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Zwanzigstes Kapitel.
Kaschmir macht eine Entdeckung

Kaschmir war in einem dichten Fliedergebüsch gelandet, aber im übrigen bei seinem Sprung ganz unversehrt geblieben. Ängstlich musterte er sein Hemd. Nein, nicht das kleinste Rißchen!

»Wer nur diese grausliche Bisgurn gewesen sein kann?« grübelte er. »Und wie diese feinen Nocken sich herausputzen! Sonnenschirm und Schuhe aus Handschuhleder! Die muß sicher die Tochter von dem sein, dem das ganze Krankenhaus gehört. Du Schlingel, hat sie geschrien, du willst durchbrennen! Ja, werd ich dir was sagen, du aufgezäumte Schabracken, der Kaschmir ist durchgebrannt, für Zeit und Ewigkeit.«

Er spähte durch das Fliederlaub. Nein, hier im Hause konnte es nicht sein. Er betastete seine Brust, ja, das Messer war da. – Wahrscheinlich im Nebenhaus! Das hatte er sich doch nie träumen lassen, daß er noch einmal zu so feinen Kleidern kommen würde, und wenn er vierhundert Jahre alt würde! Oder neunzig! Das Hemd war von reinster Seide – jeu, würde die Großmutter Augen machen! Jeu, jeu, jeu! Und heut Abend würde er sich so vollfressen – gebratenen Speck und Kaffee und Gomp Zigeunerausdruck für Brot. und Syrup und nachher eine ordentliche Pfeife – –.

Vorsichtig kroch er der Planke entlang. Die Fliedersträucher deckten ihn gut. Da, wo die Planke des Nachbarhauses begann, stand eine Kehrichtkiste. Auf die sprang er hinauf und guckte über die Planke. Ja, hier mußte es sein. Zwei schwere Teppiche hingen über einer Schnur. Und da war der Torweg. Er konnte durchsehen wie durch ein Schlüsselloch.

Plötzlich duckte er sich. Ein langer Kerl trat aus einer Türe mitten in die Einfahrt. Vorsichtig steckte Kaschmir den Kopf über die Planke und guckte mit dem einen Auge hin. Das war Christian Nelson mit der Narbe. Er trat rasch aus dem Tor und verschwand. Kaschmir ballte die Fäuste und murmelte einen Zigeunerfluch.

Dann blieb er mäuschenstill stehen, während er mit dem einen Auge über dem Plankenrand Christian Nelsons Fenster scharf im Auge behielt. Einmal sah er einen kleinen Schatten an einem Fenster vorbeigleiten.

Marinius, dachte Kaschmir und ballte wiederum die Fäuste.

Aber als er eben über die Planke klettern wollte, kam ein Bursch, der einen Karren zog, zum Tor hinein. Der Junge läutete bei Christian Nelson an. Und im nächsten Augenblick wurde er eingelassen. Kaschmir starrte so, daß es ihm vor den Augen zu schwirren begann. Jetzt sah er zwei Schatten, die sich langsam an den Fenstern vorbeibewegten, Schritt für Schritt, es sah aus, als trügen sie eine schwere Last.

Diebsbeute! dachte Kaschmir – gemeines Gesindel! – Ja, stehlen tun ja auch ordentliche Leute, ab und zu einmal, eine Henne, kleines Ferkel oder zwei, oder geschwind Kuh melken oder Sack mit Erdäpfel schnappen, oder Hemd, das grad zum Trocknen dahängt, und solche Dummheiten. Aber nur vom Stehlen leben! Nie Leimruten machen oder Quirl, oder Mausefalle, nie keinen Kessel flicken, nix wahrsagen, nicht kranke Menschen kurieren, immer nur Kameraden bestehlen und mit lauter so Gaunerkniffe anschmieren und übers Ohr haun – das tun nur diese mordsverflixte Lumpen, diese Graubeine!

Wurde da im Hause jemand begraben?

Vorsichtig hob Kaschmir den Kopf so weit, daß beide Augen über den Plankenrand kamen. Was er jetzt sah, dazu brauchte er wirklich beide Augen! Zuerst kam der Junge, rücklings, ganz steif in den Knieen, mit beiden Händen hielt er den einen Rand einer schweren Bauerntruhe fest. Kaschmir hatte zuerst geglaubt, es sei etwas anderes, aber jetzt sah er ja die ausgeschnittenen Herzen und die gemalten Rosen, und dann kam Marinius, diese greuliche Mißgeburt, ganz feuerrot im Gesicht, wenn man diese abscheuliche, schiefe, verzogene Fratze überhaupt ein Gesicht nennen konnte, mit beiden Krallen hielt er krampfhaft die Truhe fest, und sie war so schwer, daß sein Rücken noch runder gebogen war als gewöhnlich. Er sah aus wie eine Katze, die einen Buckel macht.

»Kistel muß aber bummvoll sein mit Gold!« dachte Kaschmir.

Mit einer letzten Kraftanstrengung luden Marinius und der Junge die Truhe auf den Karren, und dann rollten sie ihn zum Tor hinaus.

Kaschmir hatte einen anderen Plan gehabt. Aber mit dem mußte er jetzt warten. Jetzt, wo er das Glück gehabt hatte, den Geheimnissen der Graubeine auf die Spur zu kommen! Er mußte dem Karren nachschleichen, das war klar wie der Mond am Himmel. Wo wollte Marinius die Kiste hinschaffen?

Aber dieses feine Hemd und die verflixt feinen Hosen. Marinius war schlau wie eine Wildkatze und hatte Augen wie ein Habicht. Der würde das helle Hemd so deutlich sehen wie die Sonne am Himmel. Da hätte Kaschmir ja gleich hinter dem Karren herlaufen und brüllen können: Hier bin ich, Kaschmir Kaschmirson!

Mit zwei Sätzen war er über der Planke und mit drei weiteren Sätzen bei einem der Fenster von Christian Nelsons Behausung. Blitzschnell zog er das Krankenhausmesser, das er am Morgen eingesteckt hatte, und fünf Sekunden später fiel ein Stück der Scheibe klirrend zu Boden. Und dann ging das Ganze wie geschmiert. Kaschmir kroch durch das Fenster hinein und stand einen Augenblick darauf mitten in Christian Nelsons Zimmer.

»Hier riecht's nach Gift!« murmelte er schaudernd, als er den durchdringenden Naphtalingeruch atmete – »aber jetzt muß schnell wie Blitz gehen!«

Der Gegensatz zwischen dem scharfen Sonnenlicht draußen und der Dämmerung hier drinnen hatte zur Folge, daß Kaschmir anfangs nichts deutlich unterscheiden konnte. Dann fielen seine Augen auf ein paar Kleidungsstücke, die über einer Stuhllehne hingen. Eine Hose und eine Jacke. Blitzschnell schnappte er darnach und zog sie sich über seine feinen neuen Kleider an. Das Ganze war eins, zwei, drei erledigt.

Als er sich eben wieder zum Fenster hinausschleichen wollte, fiel sein Blick zufällig auf den Tisch. Da stand eine Branntweinflasche und zwei Gläser.

»Da hat sicher diese verteufelte Giftmischer, diese Marinius, wieder was angestellt!« dachte er und schnupperte an der Flasche, aber nur einen Augenblick, nur ein blitzschnelles Schnüffeln. Dann griff er sich an die Nase und drückte sie gut zu. Lieber vorsichtig sein, die Flasche konnte ja gestopft voll sein mit Fieberschauern und kaltem Schweiß und flüssiger Seuche! Das war ein gottverfluchtes Haus. Und in dieser Pestluft konnten diese Lumpen atmen. Die mußten ja Fleisch und Lungen haben wie der Dachs, dieses verfluchte Stinktier! Halloh, da lag ein Brief.

»Der ist sicher ganz bummvoll von Geheimnisse,« dachte Kaschmir und schnappte den Brief. »Werd ich schon wen treffen, der kann Geschriebenes lesen!«

Und damit schlich er sich zum Fenster hinaus und lief auf die Straße. Marinius und der Laufbursche hatten schon einen tüchtigen Vorsprung, aber das machte nichts, denn Kaschmir war ein Waldläufer und hatte Witterung wie ein Jagdhund.

»So Fratzen sehen mehr wie Erwachsene,« dachte er, »je kleiner, desto besser!«

Und so fragte er ein kleines Mädel:

»Hast du bucklige Zwerg gesehen mit Karren?«

Das Mädelchen machte ein erschrecktes Gesicht und deutete die Straße hinauf. Und Kaschmir mit ein paar Sprüngen davon, ohne weiter etwas zu fragen. Aber wo um alles in der Welt war der Karren hingekommen?

Zwei kleine Buben hockten im Rinnstein und spielten.

»Habt ihr Zwerg gesehen, mit Karren?«

»Ja, ja!« jubelten die kleinen Buben und wiesen in eine Seitengasse. Und Kaschmir sauste gleich wieder auf und davon. Die Wunde tat ein bißchen weh, doch darum kümmerte er sich nicht.

Aber nirgends war ein Karren zu sehen, und nirgends ein Marinius.

»Dieser Lump ist doch schlaueste Hund auf ganze Welt,« dachte Kaschmir und ballte die Fäuste, »ist ja wie in Erde versunken!«

Aber kaum hatte er dies gedacht, als er zusammenzuckte und unwillkürlich ein paar Schritte zurückwich, so daß er in einen Torweg kam.

Er hatte Marinius erblickt, der zwei Häuser weiter weg seinen Kopf einen Augenblick aus einem Fenster im zweiten Stockwerk steckte. Da hatten sie also ihr Nest. Und kaum hatte Marinius den Kopf zurückgezogen, als Kaschmir die Straße wieder hinunterrannte und im Vorbeilaufen einen Blick in die Einfahrt warf. Ganz richtig, da stand der Karren. Aber jetzt war er leer. Sie hatten also die Truhe in den zweiten Stock hinaufgetragen.

Kaschmir merkte sich das Haus genau, bog dann in eine Seitengasse ein und steuerte wieder Christian Nelsons Behausung zu.

Aber als er an einem Bäckerladen mit großen Spiegelscheiben vorbeikam, erblickte er sich selbst dort drinnen und blieb so plötzlich stehen, als ob seine Füße an den Gehsteig festgewachsen wären.

Er fühlte, daß er so blaß wurde wie ein Toter.

Einen Augenblick stand er mit geschlossenen Augen da. »Also wenn das wahr ist,« dachte er und erschauerte, »dann bin ich auch erledigt, wo ich doch an Flasche gerochen habe!«

Vorsichtig und ängstlich schlug er die Augen auf, warf einen raschen, verstohlenen Blick auf seine Jacke und fuhr heftig zusammen. Sein Rückgrat wurde zu einem Eiszapfen!

Es waren seine eigenen Kleider, die er an hatte! Der Riß von dem Hölkusstich war auf der rechten Brustseite. Und am linken Ärmel waren zwei Schäden, von damals, als Kalypso noch ein junges Hündchen war und ihn im Spiel gebissen hatte.

»Haben sie dem Henrik seinen Kameraden umgebracht!« murmelte er und lief weiter. »Und vielleicht habens ihn in diese Kiste weggeführt!«


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