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Dreizehntes Kapitel.
Das Geheimnis des Teppichklopfers

Der nächste Tag war ein Freudentag für Henrik. Der Doktor kam in aller Frühe, untersuchte das Bein und sagte:

»Na, jetzt kannst du so allmählich aufstehen, Henrik! Heute darfst du auf der Veranda sitzen oder ein bißchen im Garten herumhumpeln! Gratuliere!«

»Danke vielmals,« sagte Henrik und strahlte über das ganze Gesicht. Und keine zehn Minuten waren vergangen, als er bereits, auf den Arm der Krankenpflegerin gestützt auf den breiten, sonnebeschienenen Altan hinaushumpelte. Die ungewohnte Bewegung hatte allerdings zur Folge, daß das Bein mit frischen Kräften zu schmerzen begann, doch das spielte keine Rolle, denn es war wunderbar, sich wieder rühren zu können, frische Luft unter offenem Himmel einzuatmen und den Duft von Laub und Blumen zu spüren. Er setzte sich auf eine große Gartenbank an einen Tisch, auf dem ein paar Zeitungen, ein Schreibblock und einige Bleistifte lagen. Einen Augenblick später kam die Krankenpflegerin zurück und brachte ihm eine Krücke. Henrik rümpfte die Nase:

»Die soll ich nehmen?«

»Ja, nur ein paar Tage, bis du wieder ordentlich auftreten kannst!«

Na ja, da war nichts zu machen!

Außer ihm selbst befanden sich nur zwei andere Patienten auf dem Altan. In einem Schaukelstuhl, der unablässig hin und herging, saß ein Mann, dessen Alter unbestimmbar war. Das kam daher, daß sein ganzer Kopf von einer Bandage umwickelt war, so daß nur die Nase und das eine Auge herausguckte. Der Kopf sah aus wie ein riesiger weher Finger. Neben ihm saß eine uralte Frau, mit einem mächtigen Hörrohr. Die zwei unterhielten sich angelegentlich miteinander.

»Das ist aber heute ein wunderbares Sommerwetter!« schrie die Frau, so daß Henrik vom bloßen Luftdruck beinahe vom Sessel gefallen wäre.

»Mmmmmmm!« brummte der Mann in seine Bandage hinein.

»Wie sagen Sie? Es kommt Regen?« brüllte die Frau und ließ das Hörrohr hin- und herschwingen.

»Mmmmmmm!«

»Das ist aber doch schade, wo es jetzt so herrlich ist! Gewittern wird es, sagen Sie?«

»Mmmmmmm!«

»Und blitzen? Aber nein, aber nein, das meinen Sie doch nicht im Ernst!«

»Mmmmmmm!«

Henrik wendete sich ab, um die Aussicht zu betrachten. Aber zuerst zupfte er ein paar Wattebäuschchen aus seinem Verband und steckte sie sich in die Ohren. Eine solche Brülläffin!

Das Krankenhaus hatte einen schönen Garten mit vielen Blumen, Fliedersträuchern und einem kleinen, rieselnden Springbrunnen. Hinter den Ahornkronen sah Henrik viele Dächer. Und ein Stück weiter weg ein großes, graues, düsteres Gebäude mit vergitterten Fenstern. Es sah wie ein Gefängnis aus. Da saß wohl jetzt der Moppel, der Haderlump!

»Ist das Haus drüben das Gefängnis?« schrie er der Alten ins Hörrohr.

Die Antwort kam wie ein Donnerschlag:

»Ja, also das Schloß wird's nicht sein. Hi, hi, hi!«

Aber jetzt fing der unausstehliche Teppichklopfer wieder an! Bei dieser Hitze – daß er das aushielt! Eins, zwei, drei – eins, zwei – eins, zwei, drei! Die Wattebäuschchen dämpften das Geräusch, so daß es nur wie das Ticken einer Uhr klang. Oder wie ein Telegraphenapparat – –.

Henrik schnellte von seinem Sitz auf. Plötzlich war ihm ein Blitzlicht aufgegangen. Ja, so mußte es sein! Jetzt durchschaute er das Ganze! Du gütiger Gott, daß ihm das nicht schon früher eingefallen war!

Der Teppichklopfer Christian Nelson stand da und telegraphierte!

Bloß um den Staub aus den Teppichen zu klopfen, plagte sich der Anführer der Graubeine wohl nicht jeden Morgen.

Jetzt konnte kein Zweifel mehr sein, daß er einen anderen Zweck damit verfolgte.

Einer seiner Graubeine war doch von der Polizei hoppgenommen worden und saß drüben im Gefängnis.

Christian Nelson mit der Narbe stand da und signalisierte dem Moppel, der eingesperrt hinter den grauen Kerkermauern saß!

Aber er, der dort drinnen saß, konnte doch nicht antworten? Nein, natürlich, da mußte also eben das Geheimnis stecken!

Der Gefangene hatte nur auf diese Botschaften aufzupassen, die ihm durch das Teppichklopfen zugingen. Und für Christian Nelson war es gleichgültig, ob der Gefangene antworten konnte. Für ihn handelte es sich wahrscheinlich nur darum, dem Moppel einen Bescheid zu geben.

Aber worüber?

Henrik nahm den Block, der auf dem Tisch lag, und einen Bleistift und begann mit fieberhaftem Eifer die Klopfzeichen zu notieren. Hurra, das stimmte! Strich, Punkt, Strich, Strich – Strich – Strich, Punkt, Punkt, Strich – Strich, Punkt, Punkt, Strich – es war das Morsealphabet!

Das war doch ein Mordsglück, daß er bei den Pfadfindern das Morsealphabet ganz auswendig gelernt hatte!

Der Schweiß lief Henrik nur so in Strömen herunter, wie er da saß und schrieb. Er war so gespannt, daß er nicht still sitzen konnte. Hätte er nur das mit dem Bein nicht gehabt! Dann hätte er vor Freude getanzt, denn es war doch bombensicher, daß er hier einem Geheimnis auf die Spur gekommen war.

Hier in diesem langweiligen Krankenhaus!

Plötzlich hörte das Klopfen auf. Henrik, der selbstverständlich sofort die Watte aus den Ohren genommen hatte – die stocktaube Frau hatte übrigens glücklicherweise einen Spaziergang in den Garten gemacht – lauschte gespannt. Ein paar Minuten vergingen, dann begann das Klopfen von neuem. Und Henrik notierte gleich weiter. Nach Verlauf von einigen Minuten hörte der Teppichklopfer wieder auf, und diesmal endgültig.

Mit zitternden Händen begann Henrik das Morsetelegramm in Buchstaben zu übersetzen. Die Morsesignale sahen so aus:

Morsezeichen

Dann folgte eine Pause von ein paar Minuten. Und dann kam das Signal wieder:

Morsezeichen

Aber je weiter Henrik übersetzte, desto länger wurde sein Gesicht. Das war ja der reine Blödsinn! Als er die Botschaft endlich fertig geschrieben hatte, sah sie so aus: ytxxsi, ytxxsi – – ytxxsi, ytxxsi, sd, eom, onw, wytu, uno, ot, atuksi, teü?ety, eomkq, eoaso, atenkkt, kmd.

Henrik versuchte es von rückwärts zu lesen, aber das Ganze blieb ebenso unverständlich. Außerdem war bei dem Wort teü?ety noch der Haken, daß es nicht ganz korrekt signalisiert war. Das Morsezeichen für ü ist ja zwei Punkte, Strich, Punkt, aber der Teppichklopfer hatte nur zwei Punkte und zwei Striche gemacht. Immerhin war ü die wahrscheinlichste Lösung. Vorläufig konnte er jedenfalls nichts anderes annehmen, als daß hier ein kleiner Klopffehler vorlag. Aber Henrik gab sich nicht so rasch zufrieden. Er las die Botschaft sorgfältig noch einmal von vorne durch, Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe. Und es dauerte nicht lange, so hatte er eine sehr wichtige Entdeckung gemacht. Das erste Wort war viermal wiederholt, ytxxsi, ytxxsi, ytxxsi, ytxxsi! Ganz gleich, ohne die allergeringste Abweichung. Das war doch Beweis genug, daß es wirklich eine Botschaft sein mußte, nicht nur eine so rein zufällige Teppichklopferei. Bei dieser Entdeckung bekam Henrik ganz heiße Ohren. In diesem Wort, das viermal wiederholt war, lag sicher der Schlüssel zu der geheimnisvollen Chiffresprache. Das mußte das Erkennungssignal sein! Er legte das Wort vor sich hin und durchbohrte es mit den Blicken. Kraute sich dann hinter dem Ohr und starrte wieder darauf. Es waren sechs Buchstaben. Und die zwei Buchstaben in der Mitte waren gleich, also vermutlich ein Doppelkonsonant. Konnte es »kommen« bedeuten? Das sind ja sechs Buchstaben mit einem Doppelkonsonanten in der Mitte. Aber wer sollte kommen – Christian Nelson oder der Moppel? Nein, so konnte es nicht sein, wenn Christian Nelson kommen wollte, so brauchte er ja nicht erst diese ganze Komödie mit dem Teppichklopfen in Szene zu setzen!

Und der Moppel, der eingesperrt saß, brauchte wohl keinen Wink, um zu kommen, wenn er nur gekonnt hätte! Es mußte also ein anderes Wort sein. – Aber Moppel! Hurra, das stimmte! Sechs Buchstaben und ein Doppelkonsonant! Moppel, Moppel, Moppel, Moppel! – das ist klar, Christian Nelson mußte ihn doch erst darauf vorbereiten, daß er jetzt mit einer wichtigen Meldung kam! Zuerst Moppel, Moppel, um ihn zum Zuhören zu veranlassen – und dann wiederum zweimal, um zu sagen, also jetzt fange ich aber im Ernst an!

Dieser Christian Nelson war ja wirklich ein Verbrechergenie! So eine verrückte, aber dabei zugleich so kühne und großartige Idee! Kaschmir hatte ja gesagt, daß dieser Christian Nelson mit der Narbe, der Doppel-Nelson, der schlaueste, pfiffigste Buro auf der ganzen Welt sei. Das war tatsächlich so kolossal schneidig und frech ausgedacht, daß man bis nach Amerika fahren mußte, um etwas Ähnliches zu finden! In jedem zweiten Hof werden doch das liebe lange Jahr Teppiche geklopft und keine Menschenseele achtet darauf, als vielleicht ein paar grantige alte Leute, die sich in ihrem Mittagschläfchen gestört fühlen, ja und dann eben Henrik! Aber bei ihm kam das ja nur daher, daß er mit einem gebrochenen Bein dagelegen war und das Teppichklopfen in der schmerzenden Stelle ein Echo gegeben hatte. Hätte er sich nicht das Bein gebrochen und wäre er nicht hierher ins Krankenhaus gekommen, so würde wohl keine Menschenseele einen Verdacht gegen Christian Nelson gehegt haben. Denn er betrieb ja ein ordentliches Gewerbe als Teppichreiniger, mit Firmentafel und vollem Namen und allem was dazu gehört, ja vielleicht hatte er sogar Telephon und annoncierte in den Zeitungen! Am Ende trieb er das schon jahrelang, denn eine so große und gefährliche Verbrecherbande wie die Graubeine hatte doch sicherlich immer den einen oder anderen von ihren Leuten hinter Gefängnismauern! Aber jetzt sollte die Bande entlarvt werden, so wahr er Henrik Kragstein hieß!

Henrik ballte energisch die Fäuste, und ein seltsames Gefühl durchrieselte ihn. Dies war der stolzeste Augenblick in seinem Leben! Kam er damit zustande, wurde er vielleicht berühmt. Denn das war ja doch sonnenklar, daß dieser Christian Nelson sich nicht hinstellte, um solches dummes Zeug vom Sommerwetter und Donner und Blitz zu klopfen wie die alte stocktaube Frau, sondern daß es sich da um furchtbar gefährliche Dinge handelte!

Aber um dieses geheimnisvolle Rätsel zu lösen, mußte er Unterstützung haben, ein hinkender Detektiv mit einer Bandage um das Bein, das ist nicht das Richtige.

Es war noch nicht ganz acht Uhr, eine Viertelstunde fehlte. Wenn er jetzt zu Klaus und Tor hinaustelephonierte, konnten sie noch ganz gut das Neunuhr-Schiff in die Stadt erreichen.

Er nahm seine Krücke und hinkte in das Vestibül, wo das Telephon sich befand. Es ging ganz glatt. Nach ein paar Minuten war Hilde am Apparat.

»Oh Gott, oh Gott, wie du mich erschreckt hast! Fernverbindung in aller Gottes Frühe!«

»Ja, es ist sehr eilig. Ist Klaus schon auf?«

»Aber ja! Er und sein Freund sind natürlich schon wieder bei ihrer abscheulichen Boxerei! In diesem Haus hat man ja überhaupt keinen Frieden mehr!«

»Sag ihnen, sie sollen augenblicklich kommen!«

Nach ein paar Sekunden war Klaus am Telephon.

»Morgen! Hast du jetzt Telephon beim Bett?«

»Bin aufgestanden! Kommt mit dem Neunuhr-Schiff in die Stadt, alle beide, es kommt auf jede Minute an!«

»Aber Menschenskind, heute ist doch mein Geburtstag!«

»Gratuliere, das hatte ich vergessen! Aber kommen mußt du doch!«

»Laß los, Hilde, sag ich dir – nein – jetzt red ich – zum Kuckuck noch einmal!«

Plötzlich war Hilde am Apparat:

»Das ist ja unerhört, Henrik, so etwas, den Klaus an seinem Geburtstag in die Stadt zu zitieren – wir haben doch um zwölf Uhr ein Schokoladefest – und am Abend ein Feuerwerk – nein – jetzt red ich, laß los, sag ich dir, du ungezogener Lausbub – laß los –!«

Jetzt war Klaus wieder am Telephon.

»Handelt es sich um den Mord?«

Henrik hörte ein halb ersticktes Aufkreischen neben dem Telephon: Mord!

»Ja, und um vieles andere!«

»Schön. Gerade fährt der Vater mit dem Auto vor. Wir steigen zu ihm ein. Wiedersehen!«

Hurra, das ging ja wie geschmiert! In einer halben Stunde mußten die Genossen da sein!

Henrik hinkte in sein Zimmer, um zu frühstücken. Er hatte vom Telephon aus gesehen, wie die Schwester das Frühstück hineintrug.

Kaschmir war schon in voller Tätigkeit, er schien heute einen gesegneten Appetit zu entwickeln. Er nickte Henrik zu, aber sagte nichts. Er hatte eben viel zu denken, der arme Kerl.

Aber das fügte sich ganz gut, denn Henrik hatte noch mehr zu denken. Über sein Geheimnis nachgrübelnd, stürzte er sich mit wahrem Heißhunger auf sein Frühstück. Aber wo war denn das Messer? Er klingelte, und die Schwester kam herein.

»Ach, entschuldigen Sie,« sagte Henrik, »aber wollen Sie nicht so liebenswürdig sein, mir ein Messer zu bringen?«

Die Krankenpflegerin sah ihn erstaunt an.

»Aber hast du denn kein Messer? Ich weiß doch bestimmt, daß ich zwei hereingebracht habe. Vielleicht hat Kaschmir alle beide?«

»Gar nix hab ich,« antwortete Kaschmir verdrossen, »ist doch nur eine Messer hier!«

Die Schwester suchte oben und unten, aber kein Messer war zu finden.

»Ich muß es doch vergessen haben,« sagte die Schwester. Und dann brachte sie ein neues.

Also, dachte Henrik, jetzt weiß ich folgendes – –.

»Ihr habt wohl noch gar nicht die große Neuigkeit gehört, Kinder?« sagte die Schwester, sie war in der Tür stehen geblieben, bis die Jungens ihren Kaffee getrunken hatten, »es steht in den Morgenblättern. Sie haben den Schwarzenseemörder!«

Henrik fuhr zusammen:

»Was sagen Sie, Schwester,« japste er.

»Ja, ein großes Polizeiaufgebot hat ihn gestern Abend dort oben an einer Stelle, die die Teufelsscharte heißt, festgenommen. Und denkt nur, dieses grausliche Untier hört noch dazu auf den schrecklichen Namen ›der Panther‹!«

Mit einem Krach fiel Kaschmirs Frühstückstablett zu Boden.


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