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9. Der Unfall

Der Winter war streng in diesem Jahre, für die Jugend sehr willkommen. Der Fluß, an dem die Stadt lag, war mit einer festen Eisdecke überzogen, so daß, wer den Eissport liebte, sich nach Herzenslust darauf vergnügen konnte. Georg und Heinz nutzten denn auch ihre Freistunden nach der Schule gehörig aus. Sie waren auch heute wieder mit ihren Schlittschuhen abgewandert, hatten aber strenge Weisung, vor dem Dunkelwerden nach Hause kommen. Heute war es schon spät, Frau Maria sah besorgt nach der Uhr, sie kamen immer noch nicht. Es dunkelte bereits, sie war schon im Begriff, selbst nach ihnen auszuschauen, da klingelte es an der Haustür, wohlbekannte Schritte ließen sich hören.

»Gott sei Dank, da sind sie«, rief die Mutter, während Gretchen äußerte:

»Mutter, du mußt dich nicht gleich sorgen; sie unterhalten sich auf dem Rückweg mitunter lange mit Freunden, besonders mit Wilhelm Behrens, oder sie machen eine kleine Besorgung.«

Jetzt wurde die Tür zur Wohnstube geöffnet, Georg steckte den Kopf herein und rief: »Mutter, kannst du nicht einmal herauskommen?«

»Siehst du, Gretchen, da ist doch wieder etwas nicht in Ordnung.« Verwundert, was es gebe, ging Frau Dunker hinaus.

»Mutter«, begann der Knabe hastig, »wir haben jemand mitgebracht, der auf dem Eise gefallen ist und sich wahrscheinlich den Fuß gebrochen hat.«

»Wo ist denn der Jemand, und wer ist es? Doch nicht unser Heinz?«

»Nein, der und ein Freund haben Herrn Hemsing in unsere Stube gebracht, nach Hause konnte er nicht, weil es zu weit ist.«

»Kinder, einen fremden Herrn bringt ihr mir hier ins Haus.«

»Wir dachten, unsere Mutter würde nicht böse sein, wenn wir ihn mit hierher nähmen. Er konnte kaum auftreten.«

»Und ich soll Hilfe schaffen in der Not!« Kopfschüttelnd betrat sie das Zimmer ihrer Söhne. Es war ein hübsches, zweifenstriges Gemach, nach dem Garten zu gelegen. Heinz hatte den Herrn schon auf einen Stuhl gebracht, einen andern ihm untergeschoben, damit der Fuß darauf ruhen konnte, und die Lampe angezündet.

Als Frau Maria das Zimmer betrat, wollte sich der Fremde erheben, Frau Dunker bedeutete ihm, sitzen zu bleiben, worauf er mit angenehmer Stimme sagte: »Verzeihen Sie, verehrte Frau, daß ich mich habe hierher schleppen lassen. Wenn der Fuß nicht sehr geschmerzt und ich gefürchtet hätte, heute abend in unserem Dorfe keinen Arzt zu bekommen, würde ich Sie nicht belästigt haben. Aber Ihre Söhne waren so freundlich, mich ins Schlepptau zu nehmen.«

»Ist ganz recht so. Sie wissen, daß ich gern bereit bin zu helfen, wenn es in meinen Kräften steht.« Sie schickte Georg sofort zum Arzt und ging dann, um mit Gretchen zu beraten, was weiter geschehen solle.

»Kennst du einen Herrn Hemsing, Gretchen?« fragte sie diese, nachdem sie kurz berichtet hatte, was geschehen war.

»Das ist ein Freund von Christian. Sie haben sich schon auf der Universität kennengelernt und sind hier in den Ferien auf dem Eise noch näher bekannt geworden. Er ist der Pastorensohn aus einem Nachbardorf. Er kommt öfters auf Schlittschuhen von seinem Dorf hergefahren, weil der Fluß hier belebter ist; er sagte kürzlich, allein möchte er nicht gern Schlittschuh laufen, und da der Fluß an dem Pfarrgarten vorüberfließt, so kommt er, wenn die Eisdecke hält, gern von da herüber.«

»So kennst du den Herrn?«

»Ich habe ihn erst einmal gesehen, als er in den Ferien auf dem Eise war. Christian hat schon öfter von ihm erzählt.«

»Studiert er vielleicht mit ihm zusammen?« »Nein, ich glaube, er ist Theologe. Aber bestimmt weiß ich es auch nicht.«

Jetzt kam der Arzt, Frau Maria eilte, ihm Beistand zu leisten. Es war ein nicht unbedeutender Knochenbruch und, wie der Doktor sagte, würde die Heilung mehrere Wochen in Anspruch nehmen. Der Fuß wurde eingegipst, und der Doktor versprach, am folgenden Tag wiederzukommen.

Dem jungen Mann schien es unangenehm, daß er in einem fremden Hause Gastfreundschaft annehmen sollte, aber Frau Dunker hatte ihm in so liebenswürdiger Weise Quartier angeboten, daß er es wenigstens für diese Nacht angenommen hatte. Heinz hatte ihn schon vorher getröstet mit den Worten: »Kommen Sie nur mit uns, Herr Hemsing, meine Eltern sind gut. Sie nehmen zu Ostern ein junges Mädchen auf ein ganzes Jahr ins Haus, da werden sie einen jungen Herrn gewiß auch gern bei sich aufnehmen.«

Frau Maria fragte nun, ob nicht ein Bote nach Langendorf geschickt werden müsse, um die Eltern zu benachrichtigen; da wurde ihr gesagt, daß Wilhelm Behrens, Heinz' Intimus, das übernommen habe. Da es noch hell gewesen, als der Unfall geschah, habe er noch mit Schlittschuhen bis an das Dorf laufen können, zurück wollte er den Landweg gehen. Das beruhigte Maria, und als Herr Dunker aus dem Geschäft kam, war alles besorgt, das Zimmer, wo der junge Mann liegen sollte, in Ordnung; der Vater mußte nun hilfreiche Hand leisten, den Verunglückten mit den kräftigen Söhnen die Treppe hinaufbringen.

»Welche Unruhe, welche Störung bringe ich Ihnen ins Haus, Herr Dunker«, sagte wieder der junge Mann, mußte aber bald wahrnehmen, daß der Hausherr gerade wie seine Frau gesonnen war, daß es beiden Freude machte, anderen dienen und helfen zu können.

Georg und Heinz waren sehr besorgt um den älteren Freund. Sie baten darum, ihm das Abendbrot hinauftragen zu dürfen, jammerten, wie wenig er essen könne, liefen nach dem Essen mit Schach, Halma und Saltabrettern nach oben, um ihm die Zeit zu vertreiben. Leider lehnte der junge Mann alles ab. Er bat nur um Ruhe, weil der Schmerz, die Aufregung und alles ihn etwas angegriffen habe.

Spät am Abend stampfte sich jemand draußen die Füße ab. Es war der treue Wilhelm, der den Eltern den Unfall berichtet hatte. Diese ließen sich der Familie Dunker empfehlen und ihren tiefempfundenen Dank aussprechen. Sie würden morgen selbst kommen, sich nach dem Patienten umsehen und ihn wennmöglich heimholen.

Man sprach noch lange über den Fall. Herr Dunker meinte, er habe schon öfters von der Familie Hemsing in Langendorf gehört. Er sollte ein tüchtiger Prediger und Seelsorger sein. Herr Dunker glaubte ihn schon mitunter in der Stadt gesehen zu haben und freute sich, bei dieser Gelegenheit mit der Familie bekannt zu werden.

Am anderen Morgen schon beizeiten hielt eine Landkutsche vor der Tür, der eine große, korpulente Dame entstieg. Sie hatte ein breites Gesicht mit ausgeprägten Zügen. Es lag etwas Energisches, Tatkräftiges in ihrer ganzen Erscheinung. Sie kam gleich ins Haus mit den Worten: »Ich bin die Pastorin Hemsing und wollte nach meinem Sohn sehen.« »Ich glaube, der junge Herr schläft noch«, sagte Rieke, »aber wollen Frau Pfarrer hier eintreten.« Sie öffnete das Besuchszimmer und ließ die Dame hinein, rief ihre Herrin, und bald waren die Frauen miteinander in lebhafter Unterhaltung.

»Wie ist es lieb und freundlich von Ihnen, liebe Frau Dunker, sich meines Sohnes anzunehmen! Er wollte dies Vierteljahr zu Hause bleiben, um zu studieren und sich zum zweiten Examen vorzubereiten, nun muß er das Unglück haben.« »Wenn er auch gezwungen sein wird, mehrere Wochen den Fuß aufzulegen, so wird es ihn doch nicht vom Studieren abhalten können. Im Gegenteil«, fügte Frau Dunker lächelnd hinzu, »die jungen Leute werden oft, wenn sie wohlauf sind, zu allerlei aufgefordert, was sie vom Studieren abhält, nun muß Ihr Herr Sohn wohl oder übel still sitzen.«

»Das schon, meine liebe Frau Dunker, wenn nur der Fuß nicht steif bleibt, wenn nur alles ordentlich heilt, daß Gerhard nicht hinkt. Doch ich möchte ihn sehen, wenn es Ihnen recht ist.«

Die beiden Damen gingen hinauf zu dem Patienten. Frau Maria aber verließ bald darauf das Zimmer, rücksichtsvoll bedenkend, daß Mutter und Sohn gern allein sein möchten.

Nach geraumer Zeit kam die Pastorin herunter mit betrübtem Gesicht. »Der Arzt, welcher gerade kam, wünscht, daß mein Sohn noch einige Tage hier bleibt, damit er ihn beobachten kann. Ich kann doch unmöglich annehmen, daß Sie, die Sie schon so viel für ihn getan haben, ihn noch weiter verpflegen.«

Frau Maria fiel ihr in die Rede, daß sie es mit herzlicher Freude tue, die Frau Pfarrer solle sich um nichts sorgen, sie würde ihr oft Nachricht zukommen lassen. Sobald der Arzt die Verbringung erlaube, könne sie den Wagen schicken und ihn holen lassen.

Frau Dunker versicherte noch einmal, daß Herr Hemsing sie durchaus nicht belästige, und nachdem die Frau Pfarrer noch einmal ihren Dank ausgesprochen und auch Herr Pfarrer einen kurzen Dankbesuch gemacht hatte, fuhr die Pastorenkutsche wieder vor.

»Das ist ein Familienwagen, den laß ich mir gefallen«, rief Frau Maria, als die beiden Damen vor der Haustür standen und auf den Herrn Pfarrer warteten, der noch zu seinem Sohn hinauf gegangen war.

»Diesen Wagen schicken wir Ihnen, liebe Frau Dunker, wenn Sie und alle Ihre lieben Kinder uns besuchen. Darauf freue ich mich schon sehr. Dann will ich Ihnen alle Liebe und Freundlichkeit vergelten, die Sie meinem Sohn erwiesen haben.«

Jetzt kam der Herr Pfarrer von oben, freute sich über das Aussehen seines Sohnes, versicherte noch einmal seine Dankbarkeit, dann stieg man ein, und die alte Kutsche rumpelte davon.

Gegen Abend ließ sich auf der Treppe ein großes Gepolter hören, dazwischen ein Ächzen und Stöhnen, wie wenn jemand mit einer schweren Bürde kämpfte. Die Mutter und Gretchen sahen hinaus und riefen wie aus einem Munde: »Kinder, was macht ihr da?«

»O, wir schaffen unsere Matratze in Herrn Hemsings Stube. Es muß jemand bei ihm schlafen, Georg und ich wollen abwechseln. Laß uns nur, Mütterchen, wir bringen es schon allein fertig.«

Gertrud trabte hinterher mit einem großen Bett. »Wo willst denn du hin, Trude?« fragte Gretchen.

»Ich will den Herrn Kandidat mit dem gebrochenen Fuß sehen und den Brüdern helfen«, rief das Kind, und die Karawane arbeitete sich die Treppe hinauf. Da wurde auch dem Gretchen das Herz weich. »Wenn ich nur seine Lieblingsspeise wüßte, ich täte auch gern etwas für den armen Mann.«

Frau Maria fand es für besser, selbst nachzusehen, was die eifrigen Jungen ausübten, ohne ihr etwas zu sagen. Herr Hemsing hatte geäußert, daß er in der Nacht Durst gehabt und nicht zum Wasser habe gelangen können, da fanden sie es für nötig, ihre Lagerstätte bei ihm aufzuschlagen. Dazu hatten sie gehört, daß Herr Pfarrer zu seinem Sohn geäußert: »Schläfst du denn allein, kannst du niemand rufen?« Das war ihnen Grund genug, diesen Umzug zu bewerkstelligen. Die Mutter meinte nur, zweckmäßiger sei es, Herrn Hemsing alles was er nötig habe, auf das Tischchen neben dem Bett zu setzen, denn sie zweifle daran, daß die Jungen aufwachen würden. Aber sie wolle sie ruhig gewähren lassen, es sei gut, wenn sie sich daran gewöhnten, für andere etwas zu tun, sich in der Selbstlosigkeit zu üben. –

»Ob sie wohl aufgewacht sind?« fragte Frau Maria am anderen Morgen die Mädchen.

»Ja, Mutter«, erwiderte die in alles eingeweihte Gertrud. »Georg, der zuerst oben schlief, hat sich einen Bindfaden an die große Zehe gebunden und das lange Ende Herrn Hemsing an die Hand gegeben, so daß er immer ziehen konnte, wenn er etwas gewollt hat. Er hat aber nichts gewollt, er hat immer gelacht. Heute kommt Heinz dran, da wird es ebenso gemacht.«

Sie lachten herzlich, als sie es hörten, und Gertrud fuhr fort:

»Dir, Gretel, läßt Herr Hemsing danken, daß du ihm eine Lieblingsspeise kochen wolltest, er esse aber alles gern, was du kochen würdest.«

»Aber Gertrud, das solltest du ihm doch nicht sagen«, rief Gretchen tief errötend.

Es wurden 14 Tage aus Herrn Hemsings Aufenthalt im Dunkerschen Hause. Da war es endlich so weit, daß der Gipsverband abgenommen und ein anderer Verband angelegt werden konnte. Dann erschien eines Tages wieder die große Landkutsche; diesmal kam eine erwachsene Schwester mit, ein freundliches, blauäugiges Mädchen in Gretchens Alter, die sich schnell mit der Altersgenossin anfreundete. Der Bruder sollte nun nicht länger die Gastfreundschaft in Anspruch nehmen. Der Arzt konnte, wenn es nötig war, einmal herauskommen, oder der Bruder zu ihm gefahren werden. Der Abschied von dem Herrn Kandidaten war von Dunkers Seite herzlich und freundlich, von seiner Seite voll Dankbarkeit.

Ein baldiger Besuch der Familie Dunker wurde in Aussicht gestellt, doch machte es sich nicht so bald in den Wintertagen. Erst im April, als milde Frühlingslüfte wehten, in den Osterferien, hielt eines Tages die Familienkutsche vor der Tür. Jung und Alt schlüpfte hinein, um der freundlichen Einladung ins Pfarrhaus zu Langendorf Folge zu leisten. Alles war in froher, angeregter Stimmung. Der kommende Frühling, das Erwachen der Natur, das Fahren in der großen altertümlichen Kutsche, alles gab Anlaß zu heiteren, frohen Gesprächen, zu humoristischen Bemerkungen. Daß auch der Vater sich freigemacht und der Student Christian mitfuhr, war eine besondere Freude der Mutter, die am glücklichsten war, wenn sie die ganze Familie um sich hatte.

»Reinhold wäre so gern auch mitgefahren«, hob Trudchen an, »er sah so traurig aus, als wir wegfuhren.«

»Dann hättest du ihn auf den Schoß nehmen müssen, Trude«, bemerkte der Student. »Ich dächte, wir säßen schon eng genug. Wenn ich nicht so dünn wäre und Gretchen etwas wohlbeleibter, könntest du nicht zwischen uns sitzen. Ebenso würde Heinz, wenn die Eltern korpulent wären, nicht zwischen ihnen Platz finden.«

»Georg hat es gut«, seufzte Heinz, »der sitzt draußen beim Kutscher.«

»Du kannst auf dem Rückweg seinen Platz einnehmen«, begütigte die Mutter.

Der Wagen rumpelte gemütlich dahin an den letzten Häusern der Stadt vorbei, an der Villa vorüber, die wie immer still und einsam da lag.

»Sieht man denn niemals jemand dort, es ist ja, als wäre es ein verzaubertes Schloß«, meinte der Vater, sich zum Fenster des Wagens herausbeugend.

»Gestern wurde im Garten gegraben«, berichtete Heinz. »Aber die Jungen auf der Straße sind oft so frech, werfen mit Steinen in den Garten und rufen: ›Hexe, heraus‹. Sie sagen, dann zeigt sich mitunter eine grauhaarige Alte am Fenster und droht.«

»Hoffentlich begeht ihr keine Ungezogenheit?«

»Nein, Vater, aber die Kramer'schen Jungen sind auch dabei.«

Der Vater seufzte und brachte das Gespräch auf etwas anderes. Sie fuhren nun auf der Landstraße dahin, die im Hintergrund zu beiden Seiten von Bergen und Hügeln begrenzt war. Der Fluß wand sich in einiger Entfernung von der Chaussee, einem Silberfaden gleich, zwischen Feldern und Wiesen dahin. Auf den Feldern waren die Leute schon geschäftig mit Pflügen und Ackern. Bald kam ein Dorf in Sicht, es war das nächste von der Stadt aus, Rotenau hieß es.

»Nun noch eine Viertelstunde, dann kommt Langendorf, mit dem schlanken Kirchturm und der hübschen Pfarre«, rief Heinz, der natürlich schon etliche Male mit Georg dagewesen war, um den Freund zu besuchen. Die sehr gute Aufnahme, die sie im Pfarrhaus fanden, ließen sie sich gern gefallen. Die Frau Pfarrer sorgte immer für besonders gute Bewirtung, sie war ja diesen wackern Jungen, die so treu für ihren Sohn gesorgt hatten, großen Dank schuldig.

So war sie auch heute sehr geschäftig, um einen guten Kaffee für die erwarteten Gäste herzustellen. Der beliebte Mandelkuchen, der schon zum Fest in großer Menge gebacken war, stand in Stücke geschnitten hoch aufgeschichtet auf den Tellern in der geräumigen Eßstube auf einem langen, mit feinem, weißem Tuch gedeckten Tisch, die besten Tassen waren hervorgeholt. Alles war sauber und blitzte, man merkte, daß tüchtige Hausfrauenhände hier walteten.

»Jetzt höre ich unsern Wagen«, rief Henriette, gewöhnlich Etty genannt. Das junge Mädchen lief ans Fenster. »Ja, sie kommen!«

»Gerhard«, rief sie nach oben, »Dunkers kommen!« Nun hielt der Wagen und die ganze Familie krabbelte nach und nach heraus. Der Herr Kandidat stand am Wagenschlag und reichte jedem ritterlich die Hand.

»So gut wieder auf den Füßen, mein lieber Hemsing«, rief Herr Dunker.

»Ein bißchen steif ist der Fuß immer noch, aber ich massiere ihn fleißig und setze ihn täglich in Bewegung, das wird mit der Zeit alles überwunden.«

Frau Pfarrer hatte Frau Dunker in Beschlag genommen und führte sie eifrig redend ins Haus, wo der Hausherr eben aus seinem Studierzimmer trat, die Gäste zu begrüßen. Ein kleiner, feiner, zierlicher Herr, dem man die geistliche Würde schon von weitem ansah.

»Ich war so eifrig im Lesen einer kirchlichen Zeitschrift, daß ich das Kommen des Wagens ganz überhört habe.«

»Mein Mann ist immer ein bißchen in Gedanken, das müssen Sie ihm nicht übelnehmen«, entschuldigte Frau Pfarrer.

Sie ließ alle Gäste mit freundlichem Willkommen eintreten. Bald saß man um den Kaffeetisch und Etty, die das Einschenken übernommen, ging mit freundlichen Mienen und bot den Kuchen an. Die beiden jungen Mädchen fanden sich bald zusammen, während Georg und Heinz sich zu den beiden Herren setzten, weil sie sich voll und ganz zu Gerhards Freunden rechneten. Christian hatte sich natürlich das Mißgeschick des Freundes erzählen lassen und freute sich, daß Gerhard nicht nur Hausfreund dadurch geworden, sondern daß beide Familien durch den Unfall bekannt und befreundet geworden waren. Herr und Frau Dunker aber, die mit den Pfarrersleuten obenan saßen, fühlten sich bald heimisch in dem Kreise. Die Herren hatten auf kirchlichem Gebiet ein anregendes Thema gefunden, während die Damen sich in Wirtschaftsangelegenheiten vertieften.

»Sie müssen durchaus nach dem Kaffee unser ganzes Gebiet kennenlernen, liebe Frau Dunker, nach dem Kaffee wandern wir miteinander.«

So geschah es. Die jungen Mädchen schlossen sich ihnen an, die Herren gingen zur Besichtigung der Kirche, die einzelne alte Bilder und Schnitzereien aufzuweisen hatte.

»Hier ist unser Garten.« Frau Pfarrer schloß eine Glastür auf, die von der besten Stube in den Garten führte. »Es ist allemal eine Freude für alle, wenn dieser Durchgang im Frühling wieder frei ist. Im Winter wird er mit einer Brettertür verschlossen.«

Frau Dunker staunte über die Menge der Obstbäume, über die großen Flächen, die, wie Frau Pfarrer sagte, mit Gemüse bepflanzt wurden. Man sah, wie fleißig schon gearbeitet worden war.

»Jetzt gibt's tüchtig zu tun. Erbsen und Bohnen sind schon gelegt, auch Kartoffeln teilweise gepflanzt.«

»O«, rief Gretchen, »die hübschen Frühlingsblumen.« Etty bückte sich und pflückte Veilchen, Krokusse und Tulpen.

»Schade, daß wir für Trudchen niemand haben«, sagte Frau Pfarrer bedauerlich. »Wenn meine kleine Elisabeth nicht gestorben wäre, dann hätte sie eine Altersgenossin gehabt.«

»Das schadet nicht, Frau Pfarrer«, rief Gretchen. »Sie hat in der Stadt eine Menge Schulfreundinnen, die sie besuchen, sie ist gern einmal mit größeren Mädchen, wie wir sind, zusammen.«

Trudchen nickte zustimmend und bückte sich, um Etty beim Veilchenpflücken zu helfen, was auch Gretchen tat, die behauptete, Veilchen seien ihre Lieblingsblumen.

»Nun wollen wir auf den Hof gehen, da gibt es auch mancherlei zu sehen, was Sie interessieren wird, liebe Frau Dunker. Da unten, am Garten vorbei, fließt der Fluß, auf dem Gerhard im Winter bis zur Stadt fuhr, wo er den Unfall hatte.« Auch den mußte Frau Maria noch in Augenschein nehmen, dann ging es in den Hof. Da gab es Ställe und eine große Scheune, auch allerlei Getier. Aber wer war denn das?

Eine große schlanke Dame, ja der ganzen Haltung nach mußte es eine Dame sein, obwohl der Anzug nicht danach aussah! Sie war mit einem schlichten dunkelgrauen Kleide angetan und hatte eine lange weite Schürze um, von dunkelgrauer Leinwand, die zwei tiefe große Taschen zeigte. Die Taschen bauschten ab, weil sie mit allerlei Eßwaren für die Tiere angefüllt waren. In den Taschen gab es Reis, Weizen und Mais, womit sie eine Unzahl von Hühnern und Hühnchen, von Tauben und Enten fütterte, die sie in großen Scharen umlagerten. Zwei Täubchen saßen ihr auf den Schultern, auf jeder eine. Sie griff mit Wohlbehagen in die Tasche und das Federvieh schnatterte, gackerte und gurrte um sie herum, daß die Damen ihr eigenes Wort nicht verstanden. Dann, nachdem die Fütterung vorüber war, verschwand die Dame in den Ställen, wo sie, wie es schien, Wichtiges zu tun hatte.

»Wer ist denn das?« fragte Frau Maria mit einer gewissen Neugierde. »Eine Bedienstete ist es nicht?«

»Nein«, lachte Frau Pfarrer, »das ist die Tante Alice, eine Schwester meines Mannes, eine große Tierliebhaberin. Sie liebt die Tiere fast mehr als die Menschen.«

»Sie war doch gar nicht am Kaffeetisch.«

»Nein, sie liebt es, ihren Kaffee oben auf ihrem Zimmer zu trinken. Heute abend werden Sie sie kennenlernen in anderer Gestalt als jetzt. Sie war lange Jahre Lehrerin in England in den vornehmsten Lordshäusern, ihre Schülerinnen verehren sie noch sehr und stehen mit ihr in beständigem Briefwechsel.«

»Ja«, bekräftigte Etty, die mit Gretchen und Gertrud bei den älteren Damen stand, »Tante Alice ist sehr nett und sehr interessant. Ihr werdet sie auch liebgewinnen, wenn ihr sie näher kennt.«

»Was hat sie denn im Stall zu tun?« fragte Gertrud neugierig.

»Da gibt sie den Pferden Zucker oder Hafer, sieht, ob alles bei ihnen oder bei den Kühen in Ordnung ist, ob sie nicht zu fest angebunden sind, ob sie gute Streu haben. Wenn das alles besorgt ist, geht sie nach oben, liest Englisch oder schreibt englische Briefe. Ich habe auch Englisch bei ihr gelernt, Tante Alice spricht es wie Deutsch.«

»O«, sagten die Mädchen, sehr gespannt auf die Bekanntschaft einer so klugen Tante, die sich nicht schämte, in die Ställe zu gehen.

Am Abend, als der Teetisch gedeckt war, trat eine Dame ins Zimmer, der man sofort die »Lady« ansah. Sie erschien in einem feinen schwarzen Tuchkleid mit Schleppe, eine feine Spitzenkrause umschloß den Hals, ein rotseidenes Tuch war lose um die Schultern gehängt. Sie machte einen durchaus vornehmen Eindruck. Sie verneigte sich graziös nach allen Seiten hin, wurde den Gästen vorgestellt und mußte mit Frau Dunker gleich ein passendes Gespräch anknüpfen. Ihre schönen großen, tiefblauen Augen taten es jedem an, der sie zuerst sah. Sie redeten von reifer Erfahrung, von vielen interessanten Erlebnissen. Und wenn Tante Alice dann bekannter wurde und von England zu erzählen anfing, da floß der Mund über, so daß alles schwieg und ihr mit Spannung zuhörte. Die jungen Mädchen waren ganz entzückt von dieser Tante, von ihr hatte ja Herr Hemsing nie erzählt. Überhaupt gab es im Pfarrhaus so viel Schönes, daß sie immer in einem Staunen und Wundern waren. Als nun gar Tante Alice ihnen anbot, sie wollte im Sommer ein kleines englisches Kränzchen mit ihnen anfangen, und Frau Pfarrer sie einlud, sie sollten auch Fräulein Eva, von der die Mutter mit ihr gesprochen, mitbringen, da waren sie glückselig und behaupteten auf der Rückfahrt, noch nie einen so schönen Tag verlebt zu haben, wie in der Pfarre zu Langendorf.

Am anderen Morgen erschien Herr Hemsing – er ging längst den Weg wieder zu Fuß – und brachte dem errötenden Gretchen ein ganzes Körbchen voll Veilchen.

»Sie haben gestern die Blumen bei uns vergessen«, sagte er. »Nun waren sie welk geworden, und da ich von Etty hörte, daß Veilchen Ihre Lieblingsblumen sind, habe ich dies Körbchen für Sie gepflückt.«

»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, ich danke sehr, wir wollen sie der Mutter bringen«, meinte sie verlegen.

»Nein, sie sind für Sie, Sie sollen sie in Ihr Zimmer stellen, es ist ein geringer Dank dafür, daß Sie mir so oft meine Lieblingsspeisen gekocht haben. Trudchen hat mich immer gefragt, was ich wohl essen möchte.«

»Das sollte sie gar nicht, es hat's ihr niemand aufgetragen«, rief Gretchen wieder errötend. Sie nahm das Körbchen, setzte die Blumen in ihr Zimmer und bald erfüllten sie den Raum mit ihrem lieblichen Duft. Sie selbst aber hatte den Tag über ein sehr glückliches Gesicht.


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