Jean Paul
Levana oder Erziehlehre
Jean Paul

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Erstes Bruchstück

Kap. I. Wichtigkeit der Erziehung § 1-3. Kap. II. Schulrede gegen ihren Einfluß § 4-15. Kap. III. Schulrede für denselben § 16-21

Erstes Kapitel

§ 1

Als Antipater von den Spartern funfzig Kinder als Geiseln begehrte: so boten sie ihm an deren Statt hundert vornehme Männer an, ungleich den gewöhnlichen Erziehern, welche gerade das Opfer umkehren. Die Sparter dachten recht und groß. In der Kinderwelt steht die ganze Nachwelt vor uns, in die wir, wie Moses ins gelobte Land, nur schauen, nicht kommen; und zugleich erneuert sie uns die verjüngte Vorwelt, hinter welcher wir erscheinen mußten; denn das Kind der feinsten Hauptstadt ist ein geborner Otaheiter, und der einjährige Sanskulotte ein erster Christ, und die letzten Kinder der Erde kamen mit dem Paradiese der ersten Eltern auf die Welt. So sind (nach Bruyn) physisch die Kinder der Samojeden schön, und nur die Eltern häßlich. Gäb' es eine vollendete und allmächtige Erziehkunst und eine Einigkeit der Erzieher mit sich und mit Erziehern: so stände – da jede Kinderwelt die Weltgeschichte von neuem anfängt – die nächste und durch diese die fernere Zukunft, in welche wir jetzo so wenig sehen und greifen können, viel schöner in unserer Gewalt. Denn womit wir sonst noch auf die Welt – mit Taten und Büchern – wirken können, dies findet immer schon eine bestimmte und erhärtete und schon unsersgleichen; nur aber mit dem Erziehen säen wir auf einen reinen weichen Boden entweder Gift- oder Honigkelche; und wie die Götter zu den ersten Menschen, so steigen wir (physisch und geistig den Kindern Riesen) zu den Kleinen herab und ziehen sie groß oder – klein. Es ist rührend und erhaben, daß jetzo vor dem Erzieher die großen Geister und Lehrer der nächsten Nachwelt als Säuglinge seines Milchglases kriechen – daß er künftige Sonnen als Wandelsternchen an seinem Laufband führt; – es ist aber auch desto wichtiger, da er weder wissen, ob er nicht einen künftigen Höllengott der Menschheit, oder einen Schutz- und Lichtengel derselben vor sich habe und entwickle oder verwickle, noch voraussehen kann, an welchen gefährlichen Stellen der Zukunft der Zauberer, der, in ein kleines Kind verwandelt, vor ihm spielt, sich aufrichte als Riese.

§ 2

Die jetzige Zukunft ist bedenklich – die Erdkugel ist mit Kriegpulver gefüllt – ähnlich der Zeit der Völkerwanderungen, rüstet sich unsere zu Geister- und Staatenwanderungen, und unter allen Staatgebäuden, Lehrstühlen und Tempeln bebt die Erde. – Wißt ihr, ob der kleine Knabe, der neben euch Blumen zerreißet, nicht einst aus seinem Korsika-Eiland als ein Krieggott in einem stürmischen Weltteil aussteigen werde, um mit den Stürmen zu spielen, oder umzureißen, oder zu reinigen und zu säen? War es denn gleichgültig, ob ihr erziehend sein Fenelon, seine Cornelia oder sein Dubois gewesen seid? Denn wiewohl ihr die Kraft des Genius nicht brechen und richten könnt – je tiefer das Meer, desto steiler ist uns die Küste –: so könnt ihr doch im einweihenden wichtigsten Jahrzehend des Lebens, im ersten, unter diesem Erstgeburttore aller Gefühle, die gelagerte Löwenkraft mit allen zarten Gewohnheiten des schönen Herzens, mit allen Banden der Liebe umgeben und überstricken. Ob denselben festen Genius entweder ein Engel oder ein Teufel ausbilde, ist weit weniger einerlei, als ob ihm entweder ein gelehrter Fakultist oder ein Karl der Einfältige vorlehre.

Wiewohl eine Erziehlehre zuerst genialer Wesen gedenken muß, da diese, so selten sie auch aufgehen, doch allein die Weltgeschichte regieren, als Heerführer entweder der Seelen oder der Körper oder beider: so würde jene gleichwohl einer praktischen Anweisung, wie man sich zu verhalten habe, falls man das große Los gewinne, zu ähnlich lauten, wenn sie nicht die Mehrheit der Mittelgeister, welche ja die Zukunft bilden, auf die ein großer wirken kann, extensiv ebenso wichtig finden wollte als einen genialen intensiv. – Und darum, da ihr teils der Zukunft, wie einer Bettlerin das Almosen, durch Kinder geben lasset, und teils letzte selber als Unbewaffnete in eine bedeckte Zeit versenden müßt, deren giftige Lüfte ihr gar nicht kennt: so ist ja auf der Seite der Nachwelt nichts Wichtigeres als: ob ihr euern Zögling als das Fruchtkorn einer Ernte, oder ob ihr ihn als das Pulverkorn einer Mine zuschickt, das sich und alles entwickelt, – und auf der Seite des Kindes: ob ihr ihm einen oder keinen Zauber- und Edelstein mitgegeben, der es bewahrt und unversehrt durchführt.

Ein Kind sei euch heiliger als die Gegenwart, die aus Sachen und Erwachsenen besteht. Durch das Kind setzt ihr, wiewohl mit Mühe, durch den kurzen Hebelarm der Menschheit den langen in Bewegung, dessen weiten Bogen ihr in der Höhe und Tiefe einer solchen Zeit schwer bestimmen könnt. – Aber etwas anders wißt ihr gewiß, daß nämlich die moralische Entwickelung – welches die Erziehung ist, so wie die intellektuelle der Unterricht – keine Zeit und Zukunft kennt und scheuet. In dieser gebt ihr dem Kinde einen Himmel mit einem Polstern mit, der es immer leitet, vor welche neue Länder es auch später komme.

§ 3

Ein vollendetes Kind wäre eine himmlische Seelen-Aurora; wenigstens wäre seine Erscheinung nicht so vielfach bedingt und schwierig als die eines vollendeten Mannes. An diesem formt alles, vom Staate an bis auf ihn selber; – am frischen Kinde aber wiederholen Eltern Lykurgs und Moses' gesetzgebende bildende Rolle mit völliger Gewalt, ihren Zögling (Bildling) besser als einen spanischen oder jüdischen Staat rein abzuscheiden und ohne Berührung auszuformen.

Folglich sollte man von der uneingeschränkten Monarchie der Eltern sich mehr versprechen – Kinder, in diesem Erbreiche ohne salisches Gesetz und in einem solchen Überfluß von Gesetzen und Gesetzgebern lebend, daß der Regenten oft sogar mehre sind als der Untertanen, und das regierende Haus größer als das regierte – überall Kabinettordres und beleidigte Majestäten und schnellste mandata sine clausula vor sich, und hinter dem Spiegel den Hoheitpfahl der Rute – in ihrem Landvater ihren Brotherrn besitzend, so wie ihren Zucht- und Freudenmeister – gegen ihn durch keine fremde Macht beschützt, da man wohl Mißhandlungen an Sklaven (in manchen Ländern), auch am Vieh (in England), aber nirgends die an Kindern bestraft – Kinder also, so ohne Oppositionpartei und Antiministerial-Zeitung – ohne Repräsentanten und so uneingeschränkt beherrscht, sollten aus dem kleinsten Staate im Staate, dächte man, weit mehr gebildet hervorgehen, als Erwachsene von der größten Erziehanstalt, vom Staate selber erzogen, geliefert werden.

Gleichwohl scheinen beide Erziehanstalten oder Staaten so gleichförmig zu wirken, daß es der Mühe wert ist, nach der Wichtigkeit der Erziehung auch ihre Möglichkeit zu überlegen in folgenden zwei Reden.


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