber sag mir nur, was ist denn das für ein Mord?«

»Das weiß ich nicht. Aber es war also am 26. Juni.«

»Du großer Gott, das ist ja derselbe Tag, an dem wir dort oben waren! – Aber darüber muß doch etwas in den Zeitungen gestanden haben, hast du denn keine Zeitungen gesehen?«

»Zeitungen! Auf dem Land hab ich doch wirklich was Gescheiteres zu tun! Aber du!«

»Ich! Ich habe andere Sachen im Kopf gehabt – mit meinem Bein! Aber der Klaus?«

Tor lachte.

»Der! Der kommt gerade dazu! Höchstens, daß er sich die Sportseite anschaut!«

Henrik dachte einen Augenblick nach. Dann kam ihm eine glänzende Idee!

»Der Kanari muß es wissen! Der liest doch jeden Abend fünf Zeitungen, wenn er mit seinem Pfeifen fertig ist. Und dann sammelt er sie auch noch! Ruf ihn nur an, und sag ihm, er soll gleich mit allen Zeitungen herkommen! Aber auf der Stelle!«

»Aber das wird ja eine ganze Wagenladung sein!«

»Macht nichts! Der kann sich schon ein Auto nehmen!«

»Aber der Kanari? Steht der Name im Adreßbuch?«

Henrik dachte einen Augenblick nach. Wie hieß doch der Kanari eigentlich mit seinem christlichen Namen?

Kanari hieß er, weil er den lieben langen Tag, ohne Unterlaß, pfiff, kleine Liedchen und Opernarien, je nachdem wie die Arbeit war. An den dunklen Winternachmittagen flackerte der Feuerschein seiner Esse lustig über den Hof, während die Töne hinaustrillerten.

Ja, Larsen hieß er: »Larsen, Theodor. Beschlagsschmiede!«

Tor eilte zum Telephon.

Kaschmir war jetzt mit dem Einschmieren fertig. Er wendete Henrik ein strahlendes Antlitz zu und jauchzte:

»Jeu, jeu, morgen ich bin ganz g'sund!«

»Glaubst du!« erwiderte Henrik so verdrossen er nur konnte.

»Das ist sicherste Sache auf ganze Welt!«

»Aber der Doktor läßt dich doch nicht fort! Der schaut sich seine Leute erst an!«

Kaschmir schnitt eine höhnische Fratze.

»Buro ist noch nicht erfunden, der was Kaschmir zurückhalten kann!«

Henrik dachte einen Augenblick nach. Dann fragte er, ziemlich herablassend:

»Kannst du lesen, Kaschmir?«

»Wegen was fragst du?«

»Es interessiert mich nicht im geringsten, ob du lesen kannst oder nicht!«

»Kann ich lesen, was ich hab nötig – aber keine Schrift nicht. Und keine Bücheln nicht!«

»Was kannst du dann lesen, wenn ich fragen darf?«

»Ha! Gar viel! Zeichen und Schrift in Wald und Feld, auf Gitter und Zäune. Kreuz und Kreis und Riß und Stich! Wir fahrend Volk, wir schreiben mit Messer, mit Zweige und Pflöcke, mit Blut und Teer.«

»Aber die Buchstaben kennst du also nicht?«

»Woher denn! Zu was brauch ich denn das! Bin ich doch nicht Pfarrer!«

»Traust du dich aufzustehen und einen Augenblick herzukommen?«

»Jeu, jetzt wo ich Balsam hab, könnt ich gehen bis ganz hinüber nach Amerika!«

Damit stieg Kaschmir leichtfüßig und flink aus dem Bett und ging ohne jede Anstrengung zu Henrik hinüber.

»Kennst du den?« fragte Henrik und zeigte ihm das Bild des verfolgten Mörders.

»Panther!« rief Kaschmir augenblicklich und klatschte in die Hände. – »Nein, wie ihm ähnlich schaut!«

»Natürlich,« sagte Henrik in geheimnisvollem Ton, »das ist Gibelhaus Benjaminson, er und kein anderer!«

Kaschmirs Gesicht verdüsterte sich. In seinen Augen funkelte es auf. Dann zog er sich förmlich in sich zusammen wie ein Igel.

»Woher weißt denn du Namen?« fragte er scharf.

»Ach ich – ich weiß gar viel!«

»Schaut wirklich so aus, du abgefeimte Buro! Aber gib her den Papierl! Will ich's haben!«

»Zu was brauchst es denn?«

»An Wand annageln!«

»Findest du es nicht merkwürdig, daß ein Bild von ihm da steht?«

»Warum denn merkwürdig? So eine Prachtkerl wie Panther!«

»Hm! – Du, Kaschmir!«

»Ja, steh ich doch ohnehin da!«

»Glaubst du, daß – hm! – daß der Panther – einen Menschen umgebracht haben kann?«

Kaschmir machte ein entsetztes Gesicht und streckte abwehrend die Hände aus:

»Der! Nie! Jeu, ist doch so gescheit, so gescheit!«

»Aber warum ist er denn dann so spurlos verschwunden?'

»Na, wird schon andere Gründe haben! Kann schon sein, daß liegt er auf Lauer und paßt auf diese Krischtian Nelson mit die Narbe! Hat vielleicht Lust, ihn bissel mit seine Hölkus kitzeln – oder ihm eines Ohr abschneiden. Denn Panther, das ist feine Kerl! Vergißt nicht, daß diese Krischtian Nelson mich hat wollen umbringen, diese Meuchelmörderhund! Aber kommt jetzt wer!«

Mit zwei Sätzen war Kaschmir wieder in seinem Bett.

Es war Tor, der kam.

»Jetzt hab ich also dem Kanari telephoniert, und er kommt so rasch er kann, hat er gesagt.«

Tor setzte sich auf den Sessel neben das Bett. Henrik flüsterte:

»Er hat ihn erkannt. Es ist der Panther – sein Onkel!

»Aber hörst du, das ist ja eine wüste Sache!«

»Denk dir nur: ein Mörder!«

»Den wir mit unseren eigenen Augen gesehen haben!«

»Nicht zwei Schritt weit weg!«

»Und der Klaus hat noch mit ihm boxen wollen! – So eine Verrücktheit!«

»Und weißt du noch, wie er mit dem Messer gespielt hat!«

»Und dann hat er uns noch vor den anderen gewarnt!«

»Der!«

»Ja, so eine raffinierte Frechheit! – Aber du! Beug dich etwas vor! Ich weiß, wo er und die ganze Zigeunerbande ist

»Aber nein!«

»Ja – sie sind auf dem Hohlweg bei der Teufelsscharte gleich über dem Seerosenweiher!«

»Hat der drüben dir das erzählt?«

»Nein, bist du verrückt? Der weiß es ja selber gar nicht, der arme Kerl!«

»Armer Kerl – du sagst armer Kerl von dem Neffen eines Mörders!«

»Ach Gott, da kann er doch nichts dafür!«

»Wer kann denn was dafür?«

*

»Hurra, Tor! Ich hab mit meinem Alten gesprochen.«

Das war Klaus, der plötzlich in der Türöffnung stand und übers ganze Gesicht strahlte.

»Du fährst mit dem Halbdreiuhr-Schiff mit uns hinaus nach Sonnberg für den ganzen übrigen Sommer!«

Tor sah zugleich entzückt und bestürzt aus.

»Aber ich hab doch nichts zum Anziehen mit!«

»Ach was, ich hab Kleider genug für uns beide. Hast du eine Zahnbürste?«

»Nein, die hab ich doch nicht mitgenommen!«

»Hm, das ist dumm – aber weißt du was! Wir kaufen eine! Ein Vermögen wird's doch nicht kosten!«

Kaschmir lag da und verschlang Klaus' Hemd mit den Augen. Aber plötzlich richtete er sich im Bett auf und blickte freudestrahlend auf die Tür:

»Jeu, bist du's, Großmutterle!« rief er ganz beseligt und sprang aus dem Bett.

Die Knaben drehten sich um, und Henrik schmunzelte. Da stand die Marta aus Kebnekaise mit ausgebreiteten Armen und lächelte breit und strahlend mit ihren zahnlosen Kinnbacken. Aber Tor und Klaus, die sie noch nie gesehen hatten, wichen unwillkürlich ein paar Schritte zurück.

Im nächsten Augenblick hatte sich Kaschmir in die Arme der Alten gestürzt, und das war eine Wiedersehensfreude! Und ein Wispern und Flüstern in der Zigeunersprache. Miroderomoskro. Jeu, jeu!

Da stand plötzlich ein großer breiter Mann in der Türe. Hinter ihm sahen die Knaben den Doktor und zwei Krankenpflegerinnen. Tor und Klaus verbeugten sich verlegen. Der Mann zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe, aber dann lachte er, nickte vergnügt und sagte:

»Mir scheint, diesmal hab ich wirklich ein paar Fliegen auf einen Schlag erwischt!«

Henrik verstand überhaupt gar nichts. Aber Klaus und Tor hatten den Mann sofort erkannt. Es war der Detektiv Wold, der aus dem Schwarzenwald.


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