Jean Paul
Levana oder Erziehlehre
Jean Paul

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Achtes Bruchstück

Ausbildung des Schönheit-Sinnes

Kap. I. Die durch den äußern Sinn bedingten Schönheiten § 145-146. – die durch den innern Sinn § 147-148. Kap. II. Klassische Bildung § 149-150

Erstes Kapitel

§ 145

Ich sage statt Geschmack Sinn; Geschmack z. B. für das Erhabene klingt so arg als Geruch für das Erhabne. Eine der bessern Geschmack-Lehren liefern neuere Franzosen unter dem Titel: Almanac des Gourmands. – Ferner: Sinn für Schönheit ist nicht Bildungstrieb derselben; des letzten Entwickelung und Stärkung gehört in die Kunstschule für die Kunstgabe. Soll euer Knabe, anstatt Schönheiten nachzufühlen und nachzublicken, solche schon in der Schulstube zeugen: so verderbt ihr ihn so, als wenn er früher ein Vater als ein Liebhaber sein und die Töchter den Geliebten vorsenden sollte. Nichts ist gefährlicher für Kunst und Herz, als Gefühle zu früh auszudrücken; manches Dichter-Genie erkältete sich tödlich durch den frühzeitigen Leckertrunk aus der Hippokrene mitten in der heißen Zeit. Gerade dem Dichter bleibe jede Empfindung kühl überbauet, wie mit Herzblättern, und die magersten kältesten Wissenschaften halten das vorschießende Blütentreiben schön bis in die rechte warme Jahrzeit zurück. Pope machte als Knabe empfindsam Gedichte, aber als Mann nur Sinn-Gedichte. Jeder gute Kopf, sagt man, muß einmal in seiner Jugend Verse gemacht haben, wie z. B. Leibniz, Kant etc.; – dies gilt mit Recht für den, der im Alter keine macht; der Weltweise, der Meßkünstler, der Staatsmann beginne, womit der Dichter beschließt, und umgekehrt! Ist der Dichter der einzige, der das Geheimnis, Heiligste, Zärteste der Menschheit ausspricht: so muß er dasselbe ebenso zart wie die heilige Jungfrau der Psyche bewachen und bewahren vor jedem Zimmermann, bis der heilige Geist ihr den Sohn gibt. – Der Dichter erwachse erst zu seinem Modell, eh' ers kopiert. Wie der schöne Lilienvogel leb' er anfangs von Blättern der Schule, und erst entfaltet vom Honig der Blumen.

§ 146

Kinder, gleich Weibern unendlich gut gelaunt gegen Pedanten, nähmen es nicht ganz lächerlich, wenn man z. B. versuchte, dem Knaben Gesichter-Sinn beizubringen für schöne Mädchen, indem man ihm Zeichnungen erbärmlicher Nasen, Lippen, Hälse etc. hinlegte, aber daneben die andern der besten samt den kolorierten davon, so daß der Junge, wenn er aus der Zeichnenschule herauskäme, sich so richtig in ein schönes Mädchen verlieben könnte als – ein Tropf, der noch gar in keine hineingekommen wäre.

Etwas dem Ähnliches verüben die erziehenden Bildner des Sinnes für das Erhabene, welchen die vorgetriebenen Erhabenheiten nicht stärken, sondern stumpfen; der Weltumsegler findet das Meer nicht so erhaben als seine hinüberblickende Frau an der Küste; die Astronomen sehen zuletzt die Sterne mit bloßen Augen kleiner als wir.

Die Menschen wollen folglich (sich ausgenommen) alles erziehen, was sich von selber erzieht – und dies gerade am liebsten, weil der Erfolg erreichbar und unausbleiblich ist, z. B. Gehen, Sehen, Schmecken etc. – ; nur für den Sinn der Kunstschönheit, welcher eben der Schule bedarf, wird selten eine gebauet.

In das Kunst-Reich der durch äußere Sinnen bedingten Schönheiten, der Malerei, Musik, Baukunst, ist das Kind früher zu führen als in das Reich der durch den innern Sinn bedingten, die der Dichtkunst. Vor allem erzieht das deutsche Auge, das so weit dem deutschen Ohre nachbleibt. Bedeckt jenes gegen jedes Zerrbild der Miene, der Zeichenfeder – und der Gasse, möchte man beifügen, wenn die Grotesken-Herrschaft unserer Häuser, Kleider und Verzierungen oder Verzerrungen zu brechen wäre – und fasset das selber schöne Alter wieder mit den Blumen des Schönen ein. Das Beispiel der fein richtenden Italiener beweiset euch, daß eben nicht eine Künstler-Hand einem Kunstrichter-Auge vonnöten ist. – Für die strahlenden Schönheiten der Natur öffnet dem Kinde mehr das Auge als das Herz – letztes tut sich schon zu seiner Zeit auf und weiter und für mehr Schönheiten, als ihr ihm vorstellt. Leider ist hier einsam wenig zu tun; nur der Staat – der aber sein Holz lieber zum Paradebette als zur Parade-Wiege der Kunst auszimmert – kann die rechte Erziehung des Auges, welche Gassen, Tempel, Gärten geben müssen, am besten besorgen. Möge der freie und edle Plan einer Kunstschule des kraftreichen Verfassers der reisenden Maler bald in die Hand eines Fürsten gelangen, welcher mit einem Kronschatz die höhern Reichskleinodien der Kunst nicht zu teuer zu erkaufen glaubt! – Liegen denn Thron und Kunst überhaupt so weit auseinander als Sonne und Venus, deren Ferne eine Kugel erst in 17 Jahren durchfliegt?Die Zeit zwang leider zum Jaja der Frage. Die Kunstschule wohnt noch im überirdischen Reiche des Schönen; und ihr ist ihr Baumeister auch nachgeflogen, der großherzige Mensch, der fromme Mensch, der reiche Dichter. –

Übrigens schließt schon der vorige Paragraph aus der entworfenen Kunstschule jeden Dichter aus. Eine große dichterische volière oder ein Apollosaal von lauter zum Dichten zusammengesperrten Lehrlingen könnte höchstens Gedichte über Dichten und Dichter liefern, kurz, lauter scheinheilige Nachdichter; eine Einbuße, welche der Gewinn des Technischen, der die Schule nur für die bildenden Künste wichtiger macht, nicht vergütet. Den Dichter muß das Leben, wie einen Cervantes und Shakespeare, gerade mit prosaischen Verhältnissen recht durchgenommen und überarbeitet haben: dann nehm' er Farben und male damit nicht Farben ab, sondern sein Innen auf sein Außen hin. Bildete bloßer Umgang mit Gedichten mehr zum Dichter hin als von ihm weg: so müßten die Schauspieler von jeher die besten Schauspiele gedichtet haben.

Eine Kunstschule für Ohren tut uns weniger aus Mangel an Lehrern, Mustern und an Eifer not als aus Überfluß daran, weil zumal die Muster einander überstimmen wollen, sogar auf Kosten eigner Verstimmung. Zum Glücke ist einfacher Geschmack schwerer der Hörwelt zu rauben und zu verleiden als der Seh- und Leswelt; unter dem überreizten Ohre bleibt immer ein Herz den einfachsten Melodien offen – und nur Virtuosen sind ihre Selbergiftmischer.

§ 147

Wenn man (und mit Recht) die Dichtkunst für das Zusammenfassen des ganzen Menschen, für den Venusgürtel erklärte, der die widerspenstigen Kräfte reizend verknüpft – für die heiterste wechselseitige Umkleidung der Form in Stoff, dieses in jene, dem Lichte gleich, dessen Flamme Gestalt annimmt, und doch durch diese hindurch ihren Stoff und Docht durchzeigt: so hat man sich zu verwundern, daß man das Studium einer solchen Einheit im Mannigfaltigen schon in die Jahre verlegt, worin das Mannigfaltige ärmlich und die Kraft, es zu vereinen, schwächlich oder irrig ist. Kann es bei Kindern anders sein als bei Völkern, wo erst über die Windstille des Bedarfs die Sonne der Schönheit aufging? Und fodert die Dichtkunst, als Brautschmuck der Psyche, nicht eine volljährige und eine Braut? Vor dem dreizehnten und vierzehnten Jahre, also vor der knospenden Mannbarkeit, welcher erst Sonne und Mond und Frühling und Geschlecht und Dichtkunst im romantischen Glanze aufgehen, sind dem Kinde die poetischen Blumen so sehr getrocknete Arzneipflanzen, daß der Irrtum des Voreilens nur aus dem ästhetischen Irrsinn kommen könnte, welcher, den Dichtergeist weniger ins Ganze als in die ausgestreueten blinkenden Reize der Klänge, Bilder, Einfälle, Empfindungen legend, für letzte natürlicherweise schon offne Kinderohren annimmt. Etwas könnte man allerdings für diese verbrauchen schon vor der Mannbarkeit, die Reimer und Versesetzer. Der Reim erquickt das roheste wie das jüngste Ohr. Ihr könnt noch für Wohlklang der Prose sorgen und dazu die daktylische von Haller im Usong nehmen, dann die von Schiller, dann die von Spalding. Auch der Liederschatz von Gellert, Hagedorn etc. wird die kleine Seele schön berühren. Lehrgedichte, als runde Licht-Einfassungen und Mond-Höfe, sind gut. Heulieder, Kartoffellieder, Volklieder, Freimäurerlieder passen. Märchen, und besonders orientalische, die tausend und eine Nacht (diese romantische kürzeste Johannisnacht für Männer und Kinder) werden das dichtend-träumende Herz mit leisen Reizen wecken, bis es später genug erstarkt, um die lyrische Oden-Höhe, die weite Epos-Ebene, das tragische Gedränge zu fassen.

Hat also an der Zeit die Mann- und Weibbarkeit, dieses vergängliche Freudenfeuer des Lebens, sich entzündet, und suchen alle Kräfte Einheit und Zukunft: dann trete der Dichter auf und sei der Orpheus, der tote Körper so gut belebt, als wilde Tiere bezähmt. Aber welche Dichter soll der Erzieher einführen?

§ 148

Unsere! – Weder griechische, noch römische, noch hebräische, noch indische, noch französische, sondern deutsche. Der Brite wähle wieder die britischen vor u. s. w., und so jedes Volk. Nur aus der Armut des finstern Alters, dessen Schattenreich oder Scheinleiche durch die Wunderkraft der Griechen und Römer auflebte, ist der noch rege Widersinn begreiflich, daß man, anstatt an einheimischen, verwandten, jungen Schönheiten den Sinn für fremde alte hinauf zu bilden und zu zeitigen, es umgekehrt und im Auslande früher als im Mutterlande erzogen werden und von oben herunter dienen läßt. Die schnelleste Auffassung und Überschauung aller Halbfarben eines Dichterwerks, die lebendigste Empfindung für dessen Stoffe, das weiteste Ahnen, das freieste Spieltreiben – dies ist doch nur dem An- und Zuschauer seines eignen Landmannes, nicht irgendeines ausländischen Wunderwesens möglich; und wenn die vaterländische Wirklichkeit dem Dichter kolorieren hilft, so hilft sie ja dem Leser sehen; sie ist gleichsam eine Römerin, welche als Geliebte einen Raffael, und als dessen Madonna einen Römer zugleich begeistert. Sollen wir im Norden denn alle Schönheiten, wie Hoffnungen, gleich Vasen und Urnen aus Gräbern holen?

Wir können es aber mit Recht tun, wenn eben von Vasen u. s. w. die Rede ist, d. h. von der künstlerischen Erziehung des Auges (der Ohren weniger); das Schönste werde dem Auge zuerst gegeben, also sogar einem Sinesen eine griechische Venus; wie Schwangere verschonet die schwangern Kinderseelen mit Mißgestalten und Mißgetön. Aber ist von Erziehung des innern Sinnes die Rede, so werde das Nächste zuerst gereicht. Der äußere Sinn verwöhnet sich (wie alle Modejournale beweisen) leichter und tiefer herab zur Ungestalt; und gewinnt sie gerade durch die Zeitlänge lieb, wodurch der innere Sinn sich an kindischen Schönheiten für innere entwickelt. Fangt an mit Raffael und Gluck, allein nicht mit Sophokles.

Aber dann werde im Vater- und im Schulhause zuerst den inländischen Dichtern als Haus- und Vaterlandgöttern der Altar gegeben; von den kleinern Göttern (dii minorum gentium) steige das minorenne Kind zu den größern auf (majorum). – Welche Vaterlandsliebe müßte das kindliche Hängen an den Lippen verwandter Menschen entflammen! – – Und welches schöne langsame Lesen würde – da der Deutsche alles schnell lieset, was nicht nach Breiten, Jahrhunderten und Sprachen weit her ist – uns angewöhnt, wenn z. B. eine Klopstockische Ode so fein und weit zerlegt würde als eine Horazische! Welche Gewalt der eignen Sprache würde sich zubilden, wenn man schon zur Zeit, wo die Schullehrer sonst Pindare und Aristophanesse traktieren, in Klopstockische und Vossische Klang-Odeen, in einen Goethischen Antiken-Tempel, in ein Schillersches Sprachgewölbe führte! Denn eben die eigne Sprache muß in Mustern anreden, wenn sie ergreifen soll; daher schrieben alte (ja nachherige) Humanisten bestes Latein und alte, ja neue Weltleute bestes Französisch, und doch schrieben beide Brüderschaften oft erbärmlichstes Deutsch; Leibniz und die Rektoren sprechen dort, und Friedrich II. hie, für mich.


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