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3. Familie Dunker

Fernab von diesem Städtchen, in einem anderen Teil des deutschen Reiches, lag die Stadt P., eine größere Mittelstadt, die lebhaften Handel trieb, viele Fabriken aufwies, ein Gymnasium, ein Gericht und eine Amtshauptmannschaft hatte und dergleichen mehr. Die Stadt war von schöner Landschaft umgeben. Berge und Täler wechselten einander ab. Die Berge waren teils mit Wald bedeckt, teils wurden die Abhänge bepflanzt oder Korn angebaut. Die Landwirtschaft war jedoch schwierig zu betreiben, zumal der Acker viel Steine zeigte, die oft mühsam herausgebracht werden mußten. Darum gingen viele Leute, die nicht eigenen Grundbesitz hatten, in die Stadt, um in den Fabriken zu arbeiten, was verhältnismäßig leichter war, als den harten Boden zu bestellen. Die Fabrikbesitzer waren meist wohlhabende Leute, doch gab es auch solche, die kleinere Fabriken besaßen und gegen die Konkurrenz nicht aufkommen konnten. Ein Herr Dunker, der eine solche Fabrik geerbt hatte von seinem Vater und dessen Bruder, einem unverheirateten Junggesellen, hatte mit Schwierigkeiten zu kämpfen, um Stand zu halten. Die Löhne für die Arbeiter waren gestiegen, das Rohmaterial war bedeutend teurer geworden, dazu hatte er eine ziemlich große Familie und bedeutende Ausgaben zu leisten.

Der Vater und sein Bruder hatten eine bessere Zeit erlebt. Sie hatten jeder ein eigenes Haus, und zwar waren die Häuser ganz gleichartig gebaut, sie sahen fast wie Zwillingshäuser aus, lagen nahe zusammen, nur durch einen Garten getrennt, und befanden sich am äußersten Ende der Stadt. Frische reine Luft wehte dort von den Bergen her, der Rauch der Fabriken am anderen Ende der Stadt konnte sie nicht erreichen. Der alte Junggeselle hatte wunderbarerweise alles, was er sich erworben, der Stadt vermacht, obwohl er mit dem Bruder auf gutem Fuß stand. Auch einer Haushälterin, die ihn treu versorgt hatte, glaubte er ein Legat hinterlassen zu müssen. Sein Bruder, der Vater des Herrn Dunker, von dem hier erzählt werden soll, hatte außer diesem Sohn noch einen. Er wünschte sehr, daß seine beiden Söhne das Geschäft gemeinsam übernehmen möchten. Doch der jüngere Sohn hatte eine Abneigung dagegen und setzte es beim Vater durch, daß er studierte. Er wurde Philologe und bekam am Gymnasium, das erst neu gegründet war, eine Stelle als Oberlehrer. Das Haus des Onkels war dem Neffen verblieben. Als der Vater gestorben war, wohnte Herr Dunker in dem Haus des Vaters, sein Bruder in dem des Junggesellen. Es herrschte große Eintracht, ja innige Liebe, zwischen den Brüdern und ihren Familien. Auch die Frauen liebten sich und verkehrten als Freundinnen miteinander.

Nun bekam der Lehrer einen Ruf an das Gymnasium einer fern gelegenen Stadt mit größerem Gehalt und mit der Aussicht, dort einmal Direktor zu werden. Er hatte lange geschwankt, ob er die Heimat, den Bruder verlassen sollte, aber er glaubte es doch seinen Kindern schuldig zu sein, um für deren Zukunft besser sorgen zu können. Das Haus hatte er günstig verkauft an einen Häuserspekulanten, der Vorteil vom Wiederverkauf zu erlangen hoffte. Herr Dunker und seine Familie beklagten den Verlust sehr. Die Kinder waren fast wie Geschwister aufgewachsen; sie waren außer den Schulstunden immer beisammen, entweder in einem Garten oder in dem andern oder in beiden Gärten zugleich. Denn eine Tür war schon von den Eltern als Verbindung angebracht, und wenn sich die Kinder haschten oder Kampfspiele vorhatten, so stand die Tür weit geöffnet. Mit Jubel und Lustgeschrei wurde durch die Gärten getobt, und die Eltern freuten sich des Frohsinns ihrer Kinder. Sie durften nicht über Blumen und Gemüsebeete laufen, mußten auch sonst achtsam sein, daß sie nichts verdarben. Das wußten sie und sahen sich vor. Kam einer auf Abwege, so ermahnten die anderen, er bog schnell in die erlaubten Wege ein. Ja, es war ein fröhliches, harmonisches Zusammenleben der beiden Familien Dunker. Sie wurden oft als Vorbilder angeführt in bezug auf Verträglichkeit und gute Nachbarschaft.

Nun war alles vorbei. Die Möbelwagen waren abgegangen, um mit der Bahn weitergeführt zu werden. Das Haus war leer, die Familie Dunker jun. war einige Tage zum Bruder in das Nachbarhaus gezogen, während in ihrem Heim Verwirrung und Unordnung herrschte.

Heute war der letzte Abend. Es war wieder Sommer wie damals vor zehn Jahren, als Frau Belzer das Erlebnis hatte mit der sterbenden Frau im Städtchen R. Nur war es etwas später im Jahr, in der zweiten Hälfte der großen Sommerferien, als dieser Aufbruch geschah.

Frau Dunker jun., Frau Emilie wollen wir sie nennen, ließ sich erschöpft in einen Gartenstuhl nieder unter der großen Linde, die im Sommer immer als Sammelplatz der Familie galt. Der Baum breitete weithin seine mächtigen Zweige und Äste aus und spendete in der heißen Zeit erquickenden Schatten. Die Schwägerin, Frau Maria Dunker, kam eben mit einem Glas Limonade zur Gartentür herein. »Gott sei Dank, daß du da bist, Emilie. Bist du endlich fertig, die Möbelwagen sind ja schon lange fort.«

»Ich hatte noch viel zu packen und zu kramen. Verschiedene alte und arme Leute hatte ich kommen lassen, um Sachen, die wir nicht gebrauchen, zu verschenken. Die Freude der Frauen war groß. Die Kinder haben Spielsachen weggegeben, mit denen sie nicht mehr spielen, dann habe ich die Koffer gepackt, die wir mit auf die Reise nehmen, und endlich habe ich Trina und Frau Martens angestellt, daß sie morgen das ganze Haus gründlich scheuern, damit alles ordentlich abgeliefert wird. Heute abend wollen die Kinder noch ein wenig darin toben, das haben sie sich als Abschiedsfest ausgedacht. Die ganze Gesellschaft ist drüben.«

Frau Maria lachte herzlich. »Das gönne ich ihnen, sie kommen so jung nicht wieder zusammen. Nun trinke erst einmal und erhole dich ein wenig. Ich gehe indes in die Küche, um mit Rieke das Abendbrot zu bereiten. Um acht Uhr kommen die Herren.«

Frau Emilie tat die Ruhe wohl. Es war nach dem heißen Tag und nach der anstrengenden Arbeit etwas Kühle eingetreten. Leise bewegten sich die Blätter in der Linde, leise tönte der Vöglein Abendlied. Von fernher hörte sie das Hämmern und Pochen in den Fabriken, auch ihre Schläfen pochten und das Herz klopfte laut. Alles wogte und gärte in ihr, der Abschied von der Heimat, das Einleben in fremde Verhältnisse, es machte sie alles unruhig und besorgt. Von drüben aus dem leeren Hause tönte das Lustgeschrei der Kinder.

»Sie wissen noch nicht, was Abschied bedeutet, sie werden es schon noch merken, wenn sie ihre Vettern und Basen nicht mehr haben, wenn sie in einer Mietswohnung hausen und den Garten entbehren müssen«, dachte sie.

Jetzt kam die Schar durch die offene Tür, welche die beiden Gärten verband, gestürmt. »Mutter«, riefen einige, »Tante Emilie« die anderen, »sieh nur, was wir auf dem Boden in einer Ecke noch gefunden haben einen ganz guten Schlitten, aber er ist schon recht alt.«

»Der stammt gewiß noch aus Onkels Jugendjahren, ich habe ihn nie gesehen.«

»Wir haben ihn unter dem Dach hervorgezogen, er war auf dem obersten Boden fest eingeklemmt, aber er ist noch ganz schön«, rief der zehnjährige Willi.

»Wir wollen ihn nun verschenken, mitnehmen können wir das alte Ding auf keinen Fall.«

Die Kinder baten sehr, ihn behalten zu dürfen, es sei ein ganz absonderlicher Schlitten, jedenfalls könnten mehrere zugleich daraufsitzen, das sei immer vorteilhaft. Die Mutter, die sehr ungern noch mehr Handgepäck mitnehmen wollte, gab schließlich den stürmischen Bitten nach und ordnete an, daß sie das Ding zu den Koffern stellen sollten, damit es nicht vergessen würde.

Sie stürmten alle davon, nur Frau Maria's ältester Sohn, ein 16jähriger Gymnasiast, setzte sich höflich zu Tante Emilie und unterhielt sie.

»Was hast du denn da, Trudchen«, sagte sie zu einer Sechsjährigen, die auch zurückgeblieben war und eine alte Puppe im Arm hatte. Gertrud war Maria's Jüngste. Sie war ein liebliches, mehr stilles Kind, wurde aber, wenn sie mit dem ganzen Troß zusammen war, immer mit fortgerissen. »Die Puppe gehört mir, Tante Emilie. Ich habe sie im vorigen Jahr in eurem Hause verloren. Wir spielten Verstecken mit unseren Puppen. Da hatte Klärchen meine so versteckt auf dem Boden, daß wir sie alle nicht wiederfinden konnten. Da hab' ich so viel geweint, weißt du es nicht mehr, Tante Emilie?«

»Ich weiß es nicht mehr, mein liebes Kind«, sagte sie freundlich und zog sie auf ihren Schoß. »Es ist aber ein Glück, daß du dein Kind wiedergefunden hast, nun wirst du es doppelt lieb haben.«

»Laß es nur erst von Staub und Schmutz reinigen, Trude, du machst dich selbst ganz schmutzig damit«, rief der ältere Bruder.

»Wer weiß, Tante, was sich da auf dem alten Boden noch alles findet, vielleicht entdecken wir noch einen ganzen Beutel voll Geld, den der alte Großonkel dort versteckt haben mag.«

»Das war nicht des Onkels Art«, warf Frau Maria ein, die eben wieder erschien und mit Rieke's Hilfe den großen runden Tisch unter der Linde deckte. »Nein, Onkel hätte das Geld lieber verschenkt, als daß er es auf dem Boden verborgen hätte.«

»Er konnte es aber lieber unseren beiden Familien hinterlassen, als der Stadt, die reich genug ist«, grollte Frau Emilie.

»Der Zufriedene ist der glücklichste«, versetzte Frau Maria. »Wir haben noch nie Not gelitten.«

Die Schritte der beiden Herren ließen sich hören. Die Kinder, die sich immer rechtzeitig einstellten, wenn es etwas zu essen gab, rückten auch heran. Bald saßen die beiden Brüder mit Frau und Kindern um den großen Familientisch, der sie, ach wie oft, vereinigt hatte.

»Heute zum letztenmal, Ernst, ich kann es mir kaum denken, daß ihr in weite Ferne zieht und uns allein zurücklaßt«, sagte der ältere Dunker.

»Es war ein selten schönes Zusammenleben. Sogar unsere Frauen haben sich musterhaft vertragen«, bemerkte Herr Ernst und sah die Damen neckisch an.

»Wir haben uns doch so lieb gehabt«, rief Frau Maria. »Weißt du nicht, Ernst, daß wir schon vorher Freundinnen waren?« Sie reichte Emilie über den Tisch die Hand. »Die Liebe ist nicht an Zeit und Ort gebunden, meine Liebe geht mit dir.«

»Und die meine bleibt hier.«

Heitere und ernste Gespräche würzten das Mahl, doch war heute ein ernster Ton vorherrschend. Als mit den Gläsern auf ein fröhliches Wiedersehen angestoßen wurde, da glänzten in der Eltern Augen Tränen, während die Kinder, die noch nicht wußten, was Abschied zu bedeuten hatte, lachten und scherzten, sich neckten und allerlei Allotria trieben. Heute ließen die Eltern sie gewähren, sonst wurde auf gesittetes Betragen bei Tisch gehalten, heute hob die Fröhlichkeit der Kinder sie über die Traurigkeit des Abschieds hinweg.

Das Sitzen beim Abendbrot währte an diesem Abend länger als gewöhnlich. Die Jugend begann schon eine gewisse Unruhe in den Beinen zu entfalten, und als einer sich das Herz gefaßt hatte zu sagen: »Vater, dürfen wir aufstehen?« und derselbe mit dem Kopf genickt, da stoben sie davon. Sie mußten etwas Besonderes vorhaben.

Während Rieke hin- und herging und den Tisch abräumte, saßen die Eltern in traulichen Gesprächen beisammen. Es dunkelte allmählich. Da – was war das? Eine Rakete stieg empor, da noch eine und wieder eine, auch Feuerräder und bengalische Flammen, welche letztere den Garten magisch beleuchteten.

»Das ist die Überraschung, die die Kinder vorhatten«, rief Frau Maria. »Ich wunderte mich auch, daß unser Ältester mit der Gesellschaft aufstand, er pflegt sonst gern bei den Erwachsenen zu bleiben.«

»Die Kinder machen es aber einzig nett. Wo stecken sie nur?« ließ sich Tante Emilie vernehmen.

»Unten im Garten, auf dem freien Platz, der eignet sich gut dazu.«

»Mich wundert nur, daß Trudchen es nicht verraten hat, das ist sonst eine kleine Plaudertasche.«

»Von Feuer hat sie zu mir gesprochen«, berichtete Tante Emilie. »Ich verstand nur nicht, was das Kind wollte. Aber horcht, was ist das?«

Das Feuerwerk war zu Ende. Ein lieblicher Gesang ertönte von unten herauf, begleitet von der Violine des Ältesten. »Es ist bestimmt in Gottes Rat, daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden – ja scheiden usw.«

»Die Kinder haben mehr Verständnis von der Sache, als wir glaubten«, sagte Dunker, der Ältere.

»Man merkt, daß ihnen das Scheiden von der Heimat auch nicht leicht wird«, stimmte der Bruder bei.

»Sie werden es noch mehr empfinden, wenn sie in der großen Stadt das eigene Haus und den Garten entbehren müssen.«

»Ach, Ernst, es ist doch etwas Köstliches um Bruderliebe und Freundschaft, wie weh ist mir ums Herz, diese hinfort entbehren zu müssen.«

»Es geht mir auch so, lieber Bruder. Ich möchte euch recht gute Nachbarn wünschen, mit denen ihr, wenn auch nicht eng, doch freundschaftlich verkehren könnt. Möchte die Tür zwischen beiden Gärten immer, wie sonst, den Verkehr vermitteln.«

Man sprach dann von etwaigen Käufern des Hauses. Der Häusermakler würde ja, sobald er konnte, es an jemand wieder verkaufen. Otto Dunker nannte diesen und jenen, der vielleicht Lust haben könnte, Genaueres wußte man nicht. Nun kamen die Kinder aus dem Garten herauf, wurden gelobt wegen der hübschen Überraschung, dann verfügte sich groß und klein ins Haus, wo Familie Dunker jun. noch eine Nacht unter dem gastlichen Dach des Bruders zubrachte. Am anderen Morgen war alles zeitig wach. Nach dem Kaffee rüstete man zum Aufbruch. Die Kinder, die alle ihre liebsten Habseligkeiten selber trugen, gingen voran. Der alte aufgestöberte Schlitten spielte eine Hauptrolle, fast beneideten die Hiergebliebenen die Abreisenden darum. Einer der Knaben trug einen kleinen Papierdrachen, der sich nicht hatte mit einpacken lassen, die kleine achtjährige Erna war mit einem Puppenwagen beladen, so hatte jedes seine Bürde. Hinter den Kindern schritten die Eltern, voraus war schon der Gepäckträger mit den Koffern.

Am Bahnhof wurde alles schnell erledigt, die Karten gelöst, dann mußte man eilen, an den Zug zu kommen. Herzinniger Abschied, Einsteigen, mehrmaliges Winken und Rufen, fort brauste der Zug in die weite Ferne.


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