Jean Paul
Levana oder Erziehlehre
Jean Paul

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiten Kapitel

die Individualität des Idealmenschen

§ 27

auszuforschen und hochzuachten. Es sei hier ein nötiges Ausholen erlaubt! Gleichsam als Sinnbild gehen in den meisten Sprachen die Prim- und Markwörter Gut und Sein unregelmäßig. Schon die physische Kraft drückt ihren Überfluß in der Mannigfaltigkeit der Gattungen aus; daher die gemäßigte Zone nur 130 verschiedene Vierfüßer trägt, die heiße aber 220. Das feinere Leben zergliedert sich (nach Zimmermann) in mehre Arten; hinter den 500 Arten des mineralischen Reichs liegt das tierische mit sieben Millionen. Ebenso nun die Geister. Statt der Gleichheit der wilden Völker in verschiedenen Zeiten und Ländern – z. B. des Amerikaners und der alten Deutschen – zeigt sich die vielzweigige Auseinanderbildung der verfeinerten Völker in einem Klima und Zeitraum; so wie der Gartenbau die Blumensorten vielfarbig verdoppelt, oder die Zeit ein langes Land im Weltmeer zu Inseln auseinanderrückt. Insofern wäre sogar ein Sinn in den Ausspruch der Scholastiker zu bringen, daß jeder Engel seine eigene Gattung sei.

§ 28

Auch gibt dies jeder Erzieher zu, sogar der matteste, und flößet diese Achtung für Eigentümlichkeit, z. B. für seine eigene, den Zöglingen ein; nur arbeitet er in derselben Stunde wieder stark darauf hin, daß jeder nichts als sein Stief- und Kebs-Ich werde. Sich selber läßt er so viel Individualität hingehen, als er braucht, um fremde auszutilgen und seine einzupflanzen. Wenn überhaupt jeder Mensch heimlich seine eigne Kopiermaschine ist, die er an andere ansetzt, und wenn er gern alles in seine geistliche und geistige Verwandtschaft als Seelen-Vettern hineinzieht, z. B. Homer gern die Weltteile in Homeriden und Homeristen verwandelt, oder Luther in Lutheraner: so wird der Erzieher noch mehr streben, in den wehr- und gestaltlosen weichen Kindergeistern sich ab- und nachzudrucken, und der Vater des Kindes trachten, auch der Vater des Geistes zu werden. Gott gebe, daß es selten gelinge! Und zum Glücke glückt es auch nicht! Bloß die Mittelmäßigkeit verdrängt fremde durch eigne, d. h. eine unmerkliche Individualität durch eine unmerkliche; daher die Menge Nachahmer der Nachahmer. Von einem Holzschnitte lassen sich leicht einige tausend Abdrücke machen; von einer Kupferplatte aber nur ein Zehnteil.

Es wäre auch zu erbärmlich für Europa, wenn es mit lauter Titiis – wie jeder Titius heimlich will – oder mit lauter Semproniis – wie Semprone begehren – angesäet würde! Welches dicke tote Meer schwämme zusammen aus fortwuchernder Ähnlichkeit der Erzieher und Zöglinge! –

§ 29

Allein da selber der steifste Erzieher gesteht, daß er zweifache und stärkste Individualität sehr schätze, nämlich vorsündflutliche, die seine eigene bildete, und diese selber – und zwar als die beiden Armgebirge, welche Flüsse und ein Tempe heruntergehen; und da ohnehin jeder Selbstzögling und Selbsterzieher behauptet, daß alles Bedeutende in der Welt nur durch an- und ab-, nicht aber durch fort-setzende Individualitäten erschaffen worden: so muß der Vernachlässigung fremder Eigentümlichkeit noch eine andere Täuschung als die bloße eigenliebige zum Grunde liegen.

§ 30

Es ist eben die verzeihliche, die das Ideal mit den Idealen vermengt, und die, wenn sie in der Schöpfungwoche gelebt hätte, entweder lauter Engel würde erschaffen haben, oder lauter Evas, oder lauter Adams. Wie es aber, obwohl nur einen dichterischen Geist, doch ganz verschiedene Formen gibt, worein er sich verkörpern kann, Lustspiel, Trauerspiel, Ode und der dünne Bienenleib des Epigramms: so kann dieselbe moralische Genialität hier als Sokrates, dort als Luther, hier als Phocion, dort als Johannes Mensch werden. Da kein Endliches die unendliche Idealität wiederholen, sondern nur eingeschränkt zu Teilen zurückspiegeln kann: so dürfen solche Teile unendlich verschiedene sein; weder der Tautropfe, noch der Spiegel, noch das Meer gibt die Sonne in ihrer Größe, aber alle geben sie rund und licht zurück.

§ 31

Ich ist – Gott ausgenommen, dieses Ur-Ich und Ur-Du zugleich – das Höchste so wie Unbegreiflichste, was die Sprache ausspricht und wir anschauen. Es ist da auf einmal, wie das ganze Reich der Wahrheit und des Gewissens, das ohne Ich nichts ist. Wir müssen dasselbe Gott, so wie den bewußtlosen Wesen zuschreiben, wenn wir das Sein des einen, das Dasein der andern denken wollen. Gleichwohl ist ein zweites Ich, in anderer Rücksicht, uns noch unfaßlicher als ein erstes.

Jedes Ich ist Persönlichkeit, folglich geistige Individualität – denn körperliche ist eine so weite, daß zu ihr Himmelsstrich und Boden und Stadt ja ebensowohl gehören würden als Leib –; jene Persönlichkeit besteht nicht im Fichtischen Ob-Subjektivieren des Ich, d. h. im Wechsel des Zurückspiegelns des Vorspiegelns, und welches, überall wiederkehrend, jede Zahl und Zeit ausschließt, so wie sich nichts dadurch, kein Spiegel aus seinem Gegenspiegel, erklärt. – Sie besteht ferner nicht in einem zufälligen Weg- und Zuwägen einzelner Kräfte; denn erstens jedem aufgestellten Kraftheer selber ist ein anderer regierender zusammenhaltender Obergeist vonnöten, und zweitens fallen und steigen alle in organische Verhältnisse eingescheidete Kräfte mit Wetterglas, Alter u. s. w., neben der festbestehenden Individualität.

Sondern sie ist ein innerer Sinn aller Sinne, so wie das Gefühl der Gemeinsinn der vier äußern ist. Sie ist das am andern, worauf unser Vertrauen, Befreunden oder Anfeinden ruht, und entweder eine ewige Untauglichkeit zu Dicht- und Denkkunst, oder die Macht dazu. – Wie dieselbe unfaßliche organische Einheit, der sich die zerstreute Materie unterwirft, anders in der Pflanze, anders im Tiere und anders in allen Abarten regiert und läutert und sich zu organischer Persönlichkeit vervielfacht, so die höhere geistige Einheit. Die scholastische Frage, ob der Gottmensch nicht auch als Weib, Tier, Kürbis hätte erscheinen können, wird symbolisch von der Mannigfaltigkeit der Individualitäten bejaht, worin sich das Göttliche ausdrückt. – Sie ist das was alle ästhetische, sittliche und intellektuelle Kräfte zu einer Seele bindet und, gleich der Lichtmaterie, unsichtbar die vielfarbige Sichtbarkeit gibt und bestimmt, und wodurch erst jedes philosophische Pol-Wort, »praktische Vernunft, reines Ich«, aufhört, bloß im Scheitelpunkte am Himmel als ein Polarstern zu stehen, der keinen Norden und folglich keine Weltgegend angäbe.

Wir würden diesen Lebengeist, diese Individualität mehr zu achten und zu schonen wissen, träte er überall so stark vor als im Genie! – Denn hier sehen wir alle ein, welche Geisterniederlage in einem passiven Riesenkrieg entstände, wenn z. B. Kant – Raffael – Mozart – Kato – Friederich II. – Karl XII. – Aristophanes – Swift – Tasso u. s. w. in gleiche Modellier- und Quetschformen eingezwungen würden. Sogar ein Genie könnte für ein anderes durch Auswechslung oder Ausgleichung der Individualitäten nur ein gewaltsames Ineinanderstecken zweier Polypen werden. Wird aber einer Mittelnatur die Urkraft gebrochen: was kann da kommen und bleiben als ewiges Irren in sich selber umher – halbe Nachahmung wider sich, nicht aus sich, ein schmarotzend auf einem fremden Wesen lebender Wurm, das Nachspiel jedes neuen Vorspiels, der Knecht jedes nahen Befehls? – Ist der Mensch einmal aus seiner Individualität herausgeworfen in eine fremde: so ist der zusammenhaltende Schwerpunkt seiner innern Welt beweglich gemacht und irret darin umher, und eine Schwankung gehet in die andere über. Indes hat der Erzieher von der Individualität, die er wachsen läßt, eine andere zu trennen, die er beugen oder lenken muß; jene ist die des Kopfes, diese ist die des Herzens. Jede intellektuelle Eigentümlichkeit – z. B. mathematische, künstlerische, philosophische – ist ein schlagendes Herz, welchem alle Lehren und Gaben nur als zuführende Adern dienen, die es mit Stoffen zum Verarbeiten und Bewegen anfüllen. Gerade hier kann dem Übergewichte der Anlage noch Gewicht nachgelegt werden, und der Erzieher darf z. B. einer künstlerischen Individualität nicht den Schlaftrunk schon am Morgen des Lebens geben. – Aber ganz anders ist die sittliche zu behandeln; denn ist jene Melodie, so ist diese Harmonie; einen Euler darfst du nicht durch einen eingeimpften Petrarca entkräften oder diesen durch jenen; denn keine intellektuelle Kraft kann zu groß werden und kein Maler ein zu großer Maler – aber jede sittliche Eigentümlichkeit bedarf ihrer Grenzberichtigung durch Ausbildung des entgegengesetzten Kraftpols; und Friedrich der Einzige soll die Flöte nehmen und Napoleon den Ossian. Hier darf die Erziehung z. B. an den Helden-Charakter Friedenpredigten halten, so wie den Siegwarts-Charakter mit ein paar elektrischen Donnerwettern laden. So könnte man – da bei Mädchen Kopf und Herz wechselseitige Kapseln sind – den genialen öfters den Kochlöffel in die Hand geben, und den Köchinnen von Geburt eine oder die andere romantische Feder aus einem Dichter-Flügel. Übrigens bleib' es Gesetz, da jede Kraft heilig ist, keine an sich zu schwächen, sondern nur ihr gegenüber die andere zu erwecken, durch welche sie sich harmonisch dem Ganzen zufügt. So werde zum Beispiel eine überweich liebende Seele nicht etwan ausgehärtet, sondern nur die Macht der Ehre und der Klarheit werd' in ihr verstärkt; so werde der kühne Charakter nicht furchtsam gemacht, sondern nur liebend und klug gebildet. – – Jetzo könnte man mir auch die Bedingung abfodern, unter welcher der Kindes-Charakter und als der Preis- oder Hochmensch, in welchen jener auszuformen ist, gefunden werden kann; aber dazu würden bei der unendlichen Mannigfaltigkeit Bücher, nicht ein Buch gehören, und zu den Büchern müßte wieder die seltene Gabe kommen, Traum- und Zeichendeuter der kindlich eingehüllten Charaktere zu sein, welche am Kinde, das nicht wie der Erwachsene alles gereift, sondern nur knospend vorzeigt, so schwer auszugliedern sind als im Puppenbrei der Schmetterling, sobald man kein Swammerdam ist. Aber leider sind drei Dinge schwer zu finden und zu geben: einen Charakter haben – einen zeichnen – einen erraten; und vor dem gewöhnlichen Erzieher scheint eine Unart schon eine Unnatur – ein Höcker ein Leib und Pockengruben feste Teile des Gesichts.

Sollte man übrigens den Preis- und Ideal-Menschen in Worte übersetzen: so könnte man etwan sagen, er sei das harmonische Maximum aller individuellen Anlagen zusammengenommen, welches daher ungeachtet aller Ähnlichkeit des Wohllautes doch bei Einzelwesen zu Einzelwesen sich wie Tonart zu Tonart verhält. Wer nun ein aus dem musikalischen a b c – d e f g h, z. B. ein in a gesetztes Stück in b übertrüge, nähme dem Stücke viel, aber doch nicht so viel als ein Erzieher, der alle verschieden gesetzte Kinder-Naturen in dieselbe Tonart übersetzte.

§ 32

Zum Ziele der Erziehungkunst, das uns vorher klar und groß vorstehen muß, ehe wir die bestimmten Wege dazu messen, gehört die Erhebung über den Zeitgeist. Nicht für die Gegenwart ist das Kind zu erziehen – denn diese tut es ohnehin unaufhörlich und gewaltsam –, sondern für die Zukunft, ja oft noch wider die nächste. Man muß aber den Geist kennen, den man fliehen will; daher erlaube man mir das...


 << zurück weiter >>