Jean Paul
Levana oder Erziehlehre
Jean Paul

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Zweites Kapitel

Antrittrede im Johanneum-Paulinum; oder Erweis, daß Erziehung wenig wirke

§ 4

Verehrtestes Scholarchat, Rektorat, Kon- und Subrektorat, Tertiat! Werteste Lehrer der untern Klassen und Kollaboratores! Ich drücke, hoff' ich, mein Vergnügen, als letzter Lehrer in unserer Erziehanstalt angestellt zu sein, nach meinen Kräften aus, wenn ich meinen Ehrenposten mit dem Erweise antrete, daß Schulerziehung so wie Hauserziehung weder üble Folgen habe, noch andere. Bin ich so glücklich, daß ich uns allen eine ruhige Überzeugung von dieser Folgenlosigkeit zuführe: so trage ich vielleicht dazu bei, daß wir alle unsere schweren Ämter leicht und heiter bekleiden – ohne Aufblähen – mit einer gewissen Zuversicht, die nichts zu fürchten braucht; – täglich gehen wir hinter den Zöglingen aus und ein und sitzen auf dem Lehrstuhl als unserem Sorgestuhl, und jede Sache geht ihren Gang.

Zuerst, glaub' ich, muß ich darstellen, wer erzieht und weiterbildet – denn gebildet, so oder so, ist doch alles neben und in uns –; darauf kommen wir von selber auf uns, und ich weise die leichte Verwechslung nach.

§ 5

Woher kommt es, daß noch kein Zeitalter so viel über die Erziehung sprach und riet und tat als unseres, und unter den Ländern wieder keines so viel als Deutschland, in welches Rousseaus geflügelte Samenkörner aus Frankreich verweht und eingeackert wurden? – Die Alten schrieben und taten wenig dafür; ihre Schulen waren mehr für Jünglinge als Kinder, und in Athens philosophischen Schulen war oder wurde der Zuhörer oft so alt als der Lehrer. Sparta war eine Stoa oder Garnisonschule für Eltern und Kinder zugleich. Die Römer hatten griechische Sklaven zu Schullehrern, ohne daß die Kinder weder Griechen noch Sklaven wurden. In den Zeiten, wo große glänzende Taten des Christentums und des Rittertums und der Freiheit wie Sterne am dunkeln Horizont Europas aufgingen, lagen die Schulgebäude nur als dumpfe, kleine, düstere Wilden-Hütten oder Mönchzellen verstreuet umher. Und was haben die politischen Selbstlauter Europens, die Engländer, deren Eiland eine Bürgerschule und deren Wahl nach sieben Jahren eine wandernde siebentägige Sonntagschule ist, noch jetzo Besseres als bloße Verziehanstalten? – Wo schlagen die Kinder den Eltern ähnlicher nach – und zu etwas anderm als seinem Spiegel, es sei zu einem platten, hohlen oder hohen, kann doch der Lehrer den Zögling nicht gießen und schleifen wollen – als eben da, wo die Erzieher schweigen, bei den Wilden, Grönländern und Quäkern? Und je weiter man in die Zeiten hinab, zu den eisgrauen Völkern hinein sieht, desto weniger Lehrbücher und Cyropädien – schon aus Mangel aller Bücher – gab es; desto mehr war der Mann in den Staat verloren; desto weniger wurde das Weib, das hätte erziehen können, dazu gebildet: dennoch wurde jedes Kind das Ebenbild der Eltern, was mehr ist, als die besten begehren dürfen, da Gott selber das seinige an den Menschen als Zerrbild sehen muß. Und sind nicht unsere jetzigen bessern Erziehanstalten ein Beweis, daß man sich aus schlechtern frei und eigenhändig zu höhern heben kann und folglich zu allen andern Anstalten desfalls?

§ 6

Wer erzieht denn aber in Völkern und Zeiten? – Beide! – Die lebendige Zeit, die mit so vielen tausend Menschen, durch Taten und Meinungen, und zwanzig, dreißig Jahre unaufhörlich, den Menschen wie mit einem Meere von Wellen anstrebt, ab- und zuführend, muß bald den Niederschlag der kurzen Erziehjahre, wo nur ein Mensch und nur Worte sprachen, wegspülen oder überdecken. Das Jahrhundert ist das geistige Klima des Menschen; die bloße Erziehung ist das Treibhaus und der Treibscherben, woraus man ihn in jenes auf immer hinausstellt. Unter Jahrhundert wird hier das reale Jahrhundert verstanden, das oft so gut aus Jahrzehenden als aus Jahrtausenden bestehen kann, und das sich, wie die Religion-Zeitrechnungen, nur von großen Menschen datiert.

Was vermögen abgeschiedene Worte gegen lebendig dastehende Tat! Die Gegenwart hat zu den neuen Taten auch neue Worte; der Erzieher hatte nur tote Sprachen für die Schein-Leichen seiner Muster.

Der Erzieher wurde ja selber erzogen, und von dem Geiste der Zeit, den er etwa aus der Jugend austreiben will (so wie sich eine ganze Stadt über den Geist der ganzen Stadt aufhält), ist er ohne sein Wissen früher besessen. Nur leider glaubt jeder so gerade und winkelrecht im Zenit des Weltall zu stehen, daß nach seiner Berechnung über seinem Kopfe Sonnen und Geschlechter kulminieren müssen, und er selber wie ein Gleicher-Länder keinen andern Schatten werfe als in sich hinein. Denn wäre dies nicht: wie können so viele – wie auch ich künftig vorhabe – über einen Geist der Zeit sprechen, da jedes Wort die Erlösung und Erhebung daraus voraussetzt, so wie man Ebbe und Flut nicht auf dem Meere spüren kann, sondern erst an seinen Grenzen, den Küsten? So wird ein Wilder sich einen Wilden nicht so klar entwerfen als ein Gebildeter. Aber, in Wahrheit, die Maler des Zeitgeistes schilderten meistens den nächstvergangnen ab, mehr nicht. Wie nicht einmal der große Mensch, Dichter und Denker sich ganz seiner so durchsichtig bewußt ist, daß der Kristalleuchter und das Licht eins würden: so noch weniger andere Menschen; jeder liegt, so leicht blühend er sich nach oben auftue, noch belastet mit einer Wurzel in der finstern festen Erde.

§ 7

Volk- und Zeit-Geist entscheidet und ist der Schulmeister und das Schulmeisterseminar zugleich; denn er greift den Zögling mit zwei mächtigen Händen und Kräften formend an: mit lebendiger Tatlehre und mit unausgesetzter Einheit derselben. Wenn – um von der Einheit anzufangen – die Erziehung gleich dem Testament ein fortdauernder Akt (actus continuus) sein muß, dem unterbrechende Einmengungen die Kraft entziehen: so erbauet nichts so fest als die Gegenwart, die keine Minute aufhört und sich ewig wiederholt, und die mit Not, mit Freude, mit Städten, Büchern, Freunden, Feinden, kurz mit tausendhändigem Leben auf uns eindringt und zugreift. Kein Volklehrer bleibt sich so gleich als das lehrende Volk. Die Geister, zu Massen eingeschmolzen, büßen von freier Bewegung – welche Körper gerade durch Masse zu gewinnen scheinen, z. B. die Weltkörper, vielleicht das Körper-All – etwas ein und rücken nur als schwerfällige Kolosse auf alten, eisern überlegten Gleisen besser fort. Denn so sehr auch Heiraten, Alter, Töten und Hassen sich bei dem Einzelwesen dem Gesetze der Freiheit unterwerfen: so kann man doch über ein ganzes Volk Geburt- und Sterblisten machen, und man kann herausbringen, daß im Kanton Bern (nach Mad. Stael) die Zahl der Ehescheidungen, wie in Italien die der Ermordungen, von Jahrzehend zu Jahrzehend dieselbe ist. – Muß nun nicht auf einer solchen immer und gleich wirkenden Lebenwelt der kleine Mensch wie auf einer fliegenden Erde fortgetragen werden, wo die einzelnen Richtungen, die der Erzieher geben kann, nichts vermögen, weil sie noch dazu selber erst auf ihr den Richtwinkel unbewußt empfangen? – Daher säen eben, trotz aller verschiedenen Re- und Informatoren, Völker wie Wiesen sich selber aus zu gleichem Schmelz; daher behauptet sogar in Residenzen, wohin sich alle Lehrbücher und Lehrmeister und selber Eltern aller Arten ziehen, der Geist sich unverändert fest.

Die Wiederholung ist die Mutter – nicht bloß des Studierens, auch der Bildung. Wie der Freskomaler, so gibt der Erzieher dem nassen Kalke Farben, die immer versiegen, und die er von neuen aufträgt, bis sie bleiben und lebendig blühen: wer trägt dann z. B. in Neapel die Farben am öftersten an einer Geistestafel auf, ein Hofmeister, oder die Zahl von 30 000 Advokaten, 30 000 Lazzaronis und 30 000 Mönchen, eine Parzen-Drei oder Neuntöter-Neune, wogegen der Vesuvius ein stiller Mann ist, der vom heiligen JanuarBekanntlich der Schutzheilige der Neapler gegen den Vesuv. (obwohl nicht im Januar) mit sich reden läßt?

Freilich könnte man sagen, auch in Familien erziehe neben der Volkmenge eine pädagogische Menge Volks, wenigstens z. B. Tanten, Großväter, Großmütter, Vater, Mutter, Gevatter, Hausfreunde, jährliche Dienerschaft, und an der Spitze winke der Informator mit Zeigefingern, so daß sich – könnte man fortfahren, weil man recht behalten wollte – ein Kind unter diesen Vielherren wirklich einem indischen Sklaven viel ähnlicher, als man dächte, ausprägte, welcher mit den eingebrannten Stempeln seiner Wechselherren umhergeht; aber wie schwindet die Menge dahin gegen die höhere, von der sie selber gefärbt wurde, so wie alle heiße Marken des Sklaven doch die heiße schwarze Färbung der Sonne nicht überwinden, sondern vielmehr sie einnehmen als ein Wappen in schwarzem Feld!

§ 8

Die zweite Überkraft, womit der Zeit- und Volkgeist erzieht und siegt, ist die lebendige Tat. Nicht das Geschrei, sagt ein sinesischer Autor, sondern der Aufflug einer wilden Ente treibt die Herde zur Folge und zum Nachsteigen. Ein erlebter Krieg gegen einen Xerxes glühet das Herz ganz anders, reiner und stärker an, als dreimal ihn exportieren im Cornel, Plutarch und Herodot; denn letztes und die ganze Schulphrasen-Erziehung ist nur eine geistige Korknachbildnerei (Phelloplastik nach Böttigers Zurückübersetzung ins Griechische), um antike Tempel und Prachtgebäude in leichten Korkformen gäng und gäbe zu machen. Ja, die bloßen Ahnenbilder von Taten in Plutarchs Westmünsterabtei werfen die Aussaat des göttlichen Worts tiefer ins Herz als ein oder ein paar tausend Predigtbände voll wahrer Kanzelberedsamkeit. Himmel, wären Worte zu Taten dicht zu schlagen, nur tausend zu einer: könnt' es dann auf einer Erde, wo von Kanzeln, Lehrstühlen, Bücherschränken aller Zeiten unaufhörlich die Flocken der reinsten kalten Ermahnungen schneien, noch eine einzige Leidenschaft geben, die vulkanisches Feuer auswürfe? Wäre die Geschichte rund herum dann nicht mit lauter Schneekratern und Eisbergen besetzt? – Ach! verehrteste Schullehrer, wenn wir selber nicht einmal von starken Gymnasium-Bibliotheken, welche jahrzehendelang predigen können, dahin gebracht werden, daß wir Monatheilige, ja nur Wochenheilige werden: was dürfen wir uns viel von den wenigen Bänden von Worten versprechen, die wir in der Schulstunde fallen lassen? – Oder auch mehr die Eltern sich zu Hause? –

Die pädagogische Unmacht der Worte beichtet sich leider selber in einem besondern Falle, der sich in jedem von uns täglich erneuert. Jedes Ich zerteilt sich nämlich in einen Lehrer und in dessen Schüler, oder zerspällt sich in den Lehrstuhl und in die Schulbank. Sollten Sie nun aber glauben, daß dieser ewige Hauslehrer in den vier Gehirnkammern – der seinem Stubenkameraden und Philanthropisten und Pensionär tägliche Privatissima liest – der ein Früh- und Spätprediger und Nachtprediger ist – der mit dem conversatorium und repetitorium wohl nie nachläßt – der den Zögling, den er liebt wie sich, und umgekehrt, überall mir Lehrnoten begleitet als Hofmeister auf Reisen, als Hofmeister auf Lotterbetten, auf Weinbänken, auf Thron- und andern Sitzen, auf Lehr- und Nachtstühlen – der als das unumschränkteste Oberschulkollegium, das unter der Hirnschale zu finden ist, mit dem Scholaren, wie ein Werber mit einem Rekruten, stets in einem Bette schläft und von Zeit zu Zeit manches erinnert, wenn der Mensch sich vergessen hat – – kurz, sollten Sie es wohl glauben, daß ein so äußerst seltner Mentor, der von der Zirbeldrüse, als der Loge zum hohen Licht, ewig herunter lehrt, gleichwohl nach funfzig und mehr Dezisionen und Jahren nichts Besseres an seinem Telemach erlebt, als was die reine Minerva (der sehr bekannte und anonyme Mentor im Telemach) mit allen ihren Keuschheiten im größten Kopfe von der Welt, in Jovis seinem, auch erleben mußte, nämlich, daß sie ihrem Schüler keine einzige seiner tierischen Verwandlungen ersparen konnte? – Schwerlich wäre dergleichen glaublich, wenn wir nicht täglich die kläglichsten Fälle davon sähen – in uns selber. So ist es z. B. in der Gelehrtengeschichte etwas sehr Gewöhnliches und Erbärmliches, daß treffliche Männer sich mehre Jahrzehende hindurch vorsetzten, morgens früher aufzustehen, ohne daß – wenn sie es nicht etwa am jüngsten Tage durchtreiben – viel daraus geworden.


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