Jean Paul
Levana oder Erziehlehre
Jean Paul

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Zweites Kapitel

Freudigkeit der Kinder

§ 45

Sollen sie etwas anders haben? – Einen traurigen Mann erduld' ich, aber kein trauriges Kind; denn jener kann, in welchen Sumpf er auch einsinke, die Augen entweder in das Reich der Vernunft, oder in das der Hoffnung erheben; das kleine Kind aber wird von einem schwarzen Gifttropfen der Gegenwart ganz umzogen und erdrückt. Denkt euch ein Kind, das zum Blutgerüste geführet würde – denkt euch Amor in einem deutschen Särglein – oder seht einen Schmetterling nach dem Ausreißen seiner Vierflügel kriechen als Raupe: so fühlt ihr, was ich meine.

Aber warum? Die erste Ursache ist schon angegeben: das Kind, wie das Tier, kennt nur reinsten Schmerz, obwohl kürzesten, nämlich einen ohne Vergangenheit und Zukunft; ferner einen, wie ihn der Kranke von außen, und der Träumer von sich empfängt, ins asthenische Gehirn hinein; endlich einen mit Bewußtsein nicht der Schuld, sondern der Unschuld. Freilich sind alle Schmerzen der Kinder nur kürzeste Nächte, wie ihre Freuden nur heißeste Tage; und zwar beides so sehr, daß in der spätern, oft wolken- und sternlosen Lebenzeit sich der aufgerichtete Mensch mir alter Kinderfreuden sehnsüchtig erinnert, indes er der Kinderschmerzen ganz vergessen zu haben scheint. Sonderbar sticht gegen die wache Erinnerung die entgegengesetzte in Traum und Fieber dadurch ab, daß in letzten beiden immer nur der graue Schmerz der Kindheit umkehrt; der Traum – diese Nebensonne der Kindheit – und das Fieber – dieser Verzerrspiegel derselben –, beide ziehen gerade die Schrecken der unbewehrten Kindheit aus düstern Eulenwinkeln hervor, welche mit Eisenschnäbeln auf die liegende Seele dringen und hacken. Die schönen Szenen des Traums spielen meistens auf späterem Schauplatz; indes die fürchterlichen die Wiege und Kinderstube dazu wählen. Vollends im Fieber strecken die Eishände der Geisterfurcht, die schlagenden der Lehrer und Eltern und jede Tatze, womit das Schicksal ein blutjunges Herz eindrückte, sich alle nach dem irren Menschen aus. Eltern, bedenkt also, daß jeder Kindheit-Ruprecht, wenn er Jahrzehende lange an der Kette gelegen, davon sich losreißet und über den Menschen herwirft, sobald er ihn auf dem Krankenlager findet. Der erste Schreck ist desto gefährlicher, je jünger er fällt; später erschrickt der Mensch immer weniger; der kleine Wiegen- und Betthimmel des Kindes wird leichter ganz verfinstert als der Sternenhimmel des Mannes.

§ 46

Heiterkeit oder Freudigkeit ist der Himmel, unter dem alles gedeihet, Gift ausgenommen. Nur werde sie nicht mit dem Genusse vermengt. Jeder Genuß, und wär' es der feine eines Kunstwerks, gibt dem Menschen eine selbstische Gebärde und entzieht ihm Teilnahme; daher ist er nur Bedingung des Bedürfnisses, nicht der Tugend. Hingegen Heiterkeit – der Gegensatz des Verdrusses und Trübsinns ist zugleich Boden und Blume der Tugend und ihr Kranz. Denn Tiere können genießen, aber nur Menschen können heiter sein. Der heilige Vater heißt zugleich der selige; und Gott ist der Allselige. Ein verdrießlicher Gott ist ein Widerspruch oder der Teufel. Der stoische Weise muß Verschmähung des Genusses mit Bewahrung der Heiterkeit vermählen. Der christliche Himmel verspricht keine Genüsse, wie etwa der türkische, aber den klaren, reinen, unendlichen Äther der himmlischen Freude, die aus dem Anschauen des Ewigen quillt. Der Vorhimmel, das Paradies – welchem die ältern Theologen die Genüsse absprachen, nicht aber die Heiterkeit –, beherbergte die Unschuld. Der erfreuete Mensch gewinnt unser Auge und Herz, so wie beide der verdrießliche abstößt, indes bei Genüssen umgekehrt wir dem schwelgenden den Rücken, und dem darbenden das Herz zuwenden. Wenn der Genuß eine sich selber verzehrende Rakete ist: so ist die Heiterkeit ein wiederkehrendes lichtes Gestirn, ein Zustand, der sich, ungleich dem Genusse, durch die Dauer nicht abnützt, sondern wiedergebiert.

§ 47

Laßt uns nun wieder zu den lieben Kindern kommen. Ich meine nämlich eben, sie sollen ihr Paradies bewohnen, wie die ersten Eltern, diese wahren ersten Kinder. Aber Genüsse geben keines, sondern helfen es nur verscherzen. Spiele, d. h. Tätigkeit, nicht Genüsse erhalten Kinder heiter. Unter Genuß versteh' ich jeden ersten angenehmen Eindruck, nicht nur des Geschmackes, auch des Ohres und Auges; ein Spielzeug gibt zuerst Genuß durch seine Erscheinung, und erst Heiterkeit durch seinen Gebrauch. Der Genuß aber ist ein stechender Brennpunkt, keine umfließende Wärme; vollends auf der erregbaren Kindeshaut. Ferner, wenn gebildete Lebenzecher und Verschlucker ihren Genuß durch Zukunft und Vergangenheit einfassen und ausdehnen: so können die Kinder, aus Mangel an beiden, nur kürzeste und folglich stärkste Genüsse zugleich haben, ihr Augenblick ist, wie ihr Auge, kleiner als unserer; der Brennspiegel der Lust soll sie mithin nicht im Brennpunkt-Abstande, sondern breiter und milder treffen. Mit andern Worten: zerteilt die dichte Lust in Lustbarkeiten, einen Pfefferkuchen in Pfeffernüßchen, Weihnachten in ein Kirchen-Jahr. In einem Monat von neunundzwanzig Tagen wäre ein Kind geistig zu zersetzen, wenn man jeden Tag davon zu einem ersten Weihnachttage machen könnte. Nicht einmal ein erwachsener Kopf hielte es aus, jeden Tag von einem andern Lande gekrönt zu werden, den ersten in Paris, den zweiten in Rom, den dritten in London, den vierten in Wien. Aber kleinere Genüsse wirken wie Riechfläschchen auf die jungen Seelen und stärken von Tätigkeit zu Tätigkeit.

Gleichwohl gilt diese Freudenverästung nur für die frühesten Jahre; später wird umgekehrt ein Johannisfest, eine Weinlese, eine Fastnacht, worauf die Kinder lange warten, mit der Nachlese einer vollen reichen Erinnerung ihnen in den darbenden Zwischenräumen desto stärker schimmern.

Hier werde ein Wort über die Naschhaftigkeit der Kinder verloren, gegen welche Schwarz vielleicht zu eifrig eitert. Noch hab' ich kein Kind gekannt, für welches nicht Süße, Fett und Backwerk die meisterhaftesten Küchenstücke und Altarblätter gewesen wären, und dies schon bloß darum, weil ein Kind halb Tier, halb Wilder, also der Geschmack selber ist. Die Biene hat zugleich einen Honig- und einen Wachs-Magen; aber bei Menschen hat jenen nur das Kind, diesen der Erwachsene. Wenn Schwarz Naschhaftigkeit und Unkeuschheit immer gepaart gefunden: so kann er dies nur für das Alter der Mannbarkeit aussprechen, aber dann war Eß-Liebhaberei nur die Folge und Begleitung der tiefern Geschlecht-Liebhaberei, nicht aber die Ursache derselben. Allerdings wird der zuchtlose Lüstling mit Speisen wechseln, also auch mit Geschmäcken, wie der Eß-Schwelger, aber aus andern Gründen; hingegen wie könnte die von jedem Jüngling-Jahre mehr entkräftete Geschmacklust sich in niedere Geschlechtlust auflösen, da sogar gemeine Seelen in Rücksicht der Liebe Ägypten gleichen, wo die Götter früher regierten als die irdischen Menschen! – Die Väter hüpfen nicht, aber die Kinder; nun so lasse man diesen auch ihre andern ägyptischen Fleischtöpfchen vor der Ausreise in die Wüste. – Verfasser dieses machte oft die Zuckerinseln der Zunge, auf welchen an und für sich kein paphischer Hain nachwächst, zu einer Art von Palästra der Entsagung; indes erzählt er die Sache, sich mißtrauend, nur als Frage, nicht als Antwort. Er gab z. B. den zwei- und dreijährigen Kindern kandiertes Marzipan (das gesündeste) unter dem Befehle, bloß an einer bestimmten Stelle und nur so lange zu lecken, als er erlaubte. Die Kinder lernten Wort achten und Wort halten. Ebenso setzte er Zucker- oder Honig-Preise für das Ertragen der meisten Handschmerzen aus; doch tat ers selten.

Die meisten Fürstenkinder können die Untersuchung abkürzen durch ihren Ausspruch. Denn was Genüsse angeht, so bekommen sie alles, von Spiel-, Trink- und Eßwaren an bis zum Wagensitz und Bettpolster; was Erheiterung anlangt, so werden sie bloß gequält von Hofmeistern an bis zum Hofe, so daß man der Fürstenkrone schon früh die Dornenkrone unterbettet, oder, anders zu sprechen, den schwarzen Trauerrand im Verhältnis des hohen Ranges breiter macht. Denn in der Tat, wenn man bedenkt, wie gewöhnlich ein Prinz, essen- und trinkensatt, erzogen wird, daß er keinen Schritt ohne Hofmeister und Predigt tun kann, keinen Sprung ohne Tanzmeister, keinen frischen Luftzug ohne vier Pferde: so müßte man fast glauben, der alte Irrlehrer Basilides habe bei den Fürsten von neuem recht, wenn er behauptete, daß die ersten Christen oft Märterer geworden wegen künftiger Sünden, träten nicht die Nachwehen noch zu den Vorwehen der Zukunft.

Freudigkeit – dieses Gefühl des ganzen freigemachten Wesens und Lebens, dieser Selbstgenuß der innern Welt, nicht eines äußern Weltteilchens – öffnet das Kind dem eindringenden All, sie empfängt die Natur nicht lieb-, nicht wehrlos, sondern gerüstet und liebend und lässet alle jungen Kräfte wie Morgenstrahlen aufgehen und der Welt und sich entgegenspielen, und sie gibt Stärke, wie die Trübseligkeit sie nimmt. Die frühern Freudenblumen sind nicht Kornblumen zwischen der Saat, sondern jüngere kleinere Ähren. Es ist eine liebliche Sage, daß die Jungfrau MariaPertschens Kirchenhistorie. und der Dichter Tasso als Kinder nie geweinet.

Aber nur ist die Frage nach den Mitteln und Gestirnen, die diese Heiterkeit gewähren! – Wenn es auf bloße verneinende Bedingungen und auf körperliche ankäme: so wäre – wenigstens für das lehrreichste Halbjahr des Lebens, nämlich für das erste – alles herbeigeschafft bei einem Kinde, das im Frühling geboren worden. Warum fangen nicht die Menschen das Leben, wie orientalische Völker das Jahr, mit dem Frühling an? Ein Kind, in dieser Zeit geboren, – könnte ohne Lüge ein Kalender sagen – geht langsam von Reiz zu Reiz, von Grün zu Blumen, von Stuben- zu Himmelwärme – die Luft ist noch nicht sein Feind – statt der Stürme wehen Melodien in den Zweigen – wie zu einem halbjährigen Feste der Erde geboren, muß es glauben, so bleibe das Leben – es sieht die reiche Erde, später nur deren Decke aufgedeckt – und die Lebenlust, womit die säugende Mutter sich tränkt, quillt heiß durch das kleine Herz.


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