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19. Das verlorene Portemonnaie

»Trudel, mein Kind, was für eine lange Unterredung hatte Reinhold mit dir beim Abschied?«

»Denke dir, Mutter, welch ein guter Junge der Reinhold ist. Er sagte mir, er hätte die Absicht gehabt, wenn er erwachsen und etwas Tüchtiges geworden sei, hätte er mich heiraten wollen. Aber nun könne es nichts werden. Er wolle sehr fleißig sein und tüchtig arbeiten, damit er einmal viel Geld verdiene. Dann wolle er seine Mutter zu sich nehmen und für sie sorgen, dann dürfe sie sich nicht mehr plagen. Jetzt müsse sie für ihre Kinder arbeiten, dann wolle er für sie arbeiten. Ist das nicht schön?«

»Das ist sehr brav von ihm, Gott helfe ihm, daß er seine guten Vorsätze auch ausführe.«

»Das tut er, Mutter. Was Reinhold sagt, das tut er auch.«

Sie streichelte ihrem Töchterchen die Wangen und sagte: »Hoffentlich helfen die anderen Brüder auch mit, ihre Mutter zu ernähren.«

»Er bringt es allein fertig, das kannst du glauben, Mutter.« Mit diesen Worten hüpfte die Kleine vergnügt fort, unbekümmert um ihre dereinstige Zukunft.

In diesem Augenblick trat Gretchen ein, die, mit großer Schürze angetan, einen sehr wirtschaftlichen Eindruck machte.

»So, Mutterchen«, sagte sie, »nun ist alles in Ordnung. Es ist gut, daß wir wieder allein sind. Auf die Dauer wäre es doch zuviel für dich geworden, Mutter, du siehst angegriffen aus.«

»Die Arbeit und Unruhe ist es weniger, es ist das innere Weh über die unglückliche Familie, die, nun in alle Winde zerstreut, vielleicht noch viel Schweres durchmachen muß.«

»Mutterchen, du mußt nicht so viel daran denken. Nun ist bald Weihnachten, da wollen wir uns freuen und uns auf das schönste Fest rüsten.«

»Da hast du recht, mein Gretchen. Hoffentlich haben wir die Freude, Christian hier zu haben. Er schrieb heute, daß er seine Doktorarbeit eingereicht habe und hoffe, uns bald Freude zu machen.«

Plötzlich rief Gretchen: »Ich freue mich doch, daß die vier Kramer'schen Jungen fort sind. Am ersten Tag waren sie still und bescheiden, aber nachher haben sie sich oft sehr frech und unverschämt betragen, besonders wenn ihr nicht dabei wart. Unsere Brüder sind doch anders.«

Die Mutter lachte. »Bisher hattest du oft etwas an ihnen auszusetzen. Sie haben auch ihre großen Fehler und müssen zurechtgewiesen werden, aber sonst sind es brave Burschen. Übrigens, Reinhold ist auch ein guter Junge, an ihm wird die Mutter noch Freude erleben.«

»Ja, den nehme ich aus, den hab' ich auch gern. Wie hat er gestern geweint, als vom Abschied die Rede war. Es ist ihm sehr schwer geworden, seine Heimat zu verlassen und in ganz fremde Verhältnisse zu gehen.«

Herr Dunker kam am Abend sehr fröhlich aus dem Geschäft. Er rieb sich vergnügt die Hände und erzählte seiner Frau, daß der Kommerzienrat ihm eine ziemlich bedeutende Gehaltszulage in Aussicht gestellt habe, mit der Begründung, daß seine Söhne heranwüchsen und er zu ihrer ferneren Ausbildung größere Mittel bedürfe.

»Was mich besonders freut, ist, daß er mir einen namhaften Beitrag zu meiner Sammlung für Frau Kramer ausgehändigt hat; ich habe überhaupt hier bei meinen Freunden mehr Teilnahme gefunden, als ich dachte, und habe schon ein ganz hübsches Sümmchen für sie eingeheimst. Ich denke, wir fahren kurz vor Weihnachten einmal nach L. und bringen ihr das.«

»Dann nehmen wir die beiden Mädchen mit. Cousine Martha bat mich darum, ihr Gretchen zuzuführen, sie sei ihre Pate, und sie kenne sie kaum. Auch wird Lieschen sich freuen, Gretchen und Eva wiederzusehen. Überhaupt macht man die Weihnachtseinkäufe, wenn man es haben kann, in einer Großstadt besser als hier. Ich möchte den lieben Mädchen, die sich in dieser schweren Zeit treu bewährt haben, da es wirklich viel Arbeit gab, gern eine Freude machen.«

»Gewiß, Mutter, ich auch. Also baldigst eine Weihnachtsreise nach L.!«

Die Winterabende nach Tisch waren stets sehr gemütlich im Dunker'schen Hause, Jung und Alt freute sich darauf, da es während der Anwesenheit der Kramers im Hause nicht zu der gewohnten Ruhe gekommen war. Heute war der Vater in besonders guter Stimmung. Er zog seine Börse und rief: »Weihnachten rückt heran, da müssen wohl die mageren Geldbeutelchen etwas gefüllt werden.« Und mit freigebiger Hand spendete er nach allen Seiten, so daß unter den Kindern großer Jubel herrschte ob dieser unerwarteten Freude. Sie kamen alle und brachten dem gütigen Vater ihren Dank.

»Gretchen und Eva«, äußerte die Mutter im Laufe des Abends, »ihr wart lange nicht zum Lernen bei Tante Alice, ich denke, morgen könnt ihr wieder gehen.«

»Wir möchten gern, Mutter, wollten dich schon darum bitten. Hemsings lassen uns am Abend nach Hause fahren.«

»Herr Hemsing ist auch jetzt daheim. Weißt du übrigens«, wandte sich Frau Maria an ihren Mann, »daß Hemsing sein Examen glücklich bestanden hat? Ich habe gar nicht wieder daran gedacht, weil wir mit den Kramers so viel zu tun hatten.«

»Das hättest du mir sagen müssen, liebe Frau, ich hätte ihm gern gratuliert. Nun, wir holen alles nach, am Weihnachtsfest laden wir die lieben Pfarrersleute zu uns ein, da muß auch die Tante Alice mitkommen.«

»Hoffentlich kommt Herr Hemsing vor Weihnachten noch einmal. Er sagte kürzlich, er wolle mich wegen einer Sache um Rat fragen. Hört, ihr Mädchen, solltet ihr ihn morgen sehen, so sagt ihm, er könne jeden Tag kommen, ich sei immer bereit für ihn.«

»Nun wird es bald ein Jahr, als wir ihn hier hereinbrachten mit seinem gebrochenen Fuß«, sagte Georg, der an einer hübschen Zeichnung arbeitete.

»Er wollte erst gar nicht«, fügte Heinz hinzu. »Später sagte er, er sei froh, uns alle kennengelernt zu haben.«

»Wir freuen uns auch der Bekanntschaft des lieben Pfarrhauses. Die Frau Pfarrer hat etwas sehr Sympathisches für mich«, setzte die Mutter hinzu.

Gretchen beugte bei diesem Gespräch den Kopf tiefer, und Eva sah sie von der Seite an.

Am folgenden Tage machten sie sich gleich nach Mittag auf den Weg nach Langendorf. Es gab in diesem Jahr noch keine Kälte, es war nebeliges, trübes Wetter, aber die Mädchenherzen schlugen froh. Sie überlegten, was sie alles von dem Gelde, das der Vater gespendet hatte, kaufen wollten. Sie dünkten sich so reich, daß sie für alle Menschen, die ihnen nahestanden, Geschenke machen wollten. So verging die Zeit im Fluge unter angenehmen Gesprächen. Ehe sie sich's versahen, tauchte der Langendorfer Kirchturm vor ihnen auf, und bald wanderten sie durch die bekannte Pforte in den Pfarrhof. Da sahen sie aus einem der Ställe die bekannte Gestalt der Tante mit der großen grauen Schürze herausgucken. Aber sie sah heute gar nicht fröhlich aus, sondern hatte ein ganz betrübtes Gesicht. Sie gingen zu ihr, sie zu begrüßen.

»Ich nehme Abschied von der alten Jule«, sagte sie traurig, »Sie ist krank, morgen soll sie erschossen werden.«

Die Jule war ein altes Pferd, das bisher nur ausnahmsweise gebraucht worden war, da es weder Lasten ziehen noch Kutschwagen mehr fahren konnte. Es aß schon lange das Gnadenbrot, und gerade deshalb, weil es alt, schwach und hilfsbedürftig war, gehörte es zu Tante Alices Lieblingen. Tagtäglich hatte es aus der verheißungsvollen Schürzentasche seinen Zucker oder seine Portion Hafer bekommen, heute zum letztenmal, darum war die Trauer groß. Sie streichelte das alte Tier mit sanfter Hand, steckte ihm noch ein Stück Zucker in den Mund und verließ den Stall mit Tränen im Auge.

»Tante, willst du gern noch bleiben, dann gehen wir wieder nach Hause.«

Da richtete sich Tante Alice stolz in die Höhe: »Nein«, sagte sie, »meine Pflichten versäume ich deshalb nicht«, und schritt mit den beiden Mädchen dem Hause zu. Da kam Etty, hocherfreut, daß sie die Freundinnen endlich wiedersah. Diese berichteten das traurige Erlebnis. Man hatte schon davon gehört und bemitleidete die arme Tante sehr.

»Mein Bruder ist eben zu euch gegangen«, sagte Etty. »Habt ihr ihn nicht gesehen?«

Sie verneinten es: »Dann wird er den Hof verlassen haben, als ihr mit Tante Alice im Stall stecktet. Es ist gut, daß ihr kommt, es wird Tante Alice etwas ablenken von dem Kummer um das alte Pferd. Aber es kann nicht länger am Leben bleiben, es ist sich selbst zur Last.«

Als die Mädchen, nachdem sie Kaffee getrunken hatten, nach oben kamen, war Tante Alice wieder ganz die eifrige Lehrerin, das Studium der Sprachen wurde ernst betrieben.

Herr Hemsing war unterdes bei Dunkers angelangt und von der Hausfrau herzlich empfangen worden.

»Es hat mir so leid getan, Sie kürzlich so schnell abweisen zu müssen«, sagte sie. Sie erzählte ihm nun ausführlich von den Nachbarn, und wie sie an dem Tage für so vieles zu sorgen gehabt, wie sie die ganze Sache seelisch angegriffen habe, so daß sie für etwas anderes kaum Gedanken gehabt habe. Heute aber sei sie bereit, ihm zu dienen mit gutem Rat oder was er sonst von ihr haben wolle.

»Ich wollte weniger einen guten Rat, möchte nur eine Frage beantwortet haben.«

Frau Maria sah ihn verwundert an. »Eine Frage? Ich wüßte nicht, was ich Ihnen für eine Frage beantworten sollte? Sie sehen so ernst, so feierlich aus, Herr Hemsing, was haben Sie nur?«

Jetzt kam es heraus, was er schon längst auf dem Herzen gehabt. Er hatte die wichtige Frage an Frau Maria, ob sie gestatten würde, sich um ihre älteste Tochter Margarete zu bewerben.

»Um unsere Margarete?« fragte sie, wie aus den Wolken gefallen. »Da bin ich allerdings überrascht. Unser Gretchen, das so wenig Äußeres hat?«

»Auf äußere Schönheit sehe ich nicht, Frau Dunker. Für mich hat Fräulein Gretchen etwas Anziehendes. Der Ausdruck der Augen, das klare, freundliche, selbstlose Wesen ist es, was sie mir begehrenswert macht. Ich habe Gelegenheit gehabt, sie im stillen zu beobachten seit einem Jahr. In treuer Pflichterfüllung geht sie ihren Weg, immer auf das, was des Nächsten ist, sehend, an sich erst denkend, wenn alle anderen befriedigt sind. Wie rührend ist sie in ihrer Liebe gegen Fräulein Eva.«

»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, unterbrach ihn Frau Dunker. »Eva ist auch ein liebes, prächtiges Mädchen.«

»Dagegen habe ich nichts«, sagte er lächelnd. »Ich schätze Fräulein Eva sehr.«

»Und dann ist sie viel hübscher, anmutiger.«

»Frau Dunker, setzen Sie Ihr eigenes Töchterchen nicht herab. Ich habe nun einmal Fräulein Margarete liebgewonnen und frage Sie, würden Sie bereit sein, sie mir anzuvertrauen?«

»Ich würde sie niemandem lieber geben als Ihnen. Doch weiß ich nicht, wie sie selber darüber denkt und mein Mann.«

Es klingelte. »Jetzt kommt mein Mann, gestatten Sie, daß ich ihn rufe.« Sie ging eilig zur Tür hinaus, faßte ihren Mann am Arm, als er eben in seine Stube gehen wollte, und flüsterte leise: »Komm schnell in mein Zimmer, Hemsing ist da, er will unser Gretchen heiraten.«

»Nur zu, nur zu«, sagte der geschäftige Mann, »es freut mich herzlich. Ich bin in höchster Eile, habe etwas ganz Wichtiges zu erledigen, muß gleich wieder fort.«

»Aber Vater, dies ist doch wichtiger als alles andere, einen Augenblick wirst du doch Zeit haben, du gehörst doch dazu.«

»So etwas kannst du schon allein abmachen. Bitte, störe mich jetzt nicht, es sind dringende Geschäftssachen – muß gleich ein Telegramm aufgeben, der Herr Kommerzienrat wartet draußen. Sage ihm, meine volle Zustimmung hat er.«

Sie wußte schon, wenn der Mann im Geschäftseifer war, war nichts mit ihm zu machen.

»Mein Mann kann augenblicklich nicht kommen, er hat dringende Geschäftsangelegenheiten, zudem wartet ein Herr draußen auf ihn.«

»Nun, hoffentlich hat er nichts dagegen, wenn ich mir sein Töchterchen hole. Es handelt sich zunächst ja aber um Fräulein Margarete selber. Sie haben nie bemerkt, Frau Dunker, ob sie ihr Herz mir zuneigen könnte?«

»Aufrichtig gestanden nein. Aber die Mädchenherzen sind ja unergründlich. Sie müssen Ihr Heil selber versuchen.«

»Ich danke Ihnen, Frau Dunker. Ich darf mir also erlauben, öfter bei ihnen einzusehen?«

»Gewiß, Herr Hemsing, so oft Sie wollen.« Sie schieden mit herzlichem Händedruck.

Er ging und Frau Marias Herz war tief bewegt. Ihre Älteste wurde begehrt, und zwar von einem Manne, den sie hoch schätzte, der nicht auf äußere Vorzüge sah, sondern der den inneren Wert erkannte, doch sie hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Sie hörte schon die alte Pastorenkutsche auf dem Fahrdamm rumpeln, nach wenigen Minuten hielt sie, die Mädchen würden gleich, so wähnte sie, ins Eßzimmer gestürmt kommen.

Nein, es geschah nicht. Es währte ziemlich lange, ehe die Haustür klingelte, und auch da erschienen sie noch nicht. Was hieß das? Sie gingen langsamen Schrittes nach oben, es währte lange, bis sie herunterkamen. Endlich, endlich erschienen sie, aber nicht frisch und lebendig wie sonst, sondern beide mit bedrückter Miene. Was war ihnen denn passiert?

»Nun Kinder, ich habe lange auf euch gewartet. Ihr pflegt immer gleich zur Mutter zu kommen, und heute gingt ihr erst lange nach oben und du, mein Gretchen, siehst verweint aus?«

Als die Mutter dies sagte, begann Gretchen abermals bitterlich zu weinen, und Eva stand dabei mit so traurigem Gesicht, daß es aussah, als möchte sie am liebsten auch anfangen.

»Eva, Kind, sage doch, was ist dem Gretchen?« fragte Frau Dunker besorgt. Sie glaubte nun, es hänge mit Herrn Hemsing zusammen, daß er voreilig gewesen und irgendeine Ungeschicklichkeit begangen habe. Doch bald sollte sie eines anderen belehrt werden.

»Mutter, ich kann es dir ja sagen«, begann Eva. »Wir waren so vergnügt, als wir abfuhren, es war so reizend im Pfarrhaus, Pastors waren besonders gut und lieb zu uns, ebenso Tante Alice. Als wir nun unterwegs sind, greift Gretchen zufällig in ihre Tasche und fühlt, daß ihr Portemonnaie verschwunden ist.«

»Und mein ganzes Weihnachtsgeld, alles, was ich mir gespart habe, dazu die zehn Mark von Vater«, schluchzte Gretchen. »O, ich bin zu unglücklich.«

»Gretel, ich teile mit dir«, tröstete Eva. »Ich habe es dir gleich gesagt, wir tragen den Schaden zusammen.«

»Kinder, wir wollen doch erst einmal sehen, ob es nicht wieder zu finden ist. Vielleicht hast du es im Pfarrhaus selber verloren, sonst lassen wir es in die Zeitung setzen und ein ehrlicher Finder bringt es. Nun komm her, mein liebes Kind, gräme dich nicht, es ist doch nicht das Schlimmste.«

»Ich hatte mich so gefreut, daß ich in diesem Jahr so viel erspart habe, und nun ist alles dahin.«

»Was ist hier passiert?« ließen sich zwei jugendliche Stimmen vernehmen. Georg und Heinz kamen aus ihrer Arbeitsstube und sagten, sie seien durch die klagenden Töne herbeigelockt, auch Trude stand auf einmal da und schaute ratlos auf die Gruppe. Als sie vernahmen, was sich zugetragen, meinte Georg, es sei doch noch lange kein Beinbruch, es wäre im vorigen Jahr viel schlimmer gewesen, als sie den armen Herrn Hemsing mit gebrochenem Fuß ins Haus gebracht hätten.

»Er hatte aber nicht sein Portemonnaie mit ganzem Inhalt verloren«, jammerte Gretchen.

»Du hältst also diesen Fall für trauriger, als Hemsings Fall auf dem Eise«, zürnte Heinz.

»Das wollen wir doch Herrn Hemsing erzählen.«

Die Knaben wußten es durch Humor und Redereien aller Art dahin zu bringen, daß Gretchens Tränen allmählich versiegten und sie schließlich über die Brüder lachen mußte. Sie versprachen, am folgenden Tage, sobald es ihre Zeit erlaubte, nach Langendorf zu gehen und dort nachzusehen, ob jemand das Portemonnaie gefunden habe.

Der Vater ließ heute lange auf sich warten, er kam sogar nicht zur Zeit des Abendessens, sondern erst kurz vor neun Uhr. Es kam selten vor, daß die Geschäftsstunden überschritten wurden, aber Herr Dunker fühlte sich als Freund und Vertrauter des Kommerzienrats mitunter verpflichtet, wenn es etwas Besonderes im Geschäft gab, die Arbeitszeit zu verlängern.

Das war gerade heute der Fall, wo es Frau Maria sehr am Herzen lag, mit ihrem Mann die wichtige Sache vom Nachmittag zu besprechen. Aber selbst, als er da war, als die Kinder sich schon alle zur Ruhe begeben hatten, und sie hoffte, nun eingehend mit ihm reden zu können, war er so gedankenlos, so ganz mit seinen Angelegenheiten beschäftigt, daß er dem, was seine Frau sagte, wenig Aufmerksamkeit schenkte. Erst, als sie sagte: »Hast du denn gar kein Interesse für deine Älteste, ich meine, es ist doch eine wichtige Sache, wenn ein Mann sie zur Ehe begehrt«, da rief er aus: »Was, unser Gretchen soll heiraten? Wer will sie denn in aller Welt? Ich kenne niemanden.«

»Aber, Vater, ich nannte dir doch den Namen. Er ist nicht aus der Stadt, er ist vom Lande.«

Jetzt ging dem Vater ein Licht auf. »Doch nicht der Hemsing?«

»Freilich«, und Frau Maria erzählte nun alles, was Hemsing ihr gesagt.

Das war dem Vater denn auch lieb zu hören. Er meinte, er wolle den beiden gern seinen Segen geben, denn daß das Gretchen wolle, daran zweifle er nicht.

Am folgenden Morgen, die Knaben und Gertrud waren eben zur Schule gewandert, die übrigen saßen noch am Frühstückstisch, kommt jemand eilenden Fußes zur Haustür herein.

»Das ist Herrn Hemsings Schritt, den kenne ich«, ruft Gretchen errötend.

Da klopft es, der Vater sagt eben leise zur Mutter: »Mutter, geht es jetzt schon los mit der Grete, so früh am Morgen?«, da tritt Hemsing ein.

Er greift in die Tasche und fragt: »Hat eine von den jungen Damen ein Portemonnaie verloren?«

»Ich, Herr Hemsing«, ruft Gretchen, eilt auf den jungen Mann zu und sieht ihn so strahlenden Auges an, daß er, hingerissen vom Augenblick, beschließt, gleich heute das entscheidende Wort zu sprechen.

»Ich danke Ihnen«, sagt sie mit so innigem Ausdruck, daß sein Mut wächst.

»Wo haben Sie es gefunden?«

»Tante Alice hat es im Pferdestall gefunden. Sie war gestern abend noch einmal mit der Laterne bei dem alten Pferd, und als sie ihm, als letzten Leckerbissen noch ein Stück Zucker in das Maul stecken wollte, schnuppert das alte Pferd an einem braunen Gegenstand herum. Tante Alice nimmt es ihm weg und findet ein gefülltes Portemonnaie. Zum Glück war es noch nicht aufgegangen. Wir dachten gleich, daß es einem der jungen Mädchen gehören müsse, denn Etty hatte sie aus dem Stall kommen sehen.«

»Ja, wir waren dort mit Tante Alice, und ich erinnere mich«, rief Gretchen ganz belebt, »daß ich dort mein Taschentuch herausgezogen habe, wahrscheinlich ist es dabei herausgefallen. O, wie dankbar bin ich, wie freue ich mich. Ich hätte sonst keinem Menschen etwas zu Weihnachten schenken können.«

»Von dem Unglück habe ich ja noch gar nichts gehört«, rief der Vater.

»Es hat Tränen genug gegeben«, versicherte die Mutter, »aber du warst gestern abend überhaupt unzugänglich für alles.«

»Auch heute muß ich leider fort. Guter Herr Hemsing, entschuldigen Sie mich, ich muß ins Geschäft.«

Und eiligst verließ er das Haus.

Frau Maria gab Eva einen Wink, die Tassen abzuräumen, half selber mit, das Gebäck hinauszutragen, und so kam es, eh' man sich's versah, daß Herr Hemsing sich mit Gretchen allein im Eßzimmer befand.

Als sie es merkte, kam plötzlich große Verlegenheit über sie. Sie stotterte: »Herr Hemsing, Sie hätten gewiß gern noch eine Tasse getrunken?«

»Danke, danke, ist alles schon in Langendorf besorgt.« Darauf wollte sie noch etwas sagen, konnte sich aber auf nichts weiter besinnen als: »Ich bin so froh, daß das Pferd das Portemonnaie nicht gefressen hat. Aber«, fügte sie plötzlich hinzu und reichte ihm die Hand, »Ihnen bin ich so von Herzen dankbar, daß Sie es mir wiedergebracht haben.«

Er lachte herzlich und behielt die Hand fest in der seinen. Sie wollte sie ihm entziehen, da rief er: »Da ich die Hand einmal habe, gebe ich sie nicht wieder los. Darf ich sie behalten, Fräulein Gretchen, immer und immer fürs ganze Leben?«

Sie schwieg, zog aber die Hand nicht zurück. Dann gab ein Wort das andere, und das Ende war, daß sie sich beide ihre Liebe gestanden.

Als die Mutter wieder hereinkam, stand ein glückliches Brautpaar am Fenster, das um ihren mütterlichen Segen bat.

Als sie meinte, sie habe nicht gedacht, daß es so schnell gehen würde, rief er vergnügt: »Das kommt vom Portemonnaie und von der alten Jule!«

»Nein, der Dank gebührt der Tante Alice. Wäre sie abends nicht mit der Laterne in den Stall gegangen, wäre das Portemonnaie nicht gefunden«, äußerte die glückliche Braut.

»Und wäre das nicht gefunden, hätte ich keine Veranlassung gehabt, so früh herauszukommen. Wer weiß, was dann noch alles hätte dazwischen kommen können. Also hoch lebe Tante Alice!«

Frau Maria war tief bewegt und gab dem jungen Paar ihren vollen Segen. Was hätte sie sich für ihr Töchterchen Besseres wünschen können, als einen zukünftigen Pfarrer, der von Herzen gläubig war, mit dem vereint sie dereinst als Pfarrfrau in einer Gemeinde wirken sollte.

Als Eva wieder erschien, blieb sie erschrocken an der Tür stehen. Was war hier vorgegangen? Herr Hemsing Hand in Hand mit Gretchen vor der Mutter sitzend, alle drei so feierlich und ernst!

»Immer näher, Eva«, rief die Mutter, »du kannst gratulieren. Während wir draußen waren, hat sich hier ein Brautpaar entwickelt.«

Da leuchtete es in Evas Augen auf. Sie flog auf Gretchen zu, umschlang sie und wünschte ihr Gottes reichen Segen. Dann wandte sie sich an Hemsing, reichte auch ihm die Hand und sagte: »Das haben Sie recht gemacht, ich habe es mir längst für Gretchen gewünscht, denn ich habe lange gemerkt, daß sie Ihnen gut war.«

Gretchen errötete tief. »Du hast es gemerkt? Ich habe doch nie eine Äußerung darüber getan!«

Eva machte ein vergnügtes Gesicht und meinte lachend, so etwas spüre man schon.

»Ich möchte aber nur bitten, Fräulein Eva, daß Sie, als nunmehrige Tochter des Hauses, mich als Schwager ansehen und die höflichen Bezeichnungen zwischen uns fallen. Also von nun an ›du‹.«

»Also, lieber Schwager, wenn du es so willst.«

»Eigentlich müßte ich nun kehrtmachen, ich versprach, so schnell wie möglich wiederzukommen, ich sollte bei irgend etwas helfen, aber unter diesen Umständen –«

»Mußt du bleiben, bis der Vater kommt und die Geschwister, Georg, Heinz und Trude. Was werden sie alle sagen!«


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