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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Erwachsene halten sich immer für zu klug

Tor trat atemlos in die Wachstube der Kriminalpolizei.

»Ist Herr Detektiv Wold da?« fragte er.

»Nein, Wold ist verreist. Er kommt erst morgen zurück,« sagte der Wachthabende.

»Dann muß ich mit einem anderen sprechen. Es handelt sich um den Mord am Schwarzensee.«

Ohne eine Miene zu verziehen, winkte der Wachthabende einem Detektiv, der drüben beim Telephon stand.

»Der Junge hat anscheinend was zu erzählen!«

Einen Augenblick später saß Tor dem Detektiv an einem großen, braunlackierten Schreibtisch gegenüber. Und er erzählte atemlos und rasch, um was es sich handelte. Der Detektiv machte sich dabei Notizen auf einen Block. Je weiter Tors ziemlich verwirrte und abgerissene Erzählung vorschritt, einen desto belustigteren Ausdruck zeigte das Gesicht des Polizisten.

»Sonst noch was?« fragte er schließlich, als Tor innehielt.

»Ja, eine ganze Masse, aber das muß ich später erzählen!«

»Na, laß uns also sehen: zuerst haben wir einen Buben, der sich das Bein gebrochen hat, dann einen andern Buben, der einen Messerstich durch die Brust hat. Und schließlich haben wir einen dritten Buben, der betäubt in einer Kiste liegt. Hm. Viele Unglücksfälle auf einmal! Aber der vierte Bub, was fehlt denn dem?«

»Der vierte Bub, das bin doch ich!« sagte Tor.

»Ja, ja, das hab ich mir schon gedacht. Dann haben wir also einen Mann, der Teppiche klopft und einen Zwerg, der Gift mischt. Ist es nicht so?«

»Ja, ganz richtig!«

»Und dann einen Buben, der zwei Garnituren Kleider an hat – mitten in der größten Sommerhitze?«

»Ja, das stimmt!«

»Hm. – Hast du den Brief bei dir, von dem du da erzählt hast?«

»Nein, den hab ich im Krankenhaus liegen lassen!«

»Hm. – Ja, ja, ja! Also gehen wir einmal hinunter und schauen wir uns die zwei Buben im Auto an.«

Der Detektiv nahm seinen Hut und ging mit Tor hinaus.

»Nehmen Sie doch lieber einen Revolver mit!« flüsterte Tor.

Der Detektiv lächelte, aber sagte nichts.

Als sie auf die Straße hinauskamen, machte Tor große Augen.

Das Auto mit Henrik und Kaschmir war verschwunden.

»Das ist aber komisch!« stammelte Tor verlegen. »Er hat doch gesagt, er wartet, bis wir kommen!«

»Glaub ich schon. War es ein Taxi?«

»Nein, Taxameter hat es keinen gehabt!«

»Hm. Hast du dir die Nummer gemerkt?«

»Nein, das hab ich nicht.«

»Kann ich mir denken. Aber hier ist also kein Auto!«

»Vielleicht ist es in eine Seitengasse gefahren!«

Um ganz sicher zu gehen, untersuchte der Detektiv auch dies, aber wie sehr er auch suchte und wieviel er sich auch erkundigte und herumfragte, das Auto war und blieb verschwunden.

»Komm doch noch einmal einen Augenblick hinauf,« sagte der Detektiv.

Als sie wieder in der Wachstube angelangt waren, führte der Detektiv Tor in einen anstoßenden Raum und nachdem er die Türe sorgfältig verschlossen hatte, rief er das Krankenhaus an.

»Hallo, ja, hier Kriminalpolizei. Vermissen Sie nicht zufällig einen Patienten – einen Buben von fünfzehn, sechzehn Jahren?«

»Ja – heißt er Kaschmir?« kam es von der anderen Seite.

»Das wird schon stimmen. Aber er hat hohes Fieber und redet ganz irre! Wir werden schon dafür sorgen, daß er sich auf einem Sofa ausruhen kann, bis er abgeholt wird.«

»Ja, das ist recht, aber seien Sie nur etwas vorsichtig mit ihm, denn er ist ein bißchen wild. Es kommt sogar vor, daß er ganz einfach beißt!«

»Seien Sie ganz unbesorgt! Hier sind wir an allerlei gewöhnt!«

Tor stand am Fenster und blickte ängstlich auf die Straße hinunter. Wohin um Gotteswillen konnten die Jungen gekommen sein? Angenommen, sie hätten beschlossen, Klaus auf eigene Faust zu finden – das wäre ja eine Gemeinheit und nebenbei haarsträubend unvorsichtig. Sie mußten doch jedenfalls einen Boxer mit haben. Und Henrik mit seinem Bein, von dem Zigeunerbuben gar nicht zu reden, der nach dem Messerstich doch noch nicht ganz gesund war!

Der Detektiv kam in das Zimmer. Er klopfte Tor ganz gemütlich auf die Schulter und sagte, indem er auf ein Sofa wies:

»So, ich glaube, es ist das beste, du ruhst dich ein bißchen aus!«

Tor war ganz verwirrt:

»Ausruhen! Wieso? Wo es doch auf jede Minute ankommt! Außerdem bin ich ja gar nicht müde!«

»Ja, ja, hör' jetzt nur auf einen guten Rat! Leg dich ein bißchen dort auf das Sofa!«

»Um keinen Preis! Ich muß doch weg, die anderen finden!«

»Reg dich nur nicht so auf, mein Junge! In einer kleinen Weile kommen sie vom Krankenhaus und holen dich!«

»Mich?«

»Ja, ja, ja. – So, so! Es ist ja kein Spaß, solches Fieber zu haben – du armer Kerl.«

»Ich hab doch kein Fieber. Ich bin gesund wie ein Fisch im Wasser! Das kann ich Ihnen jederzeit beweisen – soll ich Ihnen etwas Englisches vorsagen? Once upon a time there was a king, who had a daughter, who was so beautiful –.«

Der Detektiv zog sich für alle Fälle zwei Schritte zurück. Also jetzt beißt er bald, dachte er.

Es läßt sich auch nicht leugnen, daß Tor schon ganz wild vor Wut war. Aber er begnügte sich damit, die Stirn zu runzeln und sehr energisch zu sagen:

»Ja, wenn Sie mir nicht helfen wollen, dann bleibt mir nichts andres übrig als zu gehen! Adieu!«

Der Detektiv stellte sich ihm in den Weg und sagte freundlich, aber bestimmt:

»Ein bißchen mußt du schon noch bleiben, lieber Freund. Wir können nicht die Verantwortung übernehmen, dich in dem Zustand, in dem du dich jetzt befindest, auf die Straße hinaus zu lassen. Das siehst du jetzt nicht ein, aber morgen, wenn das Fieber vorüber ist, wirst du uns noch dankbar sein!«

Damit zündete sich der Detektiv seine Pfeife an und setzte sich auf einen Stuhl neben der Türe.

Tor wußte weder aus noch ein. Er konnte ja nicht gut auf den Mann losgehen und ihn niederboxen, obgleich es ja im Handumdrehen geschehen wäre! Aber was half das? Draußen im Vorraum waren mindestens vier andere Detektivs, und unten im Vestibül sicher ein paar Dutzend Wachleute! Er wäre nie lebendig aus dem Kommissariat herausgekommen. Man sollte eben das Wahlrecht haben, wenn man fünfzehn Jahre alt ist; denn da ist man doch erwachsen – Jungens jedenfalls. Dann würde man ganz anders behandelt werden. Der Detektiv hatte also keine Silbe von all dem, was er ihm erzählt hatte, geglaubt. Allerdings war er ja ziemlich aufgeregt und verwirrt und außer Atem gewesen. Und das mit Kaschmirs doppelten Kleidern, das hätte er ja näher erklären müssen. Aber wer hatte Zeit dazu gehabt? Sa, eigentlich war er ein rechter Tollpatsch gewesen.

Jetzt war mindestens eine halbe Stunde vergangen. Oder noch mehr. Da klingelte plötzlich das Haustelephon.

Der Detektiv nahm den Hörer.

»Ja, ich bin es!«

Dann hörte er ein wenig zu und machte dabei ein so merkwürdig langes, komisches Gesicht.


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