Jean Paul
Levana oder Erziehlehre
Jean Paul

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Sechstes Kapitel

Gebieten, Verbieten

§ 63

Diesen Paragraphen könnte Rousseau nicht schreiben; denn er war anderer Meinung. Ich bin aber der Basedowschen und glaube nicht, wie jener, daß der elterliche Wille je den Schein eines bloßen Geschicks annehmen könne und dürfe. Belohnen und bestrafen bloß durch physische Folgen und Anstalten und so überhaupt die ganze Erziehung Rousseaus würde einen erwachsenen Menschen für einen wachsenden Menschen verbrauchen; aber zu bloßem Erziehen wieder zum Erziehen ist das Leben nicht geschaffen. Auch erkennt Rousseau selber nur Annäherung für möglich; allein dann ist man überall vom Ziele gleichweit entfernt, da es hier nicht auf Vernichtung eines Grades, sondern einer Art ankommt. Zum Glück ist dem kindlichen Geiste selber diese Lauf- oder Irrbahn verbauet.

Wie käme denn das Kind zum Nachgefühle der Notwendigkeit ohne das Vorgefühl der Freiheit, die es aber in andern oder seinesgleichen so stark sehen muß als in sich? Vielmehr muß das Kind – von sich ausgehend – alles für drei ansehen, sogar die tote Materie, und sich über jeden Widerstand, als sei er ein geistiger, erbittern. Je tiefer hinab die Seelenkette hängt, desto breiter läuft das Frei-Meer auseinander. Der Hund beißt in den Stein – das Kind schlägt beide – der Wilde sieht im Gewitter einen Krieg, von Geistern entzündet und gelenkt. – Erst vor dem hellern Auge steht jene eiserne lichtlose Masse mitten im Universum als schwarze Sonne, die wir Notwendigkeit nennen. Sogar diese holt der freie Geist, der mit Freiheit anfängt und aufhört, erst aus dem Verstande in die Vernunft, aus der Endlichkeit in die Unendlichkeit ab. Das Kind vollends, das alles zum Ich macht, folglich eueres am ersten, findet in jeder Begebenheit eine Handlung und im Hindernis einen Feind. Erfahren wir Alten denn nicht durch ein ganzes Leben die eiserne Allmacht der Natur, ohne gleichwohl, wenn sie dasselbe unwiderruflich beschließt, z. B. den Tod, oder verbittert, z. B. das Alter, uns sanft und ohne Klage in sie zu ergeben? – Und wovon holen denn die physischen Folgen ihren Erziehruhm als von der Unabänderlichkeit der Natur? Nun so erscheine denn der freie Wille dem Kinde ebenso folgerecht und unaufhaltsam! Dann erschauet es eine höhere Notwendigkeit als die stockblinde. – Ferner: gibt es denn eine, die mehr zum Erdulden übte als die geistige der fremden Willkür? Und wenn es für das Tier, diesen Abcschützen und Lehrsklaven des Menschen, nur unmittelbare Folgen und Belehrungen gibt: soll darauf der Mensch keine mittelbaren, keine menschlichen kennen dürfen? – Und zuletzt, wie soll im Kinde der Glaube an Menschen – dieses herrliche Bundeszeichen menschlicher und höherer EinheitÜber den Kinderglauben siehe das letzte Kapitel dieses Bruchstücks. – zum Leben kommen ohne Gegenstand, ohne elterliche Worte, denen es zu vertrauen hat?

§ 64

Es kommen folglich bloß die Weisen des Ge- und Verbietens in Betracht. – Man verzeihe hier die wilde Anordnung der bloßen Erfahrunglehre.

Habt keine Freude am Ge- und Verbieten, sondern am kindlichen Freihandeln. Zu häufiges Befehlen ist mehr auf die elterlichen Vorteile als auf die kindlichen bedacht.

An euer Wort sei zwar das Kind unzerreißlich gebunden, aber nicht ihr selber; ihr braucht keine edicta perpetua zu geben, sondern eure gesetzgebende Macht kann jeden Tag neue Dekretal- und Hirtenbriefe erlassen.

Verbietet seltener durch Tat als durch Worte; reißet dem Kinde das Messer nicht weg, sondern lasset es selber auf Worte es weglegen; im ersten Falle folgt es dem Drucke fremder Kraft, im zweiten dem Zuge eigner.

Eure Gesetztafel sei unzerbrochen und mit erhabner Schrift. Verbietet lieber das Ganze, wenn euch die Teile schwer auszuheben werden, z. B. das Anrühren des ganzen Tisches, ob ihr gleich nur einzelne Gefäße darauf beschirmen wollt.

Das Kind erlerne und erfahre an sich selber das Recht, das es von andern einfodert. Folglich werde ihm die Achtung des Eigentums entschieden und ohne Schonung angemutet. Was gehört denn dem Kinde? Vater und Mutter, mehr nicht; alles andere gehört dem Vater. Da aber jeder Mensch eine Erde für sich, ja ein Universum für sich begehrt, als Erblehen: so miß dem Kleinen das Kleine zu und sage: »Mehr nicht!«

Das Kindsohr unterscheidet sehr den starken Ton vom zürnenden; die Mutter fällt leicht in diesen, wenn sie jenen dem Vater nachzumachen denkt. Seine Verbote werden aus drei Gründen besser erfüllt als ihre; der erste, seine stärkere und doch weit vom Zorne entlegene Stimme, ist schon angesagt. Der zweite ist, daß der Mann meistens, wie der Krieger, immer nur ein und folglich dasselbe Schlag- und Wurzelwort und Kaiser-Nein sagt, indes Weiber schwerlich ohne Semikolon und Kolon und nötigste Frag- und Ausrufzeichen zum Kinde sagen: laß! Gibt es in der Geschichte ein Beispiel, daß eine Frau je einen Jagdhund abgerichtet? – Oder drückte eine Flügelmännin, wenn sie ihrem marschierenden Heere befahl: Halt!, sich anders aus als so: »Ihr Leute insgesamt, sobald ich ausgeredet habe, so befehl' ich euch allen, daß ihr auf der Stelle stille stehen bleibt; halt, sag' ich euch!«? Der dritte Grund ist, daß der Mann das Neinwort seltener zurücknimmt.

Die feinste Politik, sagt man, sei pas trop gouverner; es gilt auch für die Erziehung. Aber um nur immer zu reden und lieber klingendes Silber als stummes Gold zu sein, predigen einige Erzieher so oft gegen Fehler, die mit der Kindheit sterben, und für Tugenden, die mit den Jahren kommen, als gegen Fehler und für Tugenden, die mit dem Alter wachsen. Wozu z. B. die voreilige Eile mit Gehen-Lehren, Stricken-Lehren, Lesen-Lehren, als ob diese Künste nicht endlich von selber anlangten? Aber etwas ganz anders ist z. B. reine Aussprache, rechtes Schreiben und Körper- und Feder-Halten dabei, Ordnung-Sinn etc., lauter an den Jahren wachsende Fertigkeiten. Da leider ohnehin Ziehen und Lehren so viele Worte fodert: so spare man doch die gegen verwelkliche Fehler lieber für fortblühende auf. Karge Sprache bereichert und spannt wie mit Rätseln das auslegende Kind. Tun dasselbe doch Erwachsene gegeneinander; z. B. ein großer Mann meiner Bekanntschaft sagt zumal anfangs im Fremden-Zirkel wenig mehr als etwan hem hum, doch sehr leise; aber so wie (nach der indischen Mythe) die schweigende Gottheit ihre Ewigkeit unterbrach und die Schöpfung anfing, bloß daß sie ähnlicherweise sagte: oumGörres' Mythengeschichte., so gibt der gedachte Mann bloß durch sein hum jedem viel zu denken. Ja, ich kenne noch eine größere und nützlichere Einsilbigkeit als selber die sinesische, nämlich die Kein-Silbigkeit oder das Schweigen. Junge Ärzte, welche über gewöhnliche ärztliche Wissenschaften nicht die Naturphilosophie vergessen wollten, sondern umgekehrt über diese jene, bedienen sich desselben in Prüfungen vor dem collegium medicum sehr oft auf ganz gemeine Fragen –, wie Sokrates schwieg, wenn er zürnte, so wollen sie ebenso ihre Entrüstung über Fragen nach elenden Kenntnissen, die vor ihnen und gegen die sie immer fremd geblieben, durch Schweigen ausdrücken.

Doch zurück von der Abschweifung, die wohl sich weniger unter die Verbesserungen als unter die Vermehrungen der zweiten Auflage stellen darf. Manche von uns Lehrern geben ferner sittlichen Ver- und Geboten Gründe auf den Weg zum Herzen mit, welche eben Ungründlichkeit sind, da den allerstärksten Beweis schon das Gewissen des Kindes selber führt; aber den medizinischen, gymnastischen und ähnlichen Befehlen ist, da sie im Kinde an der Stelle eines Fürsprechers bloß Begierde und Unwissenheit finden, ein Gefolge von Gründen nützlich. –

Ferner: wir Erwachsene haben und bekennen alle (aber ohne sonderlichen Nutzen fahren wir sogar uns selber an) den Fehler, daß wir jeden Kindes-Unterschied von uns für einen Mangel, unser Tadeln für Lehren, kindliche Fehler für größer als eigne halten und daher bei solcher Gewißheit unser Erziehleitseil und Gängelband ohne Bedenken zum seidnen Erdroßlung-Stricke drehen und gern das Kind zu einer netten korkenen Schweiz unserer Alpen (wie Pfyffer die höhern) ausschneiden; daher wir denn auch, da dergleichen schwer geht, in einem fort reden, wie die Muschel-Seetrompete unaufhörlich tönt, und wir mit unserer Schulkreide immer von dem Schnabel des festgehaltenen niedergedrückten Huhns den breiten Strich hinzeichnen und verlängern, damit das Huhn immer nach demselben Gedankenstriche und Treppenstricke hinstarre, ohne aufzukönnen.

Sogar ein Erwachsener, welchem ein anderer tagelange mit tragbaren Kanzeln und Beichtstühlen nachsetzte und dem er daraus Predigten und Verdammungen nachspritzte, würde zu keiner echten Tätigkeit und sittlichen Freiheit gelangen, geschweige aber ein schwaches Kind, das mit jedem Leben-Schritte sich in ein: »Halt – Lauf – Laß – Mach!« verstricken muß. Es ist derselbe Fehler wie das Ausfüllen und Ausstopfen eines Tages mit lauter Lehrstunden, unter welchem Wolkenbruche von Lehren besonders die Fürstenkinder stehen, gleichsam um durch die Lehr-Flut die künftige Lern-Ebbe gut zu machen. Was heißt aber dies anders als in einem fort einen Acker mit Samen auf Samen voll säen? Daraus kann wohl ein toter Kornspeicher, aber kein lebendiges Erntefeld werden. Oder – in einer andern Gleichung – euere Uhr steht so lange, als ihr sie aufzieht; und ihr zieht Kinder ewig auf und laßt sie nicht gehen.

Dieselbe Ursache, warum die Kinder mehr das Feuer fürchten, weil es jedesmal verbrennt, und weniger das Messer, weil es nicht immer verwundet, gilt für das verschiedne Fürchten vor Vater und vor Mutter: jener ist das Feuer, diese das Messer. Der Unterschied liegt nicht in der Strenge – denn eine aufgebrachte Mutter ist die Strenge selber –, sondern in der Unabänderlichkeit. – Je jünger das Kind, desto mehr ist Einsilbigkeit notwendig; ja sie ist nicht einmal nötig: schüttle den Kopf, und damit gut. Höchstens sagt: Pst! – Später sagt mit sanfter Stimme Gründe, bloß um durch die schönen Zeichen der Liebe den Gehorsam sanfter herbeiführen. Denn heftiges Abschlagen wiederholt sich im Kinde als heftiges Abfodern.

Verbietet mit leiser Stimme, damit eine ganze Stufenleiter der Verstärkung freistehe, – und nur einmal. Das letzte kostet Arbeit. Schon im Kinde herrscht jenes Verzugsystem des Menschen, der zu jedem schnellen Entschluß drei Marschbefehle und drei Vorladungen samt einigen Respekt-Stunden Zeit haben will. Kommt daher nicht vor Wut stärker außer euch, als sich schickt, wenn ein Kind z. B. ein verbotenes Lärmschlagen mit einem so fein berechneten Allegro ma non troppo und mancando schließt, daß ihr selber zuletzt das Widerstreben vom Gehorchen nicht recht mehr sondern könnt. Hier bleibt keine Wahl als: entweder Strafe für den unendlich kleinsten Ungehorsam, oder nach dem ersten Gehorsam Nichtachten auf den Rest; jene aber scheint mir besser. Es gibt aber ein schöneres Zögern – das elterliche. Das erste und schnellste Wort, das ein Vater einem erbittenden Kinde oder Weibe oder Diener antwortet, ist: Nein; darauf sucht er zu bejahen und sagt am Ende Ja, anstatt am Anfange. Die Mutter machts noch ärger. Aber könnt ihr denn euch für das Kind – oder wers sonst ist – keine Rüst-Frist, keine Vorzeit vor dem Ausspruche bloß dadurch erringen, daß ihr auf jedes Begehren nur antwortet. »Komme wieder, oder hernach, oder in drei sächsischen Minutenfristen«? Weiber, bloß dieses Verzuggesetz böte euch ein Mittel an, mit euch und mit andern seltner in Widerspruch zu kommen.

Ein zweites elterliches Verschieben – das der Strafe – gilt für Kinder der zweiten Fünfjährigkeit (Quinquennium). Eltern und Lehrer würden öfter nach dem Lineal der feinsten Gesetzmäßigkeit abstrafen – ohne jedes hölzerne –, wenn sie nur nach jedem Kindsverbrechen vierundzwanzig zählen wollten, oder ihre Knöpfe, oder ihre Finger. Sie ließen dadurch die betäubende Gegenwart um sich – so wie die um das Kind – verlaufen, das kalte stille Reich der Klarheit bliebe zurück, und sowohl das Kind als der Vater würden – (gesetzt z. B. Zorn wäre sonst sowohl der Gegenstand als der Vermittler der Strafe gewesen, oder die Züchtigung zugleich die Wiederholung des Fehlers) – am zurückgespiegelten Wechselschmerz den fremden achten lernen. Beccaria heftet die Strafe oder den Knutenmeister dicht an die Ferse des Verbrechers mit Recht, weil sonst Mitleid und Vergessenheit nur wider, nicht für den Todesrichter wirken; – aber die vorausgesetzte weite Willkür der elterlichen Rüge hat vor Zuschauern wie vor dem Kinde und in den Machthabern selber den mildernden Anstrich der Zeit vonnöten. Nur bei deinen jüngsten Kindern kette die Strafe sich in den Fehler ein, gleichsam als physische Wirkung in die Ursache.

§ 65

Man sollte den Eltern, nach den unabänderlichen Ge- und Verboten, auch noch einige Wünsche sagen, deren Erfüllung nur auf der Liebe und Willkür der Kinder beruhten, um diese in Freiheit und Liebe und Verdienst vorzuüben. Ich will es tun.

Der kindliche Gehorsam kann, an und für sich, ohne Berechnung mit seinem Motiv, keinen andern Wert haben, als daß den Eltern vieles dadurch leichter wird. Oder gält' es euch für Seelenwuchs, wenn euer Kind nun überall so vor allen Menschen wie vor euch seinen Willen unterordnete, böge und bräche? Welcher gelenkige, geruderte Gliedermensch, aufs Rad des Glücks geflochten, wäre das Kind! Allein was ihr meint, ist nicht dessen Gehorchen, sondern dessen Antriebe dazu, die Liebe, der Glaube, die Entsagkraft, die dankende Verehrung des Besten (nämlich des Eltern-Paars)! – Und dann habt ihr recht. Aber um so mehr gebietet nirgends, wo euch das höhere Motiv nicht selber aufruft und gebeut. Das Verbieten wird das Kind, das alles nur für unabhängiges Eigentum der Eltern ansieht, weniger irren und empören als das Gebieten, da der junge Geist doch weiß, daß er wenigstens ein Eigentum habe, sich selber und das Recht.

Die Mütter rufen zum Ge- und Verbot, das sie geben, gern die Zerstreumethode zur Hülfe, welche dem Kinde auf lustigen Umwegen das Befehl-Ziel verbirgt. Aber durch dieses schmeichelnde Vermummen lernt das Kind keine Zucht und keine Regel kennen, sondern alles Rechte und Feste verwandelt sich vor seinem kurzsichtigen Auge in ein frohes Zufall-Spiel, das an nichts gewöhnt und härtet.

Ferner: die Kinder, immer nur die Kostgänger der elterlichen Gaben, sind so gerne einmal die Wirte ihrer Wirte und tun freudiger die Werke der Liebe als der Not, so wie die Eltern lieber beschenken als bezahlen. Mit dem sanftesten Stimm-Tone werde denn also (aber ohne Gründe) die Gefälligkeit begehrt und mit der Freudigkeit über ihre Erfüllung belohnt; doch aber ihr Versagen nicht bestraft. Nur den Sklaven peitscht man zum Überverdienst; aber selber das Kamel trabt nicht vor der Peitsche, sondern nur hinter der Flöte schneller. – Kinder, hat man bemerkt, hegen eine besondere Neigung für den Stand ihrer Großeltern; aber warum dieses, als weil eben diese wenig aufdringen und anbefehlen, und folglich von ihnen die Enkel desto lieber annehmen. – Endlich: könnt ihr eine Strafe schöner mildernd auslöschen, als wenn ihr nach derselben das Kind mit eurem Wunsch einer Gefälligkeit für irgend jemand beglückt? – Das weitere im Kapitel von der Bildung zur Liebe.


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