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26. Neues Leben in der Villa

Zwei Jahre sind vergangen. Im Dunkerschen Hause hat sich wenig verändert, desto mehr in der Villa der Frau Röder. Es ist, als ob durch das Auffinden der Enkelin ein neues Leben dort eingekehrt sei. Es war vorauszusehen, daß Evas Übersiedlung aus dem Hause der geliebten Pflegeeltern zur Großmutter bald erfolgen mußte. Die Trennung von Dunkers wurde Eva nicht so leicht, doch wer konnte es der alten Dame verargen, daß sie wünschte, ihre Enkelin so bald wie möglich ganz um sich zu haben, sich in den letzten Jahren ihres Lebens am sonnigen Gemüt, an der immer gleichbleibenden Freundlichkeit des lieblichen jungen Mädchens zu erfreuen und zu erquicken. Sie lebte seitdem ordentlich auf. Konnte sie früher stundenlang vor sich hinträumen, so war sie jetzt gleichsam verjüngt, nahm an allem teil, war wieder zugänglich für andere Menschen und beteiligte sich in Haus und Garten an dieser oder jener Arbeit. Besonders rege wurde der Verkehr mit den Nachbarn, Evas Pflegeeltern, aufrecht erhalten. Es war gleich zur Bedingung gemacht, daß man regelmäßig jede Woche zusammenkam.

Heute ertönte lieblicher Gesang aus dem Gartenzimmer, dessen Glastüren weit geöffnet standen. Frau Röder saß mit Frau Maria auf der Veranda, während drinnen die jungen Mädchen, Eva und Gertrud, nachdem sie erst vierhändig miteinander gespielt, ein Duett sangen. Sie hatten beide hübsche Stimmen, die durch Gesangstunden, die sie bei einer tüchtigen Gesanglehrerin nahmen, noch mehr ausgebildet wurden. Sie hatten eben ein Lied beendet, als Frau Röder rief: »Nun noch mein Lieblingslied, meine Eva.«

»Harre meine Seele, Großmütterchen?«

»Ja, mein Kind, singe es mir! Das Lied hat mich oft getröstet, wenn ich es las in meiner Einsamkeit. Wenig ahnte ich, daß es mir noch einmal von meiner lieben Enkelin gesungen würde.«

»Ja, Gottes Wege sind wunderbar«, antwortete Frau Maria. »Wer hätte je gedacht, daß Sie, liebe Frau Röder, je nach P. übersiedeln würden, und daß wir die verwaiste Eva ins Haus bekommen mußten, damit Großmutter und Enkelin sich hier fänden?«

Als die Mädchen geendet hatten, setzten sie sich mit ihrer Handarbeit zu den Damen.

»Wie geht es Ihrer lieben Tochter, der Pastorin Hemsing?«

»Danke, Frau Röder, ihr und dem kleinen Buben geht es, Gott sei Dank, gut. Ich hatte heute einen Brief, schon von ihr selber. In acht Tagen soll die Taufe sein. Mein Mann ist Pate, und nun hat Gretchen den Wunsch, daß ihre liebste Freundin und Pflegeschwester Eva auch Patin bei ihrem Erstgeborenen sein möchte.«

»Nicht Gertrud?« fragte Frau Röder.

»Nein, Eva als die Ältere sollte den Vorzug haben, und meines Schwiegersohns Schwester, die Etty.«

Evas Augen strahlten. So etwas Schönes hatte sie nicht erwartet.

»Da müssen wir nun die gute Großmama um Urlaub bitten, wenn sie nicht selber Lust hat, mitzureisen.«

»Ich will mir's überlegen«, meinte Frau Röder. »Gewünscht habe ich es mir lange, das liebe Gretchen einmal in ihrem Heim als Frau Pfarrer zu sehen, und da es gerade Sommerszeit ist –«

»O Großmütterchen, es wäre herrlich, wenn du mitkommen möchtest. Da brauchte ich dich nicht zu verlassen.«

»Ja«, fuhr die Großmutter nachdenklich fort, »wenn ich noch Platz finde. Die Familie Dunker geht vor.«

»Platz gibt es in Hülle und Fülle in dem großen Pfarrhaus«, rief Frau Dunker. »Es wäre ja köstlich, wenn Sie uns begleiten. Von unseren Kindern werden Christian und Georg fehlen, Heinz und Gertrud nehmen natürlich teil an der Feier.«

»O Gertrud, es wird herrlich«, rief Eva voller Freude. Auch Gertrud, die ein hübsches, schlankes Mädchen geworden war mit kindlichen Zügen und rosigen Wangen, gab ihrer Freude Ausdruck. Sie drückte Eva verstohlen die Hand und flüsterte ihr etwas zu, worauf die Mädchen ihre Arbeiten hinwarfen, die Treppe der Veranda hinunterflogen und im Garten verschwanden.

Die gute Betty war hinten im Garten beschäftigt. Auch bei ihr war das Gedrückte, das ihr ganzes Wesen kennzeichnete, verschwunden. Ein stiller Friede, der von innerem Glück zeugte, lag auf ihrem Gesicht.

»Betty, denke dir«, rief Eva, und faßte sie bei der Schulter, während Gertrud sie bei der andern Schulter packte, so daß die Harke ihren Händen entglitt. »Betty, denke dir nur«, rief Eva freudestrahlend, »ich soll –«

»Sie soll«, vollendete Gertrud den Satz, »sie soll Pate stehen bei Gretes erstem Jungen.«

»Und ich bin Tante zu ihm. Tante Gertrud muß er sagen, nie anders!«

»Kinder, ihr reißt mir die Haare vom Kopf. Ihr seid ja ganz toll vor Freude.«

»Wir freuen uns so, wir müssen uns einmal austoben.« Damit faßten sie sich um die schlanken Taillen und tanzten den Weg hinunter.

Betty schüttelte den Kopf und brachte ihr Haar wieder in Ordnung. »O, diese Mädchen, wer hätte je gedacht, daß es einmal so lustig bei meiner Alten hergehen würde. Man wird selbst wieder jung dabei! Gott sei Dank, daß das Alte vergangen ist, daß die trüben Zeiten ein Ende haben.«

Sie kamen wieder heraufgetanzt.

»Betty, freust du dich gar nicht?«

»Ja, ich freue mich, freilich, freue ich mich.«

»Und Großmutter kommt mit! Hurra, das ist das Allerschönste dabei!«

»Was, meine alte Dame will auch noch auf Reisen gehen?«

»Gewiß, sie hat eben gesagt, sie wolle mitkommen. Betty, bringe nur ihr Staatskleid in Ordnung. Du sagtest kürzlich, sie habe ein so wunderschönes graues Atlaskleid, es wäre schade, wenn sie keine Gelegenheit hätte, es anzuziehen. Das muß nun zur Taufe heraus aus dem Schrank.«

Jetzt erschienen die beiden Damen, Frau Maria führte sorgsam Frau Röder.

»Hier sind die jungen Mädchen, wir wußten gar nicht, wo sie hin verschwunden waren.«

»Sie sind außer Rand und Band, Frau Röder, hätten mich bald umgerissen vor Freude.«

»Ja, Großmütterchen«, rief Eva, »es ist auch zu, zu schön auf der Welt!«

»Gott gebe, daß du immer so denken kannst, mein Kind.« –

Während die Damen nun hier im Garten noch miteinander redeten, saßen im Dunkerschen Hause zwei lang aufgeschossene Primaner am Tisch in der Eßstube und redeten eifrig miteinander. Es war Heinz Dunker mit seinem besten Freund und Mitschüler, Wilhelm Behrens. Er hatte eine Menge Briefe neben sich liegen und sagte: »Sieh, das sind alles Briefe aus Westindien, die mein Bruder mir geschrieben hat. Übrigens ist er jetzt auf der Heimreise, er kann in vierzehn Tagen hier sein.«

Während die beiden Jünglinge miteinander sich beschäftigten und Heinz immer wieder neue Briefe hervorsuchte und dem Freund daraus vorlas, war die Mutter mit Gertrud heimgekehrt. Eva hatte sie, wie sie oft tat, begleitet, um ein Stündchen in der alten, ihr so liebgewordenen Heimat zu verweilen. Frau Maria war mit Gertrud in die Küche gegangen, um dort einiges zum Abendbrot herauszugeben, und Eva schlüpfte ins Eßzimmer, wo sie die beiden eifrig mit den ausländischen Briefen fand.

Sie legte die Hand auf Heinz' Schulter und bat: »O, Heinz, gib mir doch auch einmal ein paar von den Briefen, ich habe lange nichts aus Westindien gehört.«

Da packte er eine ganze Handvoll zusammen und reichte sie ihr mit den Worten: »Da, Eva, gib sie mir aber ja alle wieder, wenn du sie gesehen hast.«

Lachend erwiderte sie: »Natürlich, ich will dir deine Heiligtümer nicht entwenden«, setzte sich damit ans Fenster, und begann eifrig zu lesen. Plötzlich errötete sie, als sie einen Brief zu Ende gelesen hatte, und sah sinnend vor sich hin. Dann nahm sie einige andere vor, und nachdem Heinz seinem Freund noch von den Schattenseiten gelesen, die Christian beschrieb, wie z. B. die Plage der Moskitos und anderer Insekten unerträglich sei usw., verabschiedete sich dieser, und Heinz war mit Eva allein im Zimmer. Da stand letztere auf und sagte:

»Heinz, in allen Briefen stehen Grüße an mich, und du hast mir keinen ausgerichtet.«

»Ja, er läßt dich immer grüßen«, stotterte Heinz verlegen, »ich habe dich nur nicht gleich gesehen und nachher hab' ich's vergessen. Ja«, fuhr er fort, »er läßt auch noch fragen, wenn er nun wiederkäme, ob du dich denn auch ein bißchen freutest? Das ist eigentlich eine unnötige Frage, es ist ja ganz natürlich, daß wir Geschwister uns alle furchtbar freuen, wenn er wiederkommt.«

»Was habt ihr denn miteinander?« fragte Frau Maria, als sie unvermutet ins Zimmer trat.

Eva errötete wieder, und Heinz sagte: »O, ich hatte vergessen, Eva Grüße auszurichten von Christian, darüber ist sie böse.«

»Grüße muß man immer gewissenhaft ausrichten, das merke dir, lieber Heinz.« Dann sah sie Eva mit freundlichem Blick an. Vor diesem Blick aus den klaren forschenden Augen senkte Eva das Köpfchen. Auf einmal stürzten ihr Tränen aus den Augen, sie umschlang die geliebte Pflegemutter, während Heinz, im Fortgehen begriffen, seine Briefe zusammenraffte und sagte:

»Na, zum Weinen ist doch die Geschichte noch lange nicht, die Mädchen sind ja zu empfindlich.«

Fort war er. Frau Maria zog Eva zu sich aufs Sofa. »Nun sag mir, mein liebes Kind, was macht dich betrübt? Du warst erst so glücklich. Sieh, Heinz ist noch ein wenig jungenhaft, er versteht sich nicht auf Mädchenherzen. Christian hat heute auch an mich geschrieben und mich gebeten, dir mit herzlichem Gruß zu sagen, daß er oft an dich gedacht und gern wüßte, ob du ihn nicht vergessen, ob du nicht wieder seufzen würdest, wie ehedem, wenn sein Kommen in Sicht sei.«

»Gewiß nicht, liebe Mutter, wie könnte ich wohl. Herr Doktor ist ja so gut gegen mich, steht so hoch über mir –«

»Das ist's ja eben, er ist dir immer fremd geblieben, gewiß nicht ohne Schuld seinerseits. Euer Verhältnis ist nie ein geschwisterliches gewesen. Ich verstehe es, ihr seid selten zusammengekommen, und ihr habt beide etwas Zurückhaltendes gegeneinander gehabt. Aber wenn er nun kommt, meine Eva, sei freundlich und herzlich zu ihm, wie zu einem guten Bruder, du siehst, es liegt ihm etwas dran.«

»Ich habe nur« – stotterte sie verlegen. »ich habe immer ein bißchen Angst vor ihm.«

Jetzt lachte Frau Maria. »Nein, meine Eva, dazu ist kein Grund vorhanden. Nun wollen wir uns alle auf die Taufe von Gretchens Bübchen freuen und alle Sorgen dahinten lassen. Und geseufzt wird nicht, wenn Christian kommt, das versprichst du mir?«

Sie versprach es noch einmal und trocknete ihre Tränen, denn jetzt kam der Vater, der durfte von der dummen Geschichte nichts wissen.

Am Abend lag sie noch lange wach. Was war es nur, das sie nicht schlafen ließ? Immer und immer kam es ihr wieder in den Sinn, was Christian von ihr geschrieben und was sie mit der Mutter über ihn gesprochen. Es war doch ein Rätsel, sie freute sich wirklich auf sein Kommen, und doch, wenn sie es sich vorstellte, ward ihr beklommen ums Herz. Er wollte ihr, schien es, Rechte einer Schwester einräumen, und wie gerne wollte sie auch ihn wie einen Bruder liebhaben. Sie hatte ihn gern und doch, das merkte sie deutlich, war es ein anderes Gefühl, als sie es Georg und Heinz gegenüber hatte. Sie war sich selbst nicht klar darüber.

Die Mutter aber schrieb denselben Abend an Christian: »Wie es mir scheint, lieber Christian, wird deine Neigung zu Eva erwidert; sie ist sich jedoch zur Zeit selbst noch nicht klar darüber. Aber ein Mutterauge sieht scharf. Vater und ich geben dir unseren vollen Segen zu deinem Vorhaben. Aber du weißt, sie hat jetzt eine Großmutter, die auch ein Wörtchen dreinzureden hat. Such vor allen Dingen dir erst Evas Vertrauen zu gewinnen, geh nicht stürmisch darauf los.«

Der Brief wurde nach Bremen unter der Adresse der Firma gesandt, für welche Christian gearbeitet hatte, denn er war bereits unterwegs und hoffte, in nächster Zeit heimzukehren.


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