Jean Paul
Levana oder Erziehlehre
Jean Paul

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Drittes Kapitel

Über den Geist der Zeit

§ 33

Leicht und kühn zitiert ihr den Geist der Zeit, aber lasset ihn uns doch recht in eurer Rede erscheinen und antwortet! Da die Zeit in Zeiten zerspringt, wie der Regenbogen in fallende Tropfen: so gebt die Größe der Zeit an, von deren inwohnendem Geist ihr sprecht! Ist sein Zeitkörper ein Jahrhundert lange, und zwar nach welcher Zeitrechnung angefangen, nach jüdischer, türkischer, christlicher oder französischer? Entwischt nicht der Ausdruck »Geist des Jahrhunderts« dem Menschen leicht, weil er, in einem Jahrhundert geboren, eines mit seinem Leben zum Teil ausmessend, eigentlich unter der Zeit nichts meint als den kleinen Tagbogen, den die ewige Sonne von seinem Lebenmorgen bis zu seinem Abend umschreibt? – Oder streckt sich ein Zeitkörper von einer großen Begebenheit (z. B. der Reformation) bis zu einer zweiten großen aus, so daß sein Geist entflieht, so bald die zweite gebiert? Aber welche Umwälzung wird für euch zur zeit-beseelenden, eine philosophische oder sittliche oder poetische oder politische? –

Ferner: ist nicht jeder Zeitgeist weniger ein flüchtiger als ein fliehender, ja ein entflohener, den man lieber Geist der nächsten Vorzeit hieße? Denn seine Spuren setzen ja voraus, daß er eben gegangen, folglich weiter gegangen. Und nur auf Anhöhen kann zurückgelegter Weg beschauet werden, wie künftiger berechnet.

Aber da dieselbe Zeit einen andern Geist heute entwickelt im Saturn – in seinen Trabanten – in seinen Ringen – auf allen zahllosen Welten der Gegenwart – und dann in London – Paris – Warschau – – und da folgt, daß dieselbe unausmeßbare Jetzo-Zeit Millionen verschiedene Zeit-Geister haben muß: so frag' ich: wo erscheint euch denn der zitierte Zeitgeist deutlich, in Deutschland, Frankreich oder wo? Wie vorhin sein Zeitkörper, so wird euch jetzo sein Raumkörper schwer abzumessen fallen.

Mit der großen Frage, die jeden, also euch mittrifft, wie ihr, wie alle in derselben Zeit befangen, euch so hoch aus ihren Wellen hebt, daß ihr ihren Gang sehen könnt, nicht bloß ihren dunkeln Zug fühlet, verschon' ich euch halb. Und geht nicht der Strom, der euch führt, in einem Meere, worin ihr, aus Mangel an Ufer, seine Bewegung nicht messen könnt? –

§ 34

Was wir Geist der Zeit nennen, hießen unsere Alten Weltlaut, letzte Zeiten, Zeichen vor dem Jüngsten Tage, Reich des Teufels, des Antichrists. Lauter trübe Namen! Kein goldnes oder unschuldiges Zeitalter nannte sich ein goldenes, sondern erwartete bloß eines; und ein bleiernes erwartete ein arsenikalisches; bloß die Vergangenheit glänzt nach, wie die Schiffe zuweilen auf dem Meere hinter sich eine leuchtende Straße ziehen. Aber die vormaligen Traumdeutereien und Anschauungen der Gegenwart – möchte man uns ein solches Traumbuch voriger großer Geister sammeln! – lehren uns Mißtrauen in unsere jetzigen. Konnte der Mensch aus der Anschauung von drei Weltteilen nicht einmal den vierten weissagend konstruieren, so kann er – noch weniger als mit den Kombinationen der Körper – mit den vielfachern der Geister eine Zukunft auswittern. Denn der Mensch ist eng und arm; seine Sterndeuterei der Zukunft – ein bloßes entweder Potenzieren oder Depotenzieren der Gegenwart – sieht bloß ein Mondviertel am Himmel, das mit ihm ab- oder zunimmt, keine Sonne. Jeder hält sein Leben für die Neujahrnacht der Zeit und mithin, wie der Abergläubige, seine – aus Erinnerungen zusammengehefteten – Träume darin für Prophezeiungen aufs ganze Jahr. Daher trifft stets – nicht etwa das prophezeiete Gut und Böse, oder das Gegenteil davon, sondern – etwas Anderes ein, das die Weissagungen und ihre Gegenstände, wie ein Meer die Ströme, aufnimmt und auflöset in den Wogen-Kreis. Denn in der Minute, wo du in deiner Wüste weissagest, fliegt der feine Samenstaub einer Eiche auf die Erde und wird nach einem Jahrhundert ein Hain. Wie könnt' auch der Mensch irgendeine nahe Zeit erraten, ohne alle spätere Zeiten mitzuwissen und mitzugeben? Wer z. B. aus einem gegenwärtigen Wind-, Wolken- und Planeten-Zug und Standort auf ein akademisches Halbjahr die zweite Witterung rein erraten hätte: dieser würde und müßte aus dem geweissagten Stande wieder die dritte Witterung und so aus dieser jede weiterfolgende entziffern können – falls nämlich nichts dazwischen käme; – aber es kommen eben dazwischen unberechnete Bartsterne, Erdbeben, Wälderlichtungen oder -anwüchse und der übrige Reichtum der Allmacht. Gleicherweise müßte vor dem Auge des Sehers sich ein Jahrhundert nach dem andern folgerecht vor uns gebären, folglich Jahrtausende und endlich die ganze Zeit, die auf einer Erde wohnen kann, falls nämlich, wie gedacht, nichts dazwischen käme. Aber, Himmel! was kommt nicht noch weit mehr dazwischen! Der Prophet ja selber – und die Freiheit des Geisterreichs – und die Allmacht, welche hier Geister und Sonnen zurückzieht, und dort ausschickt. Daher lebt jeder so sehr im geistigen Zwielicht (ein schönes Wort für Dämmerung), daß, welches von beiden Streit-Lichtern überwinde, der Gott des Himmels entscheidet durch ein neues von Sonne oder Mond, welche beide der Mensch so oft verwechselt.

§ 35

Gleichwohl wie wäre nur der vorige 34ste Paragraph zu schreiben oder zu fassen, wenn es nicht noch etwas darüber hinausgäbe, nämlich einen 35sten, der darauf folgt? – Je älter die Erde wird, desto leichter kann sie als Alte prophezeien, und wird prophezeien. Aus der Vorwelt spricht ein Geist eine alte Sprache zu uns, die wir nicht verstehen würden, wenn sie uns nicht angeboren wäre. Es ist der Geist der Ewigkeit, der jeden Geist der Zeit richtet und überschauet. Und was sagt er über die jetzige? Sehr harte Worte. – Er sagt, daß die Zeit jetzo leichter ein großes Volk als einen großen Mann aufstellt, weil die Kultur und die Gewalt die Menschen wie Dunsttropfen ungeheuerer Dampfmaschinen eines Geistes zusammenfügt, so daß sogar der Krieg jetzo nur ein Kriegspiel bloß zwischen zwei Lebendigen ist. Etwas, sagt er, müsse in unserer Zeit untergegangen sein, weil sogar das gewaltige Erdbeben der Revolution, vor welchem jahrhundertelang – wie bei physischen Erdbeben – unendlich viel Gewürm aus der Erde kroch und sie bedeckte, nichts Großes hervorbrachte und nachließ als am gedachten Gewürme schöne Flügel. Der Geist der Ewigkeit, der das Herz und die Welt richtet, spricht strenge aus, welcher Geist den jetzigen Begeisterten der Sinne und den Feueranbetern der Leidenschaften fehle: der heilige des Überirdischen. Die Ruinen seines Tempels senken sich immer tiefer in die jetzige Erde. Beten, glaubt man, zieht die Irrlichter des Wahns an sich. Der Sinn und Glaube für das Außerweltliche, der sonst unter den schmutzigsten Zeiten seine Wurzeln forttrieb, gewinnt in reiner Luft keine Früchte. Wenn sonst Religion im Kriege war, so ist jetzo nicht einmal in der Religion mehr Krieg – – aus der Welt wurde uns ein Weltgebäude, aus dem Äther ein Gas, aus Gott eine Kraft, aus der zweiten Welt ein Sarg.

Endlich hält noch der Geist der Ewigkeit uns unsere Schamlosigkeit vor, womit wir die leidenschaftliche Brunst des Zorn-, des Liebe- und des Gierfeuers, deren sich alle Religionen und die alten Völker und die großen Menschen enthielten oder schämten, als ein Ehrenfeuerwerk in unserem Dunkel spielen lassen; und sagt, daß wir, nur in Haß und Hunger noch lebendig, wie andere zerfallende Leichen eben nur die Zähne unverweslich behalten, die Werkzeuge beides, der Rache und des Genusses. Leidenschaftlichkeit gehört eben recht zum Siechtum der Zeit; nirgends wohnt so viel Aufbrausung, Nachlaß, Weichheit gegen sich und unerbittliche Selbstsucht gegen andere als auf dem Krankenbette. – Auf diesem liegt aber dieses Jahrhundert. Wenn unter den Spartern die Männer sich eine hohe volle Brust als etwas Weibisches wegschnittenVor einigen Jahren entstand in Rußland die Mode, daß Männer ihre Brustkleidung zu hohen falschen Brüsten ausstopften.: so geschieht jetzo dasselbe unter demselben Vorwand an der geistigen; und das Herz soll so hart sein als die Brusthöhle darüber. Endlich gibts noch sehr gebildete Menschen, welche sich in entgegengesetzte Richtungen, nach Himmel und nach Hölle zerspalten, wie ein entzweigeschnittener Salamander mit der vordern Hälfte vor-, mit der andern rückwärts läuft.

§ 36

So spricht der strenge Geist in uns, der ewige; aber er mildert, wenn wir ihn aushören.

Jede hohe Klage und Träne über irgendeine Zeit sagt, wie eine Quelle auf einem Berge, einen höhern Berg oder Gipfel an. Nur Völker, welche von Jahrhundert zu Jahrhundert sumpfig fortstehen, klagen nicht über sich, sondern über andere und bleiben eingesunken; und die geistigen Fallsüchtigen der französischen Philosophie haben, wie körperliche, kein Bewußtsein ihres Übels, sondern nur Stolz auf Kraft. Die geistige Trauer ist, wie nach den Griechen die Nacht, eine Göttermutter, wenn die leibliche ein dunkler Nebel ist, der Gift und Leichen bringt. Der kühne und überfliegende Gedanke der Talmudisten, daß auch Gott bete, – ähnlich dem griechischen, daß Jupiter unter dem Schicksale stehe – erhält durch die hohen, oft besiegten Geisterwünsche, die der Unendliche doch selber in uns gelegt, einen Verstand.

Eine Religion nach der andern lischt aus, aber der religiöse Sinn, der sie alle erschuf, kann der Menschheit nie getötet werden; folglich wird er sein künftiges Leben nur in mehr geläuterten Formen beweisen und führen. Wenn TyräusTyraeus de apparitione dei. c. 17. sagt, Gott sei den Menschen anfangs in ihrer Gestalt erschienen, dann als Stimme, später nur im Traume und durch Erleuchtung: so nimmt dies eine schöne Deutung für unsere und die späten Zeiten an, wenn man unter Traum Poesie und unter Erleuchtung die Philosophie versteht. Solange das Wort Gott in einer Sprache noch dauert und tönt: so richtet es das Menschenauge nach oben auf. Es ist mit dem Überirdischen wie mit der Sonne, welche in einer Verfinsterung, sobald auch nur der kleinste Rand von ihr noch unbedeckt leuchten kann, stets den Tag forterhält und sich selber geründet in der dunkeln Kammer abmalt. Sogar in Frankreich, welches eine gänzliche Sonnenfinsternis eine kurze Zeit beobachten konnte, entstanden ein Chateaubriand, St. Martin und seine Verehrer und ähnliche Verhältnisse. Unsere jetzige Zeit ist zwar eine kritisierende und kritische – schwebend zwischen dem Wunsche und dem Unvermögen zu glauben – ein Chaos widereinander arbeitender Zeiten; – aber auch eine chaotische Welt muß einen Punkt und Umlauf um den Punkt und Äther dazu haben; es gibt keine reine bloße Unordnung und Streitigkeit, sondern jede setzt ihr Gegenteil voraus, um nur anzufangen. Die jetzigen Religionkriege auf dem Papier und im Kopfe – verschieden von den vorigen, welche Gewitter voll Glut, Sturm, Verheerung und Befruchtung waren – sind mehr den Nordscheinen (Gewitter höherer, kälterer Himmelgegenden) ähnlich, voll lärmender Lichter ohne Schläge, voll Gestaltungen und voll Frost, ohne Regen und in der Nacht. Bildet denn nämlich nicht das kecke Selberbewußtsein – das Sein dieser Zeit – den ursprünglichen Menschen- und Geistescharakter nur weiter und kühner fort und aus? Und könnte der Menschencharakter, das geistige Wachen je zu wach werden? – Bloß nicht genug wird es jetzo; denn da zur Besonnenheit ein Gegenstand derselben gehört, wie zur Unbesonnenheit dessen Entbehrung: so sind die gemeinen Herzen der Zeit viel zu verarmt, um der Besinnung ein reiches Feld zu geben. – Aber eine seltsame, immer wiederkommende Erscheinung ists, daß jede Zeit einen neuen Lichtanbruch für Schadenfeuer der Sittlichkeit gehalten, indes jede selber um eine Lichtstufe sich über die vorige, dem Herzen unbeschadet, erhoben findet. Sollte vielleicht, da das Licht schneller geht als die Wärme, und die Umarbeitung des Kopfes schneller als die des Herzens, der Lichteinbruch immer durch seine Plötzlichkeit dem unvorbereiteten Herzen feindlich erscheinen? –

Der jetzigen Zeit wird Fruchtbarkeit und Veränderlichkeit der Meinungen und zugleich doch Gleichgültigkeit gegen Meinungen zugeschrieben. Aber jene kann nicht aus dieser kommen; kein Mensch im ganzen verdorbnen Europa kann gleichgültig sein gegen die Wahrheit als solche, weil diese ja doch in letzter Instanz über sein Leben entscheidet; nur ist jeder gegen die unzähligen Irrlehrer und Irrprediger derselben endlich kalt und scheu geworden. Nehmet das dürreste Herz und Gehirn, das in irgendeiner Hauptstadt einwelkt, und gebt ihm nur Gewißheit, daß der Geist, der auftritt, uns aus der Ewigkeit den Schlüssel zu und aus so wichtigen Pforten der Lebenkerker, des Todes, des Himmels herunterbringe: so muß der ausgetrocknete Mensch wohl, solange er noch Angst und Wunsch hat, eine Wahrheit suchen, die ihn doch auffindet.

Die jetzigen Lichtprozesse verstatten wenigstens alles andere eher als Stillstand; nur dieser aber erzeugt und verewigt Gift, so wie auf stille Luft Gewitter und Stürme einbrechen. Freilich, auf welche Weise aus diesen trüben Gärungen eine hellere Zeit, als wir kennen, sich bereite, können wir wenig bestimmen. Denn jede veränderte Zeit, also unsere, ist nur ein neues Geisterklima für kommende Geisteraussaat; wir wissen aber nicht, welchen ausländischen Samen der Himmel in dasselbe herunterwirft.

Jede Sünde erscheint uns neu und nahe, so wie in der Malerei das Schwarze am meisten vor- und naherückt; der Mensch gewöhnt sich an wiederholte Liebe, nicht an wiederholte Ungerechtigkeit. Daher erscheint jedem seine Zeit moralisch schlechter, so wie die intellektuelle besser, als sie ist; denn in der Wissenschaft ist das Neue ein Fortschritt, in der Moral ist das Neue, als ein Widerspruch mit unsern innern Idealen und mit den historischen Idolen, stets der Rückschritt. So wie in der Vergangenheit die Irrtümer der Völker, ungleich den Dekorationgemälden, verzerrter und unförmlicher sich ausdehnen, weil die Ferne uns ihre feinern und wahren Ausfüllungen entzieht: so stellen sich umgekehrt die schwarzen Schandflecken der Vergangenheit, z. B. der römischen, spanischen, gemildert und geründet dar, und wie an einen Mond fällt an die Gegenwart der höckerige Erdschatte der Vorzeit rund und durchsichtig hinauf. – Z. B. schätzet man nach dem Kriege – diesem ältesten Barbarismus der Menschheit – die Zeit, und besonders nach den schlimmen Neuerungen darin: so steigt der Zeitgeist vor dieser Mordfackel in greulicher Beleuchtung und Verzerrung vor uns auf. Aber der Krieg, als der Generalsturm auf die Moral, als das sprach- und herzverwirrende Babel des Körperreichs, hatte in allen Zeiten nur Ungerechtigkeiten wiederholt, die jedesmal neu geschienen, weil jede Zeit von der andern nur die Zahl der hingerichteten Heere und Städte, an sich aber die der Foltern erfährt. Hingegen eben die unsrige hat vor jeder vorigen, außer einer gewissen Humanität des Kriegs in Rücksicht des Lebens, noch die wachsende Einsicht in dessen Unrechtmäßigkeit voraus.

Von jeher aber ging bei Völkern der Kopf dem Herzen oft um Jahrhunderte voraus, wie bei dem Negerhandel; ja um Jahrtausende, wie vielleicht bei dem Kriege.

§ 37

Da Lebenarten Denkweisen, und umgekehrt Meinungen Handlungen erzeugen – und Kopf und Herz, wie körperlich, so geistig, gegenseitig einander entweder befruchten oder lähmen: – so hat das Schicksal, sobald beide zugleich zu heilen sind, nur eine, aber lange Kur, die Ekel- und Vipernkur der Qual. Wenn Unglück Menschen läutert, warum nicht Völker? Freilich – und darum sieht man es weniger ein – wenn dort Wunden und Schalttage bessern, so hier erst Schlachtfelder und Schaltjahrhunderte, und Geschlechter müssen trüb und blaß zu Unterlagen froher hinuntersinken. Nicht durch eine vornehme Kriegerleiche mit Schüssen, sondern durch eine Schlacht wird der Himmel blau und die Erde fruchtbar gemacht. Indes ist doch in der Geschichte, wie im Kalender, der trübe dumpfe Thomastag kürzer als der helle warme Johannistag, wiewohl beide in neue Jahrzeiten überführen.

Bis und daß aber unsere Kinder und Kindeskinder durch die Winterjahrhunderte durchkommen – dies geht uns und die Erziehung näher an. Den großen Verwickelungen müssen wir mit partiellen Entwickelungen begegnen. Gegen die Zukunft, ja gegen die eindringende Zeit ist das Kind mit einem Gegengewichte dreier Kräfte auszurüsten, wider die drei Entkräftungen des Willens, der Liebe, der Religion. Unsere Zeit hat nur leidenschaftliche Begehrkraft – wie das Tier, der Tolle und der Kranke und jeder Schwächste –, nicht aber jene Wollkraft, die sich in Sparta und Rom, in der Stoa und ersten Kirche am herrlichsten auftat. Nun so härte die Kunst, wie sonst der Staat, den jungen Geist und Willen. Den gemeinen Ruhm bunter Tigerflecken und Schlangenspiegel der leidenschaftlichen Wallungen tilge die Einfarbigkeit einer stoischen Einheit aus; das Mädchen und der Knabe lerne, daß es etwas Höheres gebe im Meere als seine Wogen, nämlich einen Christus, der sie beschwört.

Ist die stoische Wollkraft ausgebildet, so ist schon zweitens die liebende freier gemacht. Furcht ist egoistischer als der Mut, denn sie ist bedürftiger; das aussaugende Schmarotzer- und Moosgeschlecht der Selbstigkeit hängt sich nur morschen Stämmen ein. Aber die Kraft tötet das Kleinliche – wie die stärkende Quassia die Fliegen –; der Mensch, mehr zur Liebe als zum Widerstande geschaffen, bekomme nur freien leeren Raum, so hat er Liebe, und jene stärkste, die auf den Felsen, nicht auf den Wogen bauet. Das körperliche Herz sei das Muster des geistigen: verletzbar, empfindlich, rege und warm, aber ein derber freifortschlagender Muskel hinter dem Knochengitter, und seine zarten Nerven sind schwer zu finden.

Da es nun über Kraft und Liebe keinen Streit des Gehalts, sondern nur der Wege dahin gibt – diese aber tiefer ins Werk hineinlaufen; – über Religion hingegen der Zweifel, ob es nur eine und Hinführungen dazu geben dürfe, erst bei vielen aufzulösen ist: so muß der dritte Punkt, worin das Kind gegen die Zeit zu bilden ist, vorher statt des Mittels erst das Recht, religiös zu erziehen, näher vor die Seele zu stellen suchen. Kraft und Liebe sind zwei Gegensätze des innern Menschen; aber Religion ist die göttliche Gleichsetzung beider und der Mensch im Menschen.


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