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Drittes Kapitel.
Der Schrei im Walde

»Was sollen wir jetzt tun?« fragte Per, als er die Türe glücklich wieder zugesperrt hatte. »Ich finde wirklich, es fängt an, hier ein bissel ungemütlich zu werden!«

» Selbstverständlich bleiben wir,« sagte Klaus, »wenn wir nicht lieber denen nachgehen, um zu sehen, was da eigentlich los ist!«

»Ja, das ist klar,« schrieen Henrik und Tor durcheinander, »wir lassen uns doch nicht wegscheuchen wie die Schafe!«

»Man braucht noch kein Schaf zu sein, wenn man seine Vorsichtsmaßregeln trifft. Vergeßt nicht, daß ich als Erwachsener die Verantwortung trage.«

»Erwachsen!«

»Verantwortung!«

»Daß ich nicht lache!«

»Ja, lacht von mir aus, soviel ihr wollt, aber ich schlage vor, also das heißt: ich bestimme, daß wir augenblicklich von hier abziehen, dann können wir ja den Lystad herausklopfen und ihn um Nachtquartier bitten.«

»Mitten in stockfinsterer Nacht!«

»Am hellichten Tag werden wir kein Nachtquartier brauchen,« antwortete Per trocken. »Also – macht euch fertig!«

Und dabei blieb es. Unter Knurren und geheimnisvollen Beschwörungsformeln packten die Jungen ihre Sachen in die Rucksäcke, und bald darauf zogen sie ab. Alle drei kochten vor Wut. Gerade jetzt fing es doch an, interessant zu werden!

Sie gingen im Gänsemarsch über den Pfad, Per voran mit einer elektrischen Taschenlaterne in der Hand. Eigentlich war es gar nicht notwendig eine Laterne zu haben, denn die Nacht war ohnehin hell. Aber Per blieb dabei, daß er den Weg nicht ordentlich sehen konnte, weil seine Brille zerbrochen war. Die anderen grinsten hinter seinem Rücken, denn sie wußten ja ganz genau, daß Per mindestens so gut sah wie eine Eule.

Als sie zu der großen verdorrten Föhre gekommen waren, die mit ihren nadellosen Zweigen ganz wie ein Wegzeichen am Ende des Schwarzensees steht, blieb Per plötzlich stehen und horchte. Dann flüsterte er:

»Hinter der Föhre hat sich etwas bewegt!«

»Du siehst doch nichts, ohne Brille!«

»Ich hab's auch gehört! Es hat in den Zweigen geknackt.«

Zur größeren Sicherheit horchten die Knaben noch einmal. Aber nein, sie hörten nicht das Allermindeste.

»Ich glaube, du siehst Gespenster!« spöttelte Klaus.

»Was, ich Gespenster sehen? Du Grünschnabel, ich, der ich jeden Morgen in der Anatomie stehe – wenns noch ganz dunkel ist – und Leichen seziere!«

Den Jungen lief es kalt über den Rücken, sie mußten ihm recht geben. Nein, er war ja im Grunde auch mutig – eben auf seine Weise.

»Vielleicht war es nur ein Tannenzapfen, der heruntergefallen ist,« schlug Henrik vor.

»Ja–a, vielleicht – also gehen wir weiter!«

Sie gingen also weiter, Per voran mit der Laterne, die schon fast ausgebrannt war, Henrik beschloß den Zug. Keiner sprach ein Wort. Das war wie eine stillschweigende Vereinbarung. Sonst pflegten sie immer zu jodeln oder zu singen, wenn sie diesen Weg gingen, aber heute Nacht paßte es gewissermaßen nicht. Und müde waren sie ja auch, denn es war ein langer, anstrengender Tag gewesen, und sie hatten noch kein Auge geschlossen. Jetzt war es schon über Mitternacht. Als sie die Elchkalbshütte verließen, hatte gerade ein Viertel auf zwölf gefehlt.

Diesmal machten die vier keinen Versuch, sich ungesehen an dem Zigeunerlager vorbeizuschleichen; es war wohl ein gefährlicher Bursche gewesen, der sie da in der Hütte besucht hatte, aber eigentlich doch ein ganz anständiger Kerl.

»Man kann beinahe sagen: gemütlich,« meinte Henrik.

»Ah, das war nur, weil wir uns gleich Respekt verschafft haben,« sagte Klaus.

»Pst!« flüsterte Per.

Es war übrigens jetzt ganz still im Zigeunerlager. Die Feuer waren ausgebrannt. Die Frauen und Kinder schliefen zu dieser späten Stunde wohl schon. Übrigens war es so dunkel, daß sie die Zelte nicht einmal recht unterscheiden konnten. Sie mochten wohl eine halbe Stunde durch das tiefdunkle Erlengebüsch der Schwarzenseeache entlang abwärts gegangen sein, wo sie sich mit den Händen weitertasten mußten – denn Pers Taschenlaterne war schon längst ausgegangen –, als plötzlich eine scharfe Stimme aus dem Gebüsch erklang:

»Halt!«

Die Jungen blieben mit einem Ruck stehen, und dadurch prallte Klaus an Henrik an, der als letzter ging. Dieser stolperte über eine Baumwurzel und kollerte Hals über Kopf den Abhang hinunter, der zum Fluß hinabführte. Die anderen bemerkten nicht einmal, daß er einen halb erstickten Schrei ausstieß und daß es im Fluß aufplätscherte, denn aus dem Walde dicht vor ihnen traten zwei Männer, jeder einen bissigen Schäferhund an der Leine führend. Das Strahlenbündel einer Blendlaterne schnitt den Knaben grell in die Augen, und es läßt sich nicht leugnen, daß ihnen der kalte Schweiß auf die Stirne trat, als sie sahen, daß eine Revolvermündung ihnen entgegenblitzte.

Der eine der beiden Männer trat näher und sah die Nachtwanderer scharf an.

»Ja, wo kommt denn ihr her, ihr Bürschchen?« fragte er freundlich und steckte den Revolver wieder in die Tasche.

»Wir kommen aus der Elchkalbshütte oben am Schwarzensee,« sagte Per. – Aber Klaus ballte die Fäuste in der Tasche und knirschte vor Wut mit den Zähnen.

Bürschchen! Das war doch zum Teufelholen, daß niemand sie in dieser Nacht ernst nehmen wollte!

»Wart ihr allein droben?« fragte der Mann.

»Zuerst waren nur wir vier.«

»Vier? Soviel ich sehe, seid ihr doch bloß drei!«

Die Knaben sahen sich verblüfft um.

»Henrik! Ja um Gotteswillen, wo ist denn Henrik hingekommen? Henrik

Niemand antwortete. Aber der eine der Schäferhunde begann wie toll zu bellen und an der Leine zu zerren und zu reißen.

»War noch einer von euch da?« fragte der Mann erstaunt.

Klaus sah nun ein kleines blankes Schild an seiner Weste aufblitzen. Die waren also von der Polizei!

»Ja, vor weniger als zehn Sekunden war Henrik noch mit uns beisammen!«

»Ist das auch ein Bub?«

»Ja, er ist der Jüngste von uns!«

Nun gab es selbstverständlich große Aufregung. Henrik war wie in den Erdboden versunken.

Die anderen brüllten und schrieen, so daß es durch die Wälder hallte, aber keine Antwort kam.

»Er kann doch um Gotteswillen nicht in den Fluß gefallen sein?« stammelte Per und starrte ängstlich zu der Ache hinunter, die schwarz mit weißen Stromschnellen dahinbrauste.

»Schauen Sie nur Ihren Hund an!« rief plötzlich Klaus, »der will zum Fluß hinunter!«

»Wahrhaftig, es sieht gerade so aus!« sagte der Polizist, denn der Hund riß noch immer an der Leine und strebte dem Abhang zu.

Und nun ließ der Herr dem Hund seinen Willen. Mit der Schnauze im Grase witternd, trabte der Hund die Böschung hinunter, und der Polizist folgte hinterdrein.

»Siehst du was?« rief der andere und leuchtete seinem Kollegen mit der Blendlaterne.

»Ja, hier sind ganz deutlich die Spuren von jemanden, der ins Wasser gefallen sein muß!«

Die Knaben schüttelte ein Schauer des Entsetzens. Du grundgütiger Gott, Henrik war in den Fluß gefallen!

»Kann der Junge schwimmen?« fragte der mit der Polizeiplakette ruhig.

»Ja, wie eine Otter,« rief Klaus, »und Gottseidank war ich diesmal an der Reihe, den Rucksack zu tragen!«

»Dann wird er schon ans Land krabbeln. Kommt, wir laufen hinunter!«

»Ich bleibe einstweilen hier, Wold,« rief der andere, »komm so rasch du kannst zurück!«

»Jawohl! Aber es wird das Beste sein, wenn ich beide Hunde mitnehme!«

Und damit ließ Wold seinen eigenen Hund los und pfiff dem andern. Beide Hunde liefen nun über den Pfad und verschwanden wie Schatten in der Dunkelheit, Wold und die Jungen hinterdrein, so rasch sie nur konnten. Der Detektiv hatte bald einen großen Vorsprung, denn er brauchte ja keinen Rucksack zu schleppen.

»Um Gotteswillen, warum schreit er denn nicht,« stammelte Per, während der Schweiß ihm in Strömen hinunterlief, »da hätten wir doch wenigstens eine Ahnung, wo er ist!«

»Vielleicht kann er nicht!« flüsterte Klaus atemlos.

»Meinst du, er ist ohnmächtig?«

»Vielleicht noch was Schlimmeres!«

Klaus war dem Heulen nahe, und er ballte verzweifelt die Hände. Aber Per packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn und schrie:

»Sei still, sag ich dir! Du machst mich ja ganz wahnsinnig!«

»Wenn er nur nicht zum Fall hinunter treibt!« keuchte Tor.

Per blieb plötzlich stehen.

»Was sagst du, Tor? Zum Fall? Was für ein Fall?«

»Der Fall oberhalb der Lystadbrücke, wo der Forellenfischer voriges Jahr ertrunken ist. Davon hat Klaus doch erzählt, auf dem Hinweg. Aber was war das

Mit entsetzten Augen horchten die Knaben. Hoch oben vom Wald her, ungefähr von der Stelle, wo Henrik verschwunden war, ertönten ein paar durchdringende Jammerschreie.

»Das war ein Junge!« stöhnte Klaus.

Wieder ertönte der Schrei, diesmal schwächer.

Per wischte sich den Schweiß von der Stirn und stammelte:

»Du – du hast recht! Das war eine Jungenstimme. Ach Herrgott, und ich habe die Verantwortung!«

»Ich glaub' bestimmt, ich hab' dem Henrik seine Stimme erkannt,« sagte Tor unheimlich ruhig.

»Wir müssen wieder hinauflaufen!«

Klaus war eiskalt am ganzen Körper, und in seinen Ohren sauste es. Er stützte sich auf Per und flüsterte:

»Das hat sich angehört, als ob er getötet würde.«


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