Jean Paul
Levana oder Erziehlehre
Jean Paul

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Zweites Kapitel

Klassische Bildung

§ 149

Der Kürze wegen fang' ich dieses Kapitel mit der Bitte an, vor demselben in der unsichtbaren Loge I. S. 190 etc. das Extrablatt: »warum ich meinem Gustav Witz und verdorbene Autores zulasse und klassische verbiete, ich meine griechische und römische« – zu lesen, damit man mir sowohl das Abschreiben und Nachdrucken als auch den bösen Versuch erspare, denselben Gedanken oder Geist in einem zweiten Leibe zu verschicken. Noch ist mir über jenen Aufsatz keine Widerlegung vorgekommen und folglich der Zweifel geblieben, ob er einer ganz unwürdig gewesen, oder nur unfähig; zumal da ich selber in einem Zeitraum von 20 Jahren (so lange ist er abgedruckt) nicht vermochte, mich zu widerlegen.

Noch folgendes könnte etwan einer zweiten oder dritten Auflage zu- und eingeschoben werden.

Sind wohl, frag' ich, aus der lateinischen Stadt – welche Maupertuis anzulegen angeraten, die aber längst schon dagewesen mit ihrem quai Gronovius, quai Manutius, quai Scioppius etc. – jene Männer gekommen, die uns mit Wielands Erklärung der Horazischen Sermonen, mit Vossens Übersetzungen des Homer, mit Schleiermachers einleitenden Übersetzungen von Platons Gesprächen beschenkt haben? Nur Männer von Sinn, von Kraft, von Ausbildung durch höhere und mehre Studien als Sprach-Studien, nur Sonntagkinder wie Goethe, Herder haben den Geist des Altertums gesehen; die Montagkinder erblickten dafür den Sprachschatz und die Blumenlesen. Ist es aber denn nicht Unsinn, es nur für möglich zu halten, daß ein Überknabe von vierzehn, sechzehn Jahren, sogar bei großen Kräften – da diese selber das Genie erst lange nach der jugendlichen Tobsucht auf die reinen alten Höhen führen –, den Einklang von Poesie und Tiefsinn in einem platonischen Gespräche oder die weltmännische Persiflage eines Horazischen Sermons ergreifen werde? Warum muten die Lehrer etwas zu, was sie selber so selten vermögen? Ich bitte jene, teils an die Kälte zu denken, womit sie und die welschen Humanisten selber auf die Entrollung der achthundert Handschriften im Herkulanum warten – teils an den Stumpfsinn, womit sie das Neu-Griechische, z. B. die Elegien an der Antike zu Weimar, an Goethe, verfehlen und nachher rezensieren – teils an die unzähligen Fehlgriffe, womit sie manchem Flach-Werk oder mancher eingetieften Arbeit, bloß einiger deutscher Langweile, einiger französischer Form wegenZ. B. manchem Wielandischen, worin oft nichts griechisch ist als die Bühne und der Monatname., so viel Lob griechischer Ähnlichkeit zuteilen, als sie reinern, aber kräftigern Werken, z. B. Herders, absprechen. – Und tut nicht die Vorliebe, welche die reifere Universitätjugend für neueres Schwanz- und Haargestirn und Sternschneuzen hat, am besten dar, was es eigentlich mit dem alten Sternendienste der Gymnasiumjugend gewesen sei? – Und kann, wäre auch alles Übrige anders, die zarte unauflösliche Schönheitgestalt genossen werden, wenn das grammatische Zerteilen sie, gleich der mediceischen Venus, in dreizehn Bruchstücke und dreißig Trümmer zerbröckelt? Was hier die Jünglinge etwa noch mit dem Genuß des Ganzen und der Blumengöttin erfreuet vermengen, ist der Genuß einer Nebenblume auf der Sandwüste der Sprachübung; und ihr gemeiner Lehrer verwechselt wieder mit der Blumengöttin gar sein Sandbad. Diese Verkehrung macht eben, daß das Studium der Alten, die bei der Knaben-Toilette ein Phrasen-Schmuckkästchen liefern müssen, dem Italiener seine Concettis, dem Briten seinen Beiwörter-Wulst und dem Deutschen jeden Geschmack, den er erfindet, lässet. Und so wird die neue Zeit, wie von Cäsar Pompejus' Ritter, besiegt durch Verwundung der Schönheit.

§ 150

Gleichwohl bleib' uns das Altertum der Venus- und Morgenstern, der über dem Abend des Nordens steht. – Nur kommt es auf unsere Stellung gegen den Schönheitstern an, ob er uns mit vollem oder Viertel-Lichte treffen soll. Etwas anderes ist Sprache der Alten – etwas zweites der Geist ihrer Geschichte oder Materie – etwas drittes der Geist ihrer Form oder Poesie. Voß scheint in seiner neuerlichen Empfehlung des Rats der alten Alten mit mehr Schärfe des Gemüts als des Gesichts diese drei Einheiten wechselnd vermischt und wechselnd vereinzelt vorgezeigt zu haben, um täuschend zu siegen.

Das Einlernen der alten Sprachen und ihrer Klangschönheiten hat keine Übereilzeit zu befürchten; aber warum entheiligt man diese kanonischen Schriften des Geistes zu Buchstabier- und Lesebüchern? Begreift man denn nicht, daß kein Geist, am wenigsten der kindische, zugleich nach so entgegengesetzten Richtungen, als Sprache und Stoff oder gar Dichter-Stoff begehren, sich wenden könne? – Sogar Esmarchs mit einem Sachlexikon vollgestopfter Speccius kann nur leere vereinzelte Nachsprecherei nachlassen; und nur nachteilige Aufhebung der künftig so nötigen Reize der Neuheit. – Vorübergehend ließe sich gegen dieses Buch noch anmerken, daß die langen geschichtlichen und erdbeschreibenden Ausland-Wörter dem Knaben die eigentliche grammatische Ansicht erschweren. Überhaupt soll nie eine Tatsache zur Folie einer Wortsetzung niedersinken, zumal da das Erinnern alles Einzelne, Unverbundene als unverdaut ausstößt. Wiegt hingegen die Tatsache vor, so sinkt Wort oder Name unter; daher ich oft bemerkte, daß Knaben oder Hörlinge gerade desto schwerer die Heldennamen alter griechisch-römischen Geschichte behielten, je feuriger und erfassender diese ihnen in die Seele gespiegelt wurde. So setzt in Romanen der Reiz der Darstellung und des Helden zuweilen junge Damen instand, sie auszulesen, ohne des Helden oder der Heldin Namen zu wissen, der auf jedem Blatte steht; und über beider Leben sie so zu vergessen, wie etwan (nach Lessing) die Griechen Schauspiele nach Personen benannten, die gar nicht darin vorkamen.

Welche römische und griechische Werke taugen denn aber zu Sprachemeistern? – Nur teils nachgeahmte, die man erst macht oder machen kann, wie Gedikes Lesebuch, um einst keinen taubstummen Geist, sondern einen mit Ohr und Zunge ausgestatteten vor die Göttersprüche der Alten zu führen – teils alte selber, die mehr dem Zeit- und Jugend-Sinne zusagen, z. B. der jüngere Plinius (als vor-gallischer Briefschreiber), sogar der ältere Plinius (wenigstens er mehr als der gift-, welt- und lebenreiche Tacitus) – so Lukan, Seneka, Ovid, Martial, Quinctilian, Ciceros Jugend-Reden u. s. w. Bloß im Griechischen dürfte etwa die romantische Odyssee, ihres Gewichtes ungeachtet, so frühzeitig einfliegen, dann aber Plutarch, Älian, sogar der Philosophen-Plutarch Diogenes Laertius. Die eisernen, erzenen Zeitalter sollten, ihren Metallen ähnlich, sogleich auf der Fläche liegen, und die edlern Metalle sich später emporheben. Kurz, damit Kraft anlange, so werde das griechische Gesetz gehalten, welches Athleten verbot, Schönheiten anzuschauen.

Die Festungwerke um die Stadt Gottes sind von den Alten angelegt für jedes Zeitalter, durch die Geschichte des ihrigen. Die jetzige Menschheit versänke unergründlich tief, wenn nicht die Jugend vorher durch den stillen Tempel der großen alten Zeiten und Menschen den Durchgang zum Jahrmarkts des spätern Lebens nähme. Die Namen Sokrates, Kato, Epaminondas etc. sind Pyramiden der Willen-Kraft; Rom, Athen, Sparta sind drei Krönungstädte des Riesen Geryons, und auf die Jugend der Menschheit hefte, gleichsam auf das Urgebirge der Menschheit, die spätere das Auge. Die Alten nicht kennen, heißt eine Ephemere sein, welche die Sonne nicht aufgehen sieht, nur untergehn. Nur werde dieser Antikentempel nicht als eine Trödelbude abgebrauchter Gebräuche und Phrasen gelüftet und die heiligen Reliquien, anstatt angebetet, nur verarbeitet, wie die Kriegerknochen im Beinhaus zu Murten zu Messerheften und dergleichen geglättet werden. Die Geschichte der Alten kann nur der Mann aus ihnen selber schöpfen; aus diesem Manne aber schöpfe wieder der Knabe; und nur ein Alter ist auszunehmen, Plutarch, aus dessen Hand die Jugend selber den Begeisterung-Palmenwein der hohen Vergangenheit empfange. Aber die Schulherrn opfern einem reinen Griechisch gern alt-geschichtliche Seelen-Reinigung. So wird der köstliche verlorne und blumenketten-arme und schlußkettenreiche und Und-reiche Demosthenes dem blumigen klingenden Cicero geopfert.

Erst dann wäre Bildung und Alter genug gewonnen, um auf – Akademien mit leichtern Klassikern, z. B. Cicero, Virgil, Livius, Herodot, Anakreon, Tyrtäus, Euripides, anzufangen und endlich zu den schweren und schwersten aufzuschreiten, zu Horaz, Cäsar, Lukrez, Sophokles, Platon, Aristophanes. Hier wird natürlicherweise die häßliche Rang-Unordnung verachtet, nach welcher Rektores die Schwierigkeit des Verstehens mehr in Phrasen als in den höhern Geist verlegen; so daß gleichergestalt in einem französischen Gymnasium z. B. Goethe von Tertianern, Schiller von Sekundanern, Haller von Primanern getrieben würde, und ich von niemand. Ich nenne einen leichten Klassiker den Virgil, einen schweren den Cäsar; leicht Horazens Oden; schwer Horazens Satiren; Klopstock öfter leicht als Goethe – weil Sprachschwierigkeiten durch Fleiß und Lehre zu besiegen sind, aber Fassungschwierigkeiten nur durch geistiges Reifen an den Jahren.

Fragt man, woher aber Zeit erübrigen für die sogenannten Sachkenntnisse und Brotstudien, da mit den Jahrhunderten der Stoff anschwelle und es hier wie mit Heeren sei, wo die im Hintertreffen und Nachtrabe gerade am schnellsten zu marschieren haben, so antwort' ich ruhig: gebt der Naturlehre und Naturgeschichte, der Stern-, der Meßkunde u. s. w. und ganzen großen Stücken der Brotstudien nur Hör- und Lehrstellen in den Gymnasien – folglich den Knaben zehnmal mehr Freude, als sie an der Aufwicklung der verschleiernden Mumienbinden der antiken Grazien haben – und mithin der künftigen Abteilung in Musen- und in Arbeit-Söhne gemeinsame Nahrung: – dann bleiben die hohen Schulen den hohen Lehrern schon übrig, den Alten.


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