Jean Paul
Levana oder Erziehlehre
Jean Paul

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§ 10

Lassen Sie uns zurückkommen; und wenn wir leicht gefragt haben, ob der Mensch durch tausend äußere fremde Worte glücklicher zu bekehren sei als durch Billionen innere eigne, uns gar nicht sehr verwundern, daß der Wortstrom, den man der Jugend mitgibt ins Weltmeer, damit er sie darin trage und lenke, vor den allseitigen Wogen und Winden zerlaufe. Sondern lassen Sie uns bemerken, daß man auf Rechnung der Schulstuben, d. h. der Worte, so manche Sachen schreibt, welche bloß auf dem organisierenden Gemeinboden der Taten sich erhalten, sowie man sonst allgemeine Pestvergiftungen zu zufälligen Brunnenvergiftungen der Juden machen wollte. Das Schulgebäude der jungen Seele besteht nicht aus bloßen Hör- und Lehrzimmern, sondern auch aus dem Schulhof, der Schlafkammer, der Gesindestube, dem Spielplatze, der Treppe und aus jedem Platze. Himmel! welche Verwechslungen anderer Einflüsse immer zum Vorteil und Vorurteil der Erziehung! Der körperliche Wachstum des Zöglings nährt und treibt einen geistigen hervor! Dennoch wird dieser dem pädagogischen Lohbeete zugeschrieben, gleich als ob man nicht klüger und länger zugleich werden müßte! Ebenso richtig könnte man den Laufbändern das Verdienst der Muskelbänder anrechnen. – Eltern halten so oft bei eigenen Kindern für Wirkung der Geistespflege und Anlage, was sie bei fremden nur für Folgen menschlicher Entfaltung nehmen würden. Der Täuschungen sind noch so viele! War ein großer Mann durch eine Erziehanstalt gegangen, so wird er immer daraus erklärt; entweder wurde er ihr ungleichartig, so wird sie als bildender Gegenreiz angerechnet; oder wurde ers nicht, so gilt sie als Lebenreiz. So könnte man freilich die blaue Bibliothek, deren Umschlag den Bibliothekar Duval die ersten Rechenexempel lehrte, für ein Rechenbuch und eine Rechenschule nehmen. Wenn Eltern – oder der Mensch überhaupt – doch mit aller Erziehung nichts suchen können, als ihr körperliches Ebenbild immer schöner zu ihrem geistigen zu machen und folglich dieses Abbild mit dem verschossenen Glanze des Urbilds zu überfirnissen: so müssen sie ja äußerst leicht in den Irrtum fallen, die angeborne Ähnlichkeit für eine anerzogne zu halten und körperliche Väter für geistige, Natur für Freiheit. Es gilt aber für Kinder in dieser und voriger Rücksicht, was für Völker gilt: man fand in der neuen Welt zehn Gebräuche der alten wieder – sechs sinesische in Peru, vier hottentottische im westlichen AfrikaZimmermanns Geschichte der Menschheit. B. 3. –, ohne daß gleichwohl irgendeine nähere andere Abstammung diese Ähnlichkeiten vermittelte als die allgemeine von Adam oder der Menschheit.

§ 11

Wird dürfen uns, treffliche Mitarbeiter, überhaupt mit Verdiensten um die Menschheit schmeicheln, sobald der Satz wahr ist, daß wir wenig oder nichts durch Erziehen wirken. Wie in der mechanischen Welt jede Bewegung, sobald der Widerstand der Reibung fehlte, sich unaufhörlich fortpflanzte und jede Veränderung eine ewige wäre: so würde in der geistigen, sobald der Zögling weniger tapfer dem Erzieher widerstände und obsiegte, ein so abgeschabtes Leben sich ewig wiederkäuen, als wir noch gar nicht kennen. Ich meine dies: sollten einmal alle Gassen und Zeiten des armen Erdbodens mit matten steifen Ebenbildern aus pädagogischen Fürsten- und Schwabenspiegeln angefüllt werden, nämlich mit Konterfeien von Schulleuten, so daß folglich jede Zeit von der andern Männchen auf MännchenSo nennt man an einer zweiten Auflage den gleichen Abdruck von der ersten; welcher freilich, wie schon dieser Nachsatz beweiset, bei dieser zweiten nicht so ist. abgedruckt würde: was braucht' es dazu, zu diesem langweiligen Jammer, anders weiter, als daß die Erziehung über Erwarten gelänge und ein Hof- und Schulmeister seinen Kopf wie einen gefürsteten könnte abgeprägt umlaufen lassen in allen Händen und Ecken? – Und daß eine ganze Ritterbank zu einer Sitzung von turnierfähigen Kandidaten würde, weil sie vorher von stillen bürgerlichen wäre rein und gut nachgeformt worden? –

Aber wir dürfen das Gegenteil hoffen; noch immer verhält sich der Schulmann und Hofmeister später zum Edelmann wie Gott zur Natur, von welchem Seneka richtig schreibt: semel jussit, semper paret; d. h. die Hofmeisterstube wird sehr bald gesperrt, und das Vorzimmer und der Audienzsaal aufgetan.

Um nicht in den Fehler derer zu fallen, welche den Vogel Phönix und den Mann im Monde unbeweibt vorführen, gedenk' ich hier auch der Mädchen, denen, wie den Tauben und Kanarienvögeln, fremde Farben, welche der erste Regen- und Mausermonat ausstreicht, angemalet werden sowohl von Hofweibern als von Hofmeistern. Aber, wie gesagt, später wird jede Frau etwas Besonderes, ein schönes Idiotikon ihrer vielen Sprachprovinzen.

§ 12

Durch langes Belehren, dem kein Schritt des Schülers abgemessen genug ist, können Schulleute von Verstand auf die Frage kommen: »Wie will der arme Scholar einmal ohne unser Lenken rechtgehen, da er schon bei demselben irreläuft?« – und auf den Wunsch: »Gott, könnten wir ihn doch wie eine astronomische Jahrhundertuhr genau so aufstellen und aufziehen, daß er seine Stunden und Planetenstellungen und alles richtig zeigte lange nach unserem Absterben!« – und folglich auf die Meinung: »sie wären eigentlich die Seele seines innern Menschen und hätten jedes Gliedmaß aufzuheben, oder doch seine Bänderlehre, indem er nicht bloß den zerbrochenen Arm im leichten Bande tragen sollte, sondern auch die Schenkel, den Kopf, das Gedärm, um ganz befestigst zu bleiben.« Begleitet aber der Schulherr seinen jungen Herrn auf Universitäten: so geht dieser schon ohne jenen in manche gute Gesellschaft; – und ziehen beide vollends auf Reisen: so geht der junge Herr in manche verdächtige, und der Schulherr beendigt seine Furcht. Sie ist der ähnlich, die eine Mutter darüber hätte, wie wohl der kahle nackte Fötus, wenn er in die kaltwehende Welt kommt und mit nichts mehr von ihrem Blute ernähret wird, sich doch fortfriste.

Freilich pfeift euch euer Singvogel von Zögling noch in der Nacht fort, weil ihr ihm durch ein Nachtlicht, d. h. durch eine Ausbildung außerhalb der Zeit, künstliches Taglicht weismacht; aber fliegt er einmal ins Freie, so wird er seine Töne bloß nach dem allgemeinen Tage richten und stimmen.

Stellt man sich noch auf eine andere Anhöhe zur Ansicht des lehrenden Treibens, Fürchtens und Foderns: so kann man sich beinahe versucht fühlen, sie von da herab anzufahren, besonders darüber, daß sie, die Erzieher, sich viel anmaßen und zutrauen – nämlich daß sie den weiten Weltplan nicht ihrem Schulplan, den All-Erzieher nicht dem tiefen Winkelschulmeister, dem Menschen, voraus- und voransetzen, sondern daß sie dem unendlichen Pädagogiarchen (Erzieherfürsten), welcher Sonne um Sonne und Kind um Vater ziehen läßt und also Kindes- und Vaters-Vater zugleich ist, so ängstlich mit ihren kleinen Ansichten nachhelfen wollen, als wäre ihnen Winkelschöpfern eine seit Jahrtausenden vernachlässigte Menschheit nur als warmer Lack vorgelegt, in welchem sie ihre individuellen Verhärtungen zu spätern Verhärtungen einzudrücken hätten, um als Wiederschöpfer den Schöpfer mit einem lebendigen Siegel- und Pasten-Kabinett ihrer Wappen und Köpfe gelegentlich zu überraschen. – – – Ein langer Periode, aber eben wider eine lange Periode!

§ 13

Niemand von allen meinen Zuhörern – worunter ich der nächste bin – kann vergessen haben, daß ich anfangs gefragt, warum man gleichwohl jetzo in Deutschland so viel über die Erziehung schreibe und auf sie baue, wie ich denn selber dem Publikum einige Ideen darüber gedruckt vorzulegen gedenke. Ich antworte: darum, weil durch die Kultur der ganze Mensch jetzo Sprachwerkzeug geworden und das Fleisch wieder Wort. Je mehr Ausbildung, desto mehr Begriffe; je weniger Tat, desto mehr Sprache; der Mensch wird, wie man sonst Maulchristen hatte, ein Maulmensch; und das Ohr sein sensorium commune. Vor dem Großstädter gehe z. B. der Bettler vorbei: nicht bloß zur Sache, sondern aus ihr zum Worte ist jenem dieser verflüchtigt, so wie Schlachten, Pest u. s. w. nur als leichte Töne vorüberfliegen. Die Poesie ist daher als Gegengewicht der Kultur so wirksam, indem sie wieder ein künstliches Leben um die dünnen Schatten zieht und auf der Walstatt der sinnlichen Anschauungen ihre verklärten aufrichtet.

Da aber der Deutsche keine Zeit so gern erlebt als Bedenkzeit – zu seinem größten Schritt, den er tat, nämlich ins Leben, nahm er sich gar eine Bedenkewigkeit –: so gibt er dem festen langsamen Schreiben den Preis vor dem leichten her- und wegrauschenden Sprechen; ungleich dem Süden ist er weniger ein redseliges als ein schreibseliges Volk, wie seine Registraturen und Bücherschränke ansagen. Ein Wort ein Mann, heißt jetzo: Schwarz auf Weiß ein Mann. Schrift und Sache, oder Kleid und Leib sind nur so voneinander verschieden wie Schuh und Fuß, welche als Längenmesser bei uns einerlei bedeuten. Es kommt auf ein Strichlein an, ob Christus Gott sein soll oder nicht, nämlich in der bekannten Stelle I. Tim. 3, 16. im alexandrinischen Kodex, wo ein Strichlein der Kehrseite OC in ΘC (Θεος) verwandelt; und auf ein Oder in der KarolinaArt. 159., ob ein Mensch gehangen werden soll oder nicht.

Wenn nun aber der innere Mensch der Ausgebildeten, wie einige Zeichnungen, bloß aus Buchstaben und Worten zusammengesetzt ist: so kann gar nicht genug von Erziehen und in demselben gesprochen werden, da das Bewußtsein, das innere Leben in Begriffe, folglich in Worte aufgelöst zu haben, die Gewißheit zusichert, es durch die aufgelösten Bestandteile wieder mitteilen zu können, d. h. durch Worte; kurz, zu erziehen durch Sprechen, mit Feder und Zunge. »Zeichnet,« sagte Donatello zu den Bildhauern, »so vermögt ihr den Rest.« - »Sprecht,« sagt man zu den Erziehern, »so lehrt ihr gestalten.«

Da sich jedes Leben durch nichts fortpflanzt als durch sich selber, z. B. nur Taten durch Taten, Worte durch Worte, Erziehen durch Erziehen. so wollen wir, vortreffliche Mitarbeiter, uns durch die Hoffnung ermuntern und befestigen, daß auch unser Erziehen uns durch die Veredlung der Zöglinge in Erzieher geistig belohne, welche hernach weitersprechen mit andern, und daß unser Johanneum-Paulinum zu einer Erziehanstalt mehrer Erziehanstalten gedeihe, indem wir aus unserer Schulpforte Hauslehrer, Schulhalter, Katecheten gereift ausschicken, damit sie ihresgleichen in guten Schulgebäuden zeugen, nicht Cyrusse, sondern Cyropädien und Cyropädagogiarchen.

§ 14

Ich wende mich noch an die verehrtesten Väter der Stadt, unsere Nutritoren und Scholarchate, nicht nur mit Dank, auch mit Bitten. Es bleibt nämlich den unreellsten Menschen und Sprechern etwas Rohes, Reelles festsitzen – Magen nennt mans rauh genug –, was an der Zunge aus Eigennutz nicht die Ausfuhr, sondern die Einfuhr schätzen will. Genug das Gliedmaß hat jeder; dies aber lässet uns so sehr wünschen, daß unsere Schule mehr zu einer Kameral- oder Erwerbschule für alle, die man darin besoldet, gesteigert werde, damit jeder, der als Schüler darin zahlte, gern wieder hineingehe, um als Lehrer da bezahlt zu werde Auch unsere Schulbuchhandlung (weniger die Schulbibliothek) und unsere Schulkasse, ja die Schulwitwenkasse könnten stark unterstützet werden; und so alles; denn die einzige Schulkrankheit, welche Lehrer haben, ist Heißhunger, ein Übel, dem doch der Staat gemeine Hausmittel oder sogenannte Hausmannkost verordne.

Da wir aber alle, besonders als Erzieher der Jugend, auch für etwas Schöneres und Längeres leben wollen als für unser Mittagstück von schwarzer Suppe, wofür wir erst tagelange aktive Prügelsuppen auszuteilen haben: so wag' ich ungescheuet die stolze Bitte, daß man den Katheder, worauf sowohl der Tertiat und Kantorat als ich das Nötige vorzutragen habe, neu anstreichen lasse, bloß wie ein Buch oder ein preußisches Schilderhaus, Schwarz auf Weiß, und daß man das Lyzeum, wenn nicht mit dem Namen eines Gymnasiums, doch mit dem Namen: illustre, und womöglich uns alle mit dem Titel Professoren belege. Vielleicht dehnte sich dann die Schulfreundschaft, die sich sonst nur auf Schüler einschränkt, auch auf Lehrer aus. Fiat! – Dixi!

§ 15

Kaum hatte der Verfasser seine Antrittrede gehalten und früher verfaßt, als man so vieles von einer Abtrittrede darin fand, daß man ihm wirklich eine schöne Gelegenheit schenkte, letzte zu halten und sich mehr auszusprechen, indem man ein Paar Tage darauf ihn absetzte und abdankte. Dadurch wurde er instand gesetzt, von seinen Mitlehrern den Abschied, den er öffentlich bekommen, ebenso zu nehmen und dabei die Wichtigkeit des Lehrstuhls, den er zum zweiten und letzten Male bestieg, so eindringlich, als anging, zum Texte seiner kurzen Abschiedrede zu machen.


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