Jean Paul
Levana oder Erziehlehre
Jean Paul

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Zweites Kapitel

Wahrhaftigkeit

§ 111

Wahrhaftigkeit – nämlich die absichtliche und die opfernde – ist weniger ein Zweig als eine Blüte der sittlichen Mann-Stärke. Schwächlinge müssen lügen, sie mögen es hassen, wie sie wollen. Ein Droh-Blick treibt sie mitten ins Sündengarn. So besteht der Unterschied unsers Zeitalters vom Mittelalter weniger im Dasein von Frevel, Härte und Wollust – denn diese, besonders letzte, hatte vor Amerikas Fund die Mittelzeit gewiß reichlich – als im Mangel an Wahrhaftigkeit; man sagt aber nur darum nicht mehr: ein Wort ein Mann, weil man sagen muß. ein Mann (ist nur) ein Wort. Die erste Sünde auf der Erde – zum Glücke beging sie der Teufel auf dem Erkenntnisbaum – war eine Lüge; und die letzte wird auch eine sein; und den Wachstum an Wahrheiten büßet die Welt durch Verarmung an Wahrhaftigkeit.

§ 112

Die Lüge, der fressende Lippenkrebs des innern Menschen, wird vom Gefühle der Völker schärfer gerichtet und bestimmt als von den Philosophen. Die Griechen, die ihren Göttern so viel ungestraft erlaubten als sich jetzo deren Ebenbilder, die Erdengötter, verurteilen jene für einen Meineid – diese Wurzel- und potenzierte Lüge –, ein Jahr im Tartarus leblos unter Schimmel fest zu liegen, und neun Jahre Qualen zu dulden. Der alte Perser lehrte sein Kind aus der ganzen Sittenlehre nichts als die Warhaftigkeit; so schön setzt sich die grammatische Ähnlichkeit seiner Sprache mit der deutschen auch als moralische fort. Das alte Stammwort von Lügen ist nach AntonDessen Geschichte der deutschen Nation, I. S. 66. liegen; wahrscheinlich in Bezug auf den unterwürfigen Knecht, der weder Geist noch Leib aufrichten darf. Lüge und Diebstahl – der als eine handelnde Lüge ehrlos macht, nicht aber der Mord – und die Ohrfeige, welche der Altdeutsche mehr floh als die Wunde, werden von diesem in seinen Spruchwörtern einander nahe gebracht; und sein Anverwandter, der Engländer, kennt noch kein größeres Schimpfwort als Lügen. Das deutsche Turnier war dem LügnerSchmidts Geschichte der Deutschen. B. 4. so gut versperrt als dem Mörder; was freilich das größte Turnier anlangt, den Krieg, so öffnet die größte Lügenhaftigkeit einem Fürsten, mit welchem kein wahrer Vertrag und Friede zu machen ist, die Schranken zur ritterlichen Übung des Kriegs.

Kann sich dieser Haß falscher Hauche bloß auf die Verletzung gegenseitigen Rechts und Vertrauens oder auf den Schaden gebrochner Verträge gründen? – Dann widerspricht jene andere Erscheinung, daß wir lügendes Handeln viel leichter verzeihen, ja wählen als lügendes Sprechen. Die Tat, die Mimik, das Schweigen lügen öfter als die Zunge, welche der Mensch, solange er nur kann, vom häßlichen Belegen der Lüge – als ein Krankheitzeichen des innern Menschen – rein zu bewahren sucht. Himmel! sind wir nicht, ohne es zu wissen, schon an so viele Fiktionen utriusque (des Rechts und der Dichtkunst) an politische geheime Artikel – Afterlehne – Vice-Menschen – Zeremonienmeister – Komödien und Komödienproben – falsche Adern, Zähne, Waden u. s. w. duldend gewöhnt, ohne daß wir darum weniger erschrecken, wenn ein Mensch eine reine Lüge ausspricht? – Welche Verfälschungen überall, von dem sonst so lügenscheuen London an, wo dreiviertel falsches GeldColquhoun. umläuft, bis nach Peking, wo die bekannten hölzernen Schinken feil stehen, in Schweinhaut eingebunden!Grosier. – Wenn der vornehme Krieg- und Hofmann sich weniger eines Betrugs, eines Bankerutts schämt als einer Lüge, über deren Vorwurf er sich immer schießt und sticht; – und wenn Weltleute, ja selbst Moralisten sich lieber lügende Vieldeutigkeit ihrer Handlungen als eine scharfe Lüge verstatten; – wenn endlich keine Schamröte über eine Sünde so brennend ist als über eine lügende: so muß das Wort etwas Höheres sein als die Tat, die Zunge mehr als die Hand? – Aus der bloßen mimischen Vieldeutigkeit der Handlung – im Gegensatz der wörtlichen Eindeutigkeit – beantworten sich die Fragen nicht ganz, da jene der Tat oft mangelt, und da man sich bei aller Entschiedenheit des Tuns oft über die des Aussprechens bedenkt. – Man schämt sich nicht, dem andern Wesen Anfeindung und Untergraben, aber wohl ihm eine Lüge ins Gesicht geständig zu sein.

§ 113

Was macht sie nun so unheilig? Es ist dieses: zwei Ich sind einander wie auf Inseln entrückt und versperrt im Knochen-Gitter und hinter dem Haut-Vorhang. Bloße Bewegung zeigt mir nur Leben, nicht dessen Inneres. Selber das beseelte Auge spricht oft aus einer bloßen Raffaels-Madonna, die keinen Geist behauset, und das Wachsfigurenkabinett ist hohl und das Affen-Ich taubstumm. Durch welchen verklärten Leib wird nun das Menschen-Ich eigentlich sichtbar? – Bloß durch die Sprache, diese menschgewordne Vernunft, diese hörbare Freiheit. Ich rede von der allgemeinen angebornen Sprache, ohne welche alle besondere, als deren Mundarten, weder verständlich wären, noch möglich. In ihr allein tut sich – indes Instinkt und Maschine alle übrigen Zeichen des Lebens nachspielen können – die Freiheit eines Gedanken-Schöpfers durch eine freie Gedanken-Welt einem andern kund, und dieser Herold und Gesandte (Bathkol) der Freiheit begründet die Sittlichkeit, indem er die Ich wie Fürsten einander ankündigt. Das Zungenband ist das Seelenband, und es gibt keinen andern Gebrauch als Sprachgebrauch. Mit dem Munde wird zugleich das Geister-Testament geöffnet und der letzte Wille eingesehen. Nur durch das jetzige Übertragen des beweglichen Redens ins ruhende Schreiben oder Malen, durch dieses festmachende Kreuzigen der Seelen-Hauche hat die Gewalt der Rede und die Schwärze der Lüge scheinbar verloren; denn da alles nur Zeichen ist, so kann jedes Zeichen ins Unendliche wieder bezeichnet werden.

Nun aber trete ein Mit-Ich daher und sage mir die reine Lüge! Wie vernichtend! Sein Ich ist mir verflogen, nur die Fleisch-Bildsäule dageblieben; was sie spreche, ist, da sie das Ich nicht ausspricht, so bedeutunglos als der Wind, der mit allem Geheul doch keinen Schmerz anmeldet. Ein Wort vertilgt oder entziffert oft eine Tat, aber schwerer umgekehrt; und nur eine Taten-Reihe nimmt einem Worte den Stachel ab, oder gibt ihn der Zunge wieder. Der ganze Zauberpalast der Gedanken eines Menschen ist mir durch einen einzigen Laut der Lüge unsichtbar geworden, da eine alle gebiert. – Was hätt' ich noch mit dem zu reden, der seine eigne Kempelsche Sprachmaschine ist oder herumführt, indem er als Kempele andere Gedanken hat, als er eben auf der Maschine vororgelt? – Außerdem gibt er mir (eine Verletzung nicht über die Hälfte, sondern über das Ganze) für mein Ich eine Maschine, für meine Wahrheiten Irrtümer und bricht die Geisterbrücke ab, oder macht sie zu seiner Fall- und zur Aufziehbrücke gegen andere.


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