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21. Besuch bei Cousine Martha

»Nun, ihr Töchter, sind die Portemonnaies in richtiger Verfassung? Seid ihr schon im klaren, welche Einkäufe ihr machen wollt? Gretchen hat nun nicht nur an Eltern und Geschwister zu denken, sie muß das ganze Langendorfer Pfarrhaus beschenken, den Verlobten, die Schwiegereltern, Etty und Tante Alice nicht zu vergessen.«

»Tante Alice bekommt von uns etwas Gemeinsames, Vater, das haben wir uns schon überlegt«, rief Eva.

»Wenn das Geld nicht langt, wendet Euch nur an den Vater, er muß ja doch für alles herhalten. Nicht wahr, Mutter, du gedenkst mich tüchtig auszubeuteln?«

So scherzte Herr Dunker, als er mit den Seinen der Großstadt zufuhr. Er hatte sich einen geschäftsfreien Tag gemacht und war an solchen Tagen außerordentlich umgänglich und heiter. Heute schien ihn etwas besonders Angenehmes zu beleben. Er teilte es den Seinigen, wie er gestern versprochen, jetzt mit.

»Ich sagte euch, daß ich einen langen Brief von Onkel Ernst hatte. Er schreibt, er habe, seit er Direktor am Gymnasium geworden, eine große Amtswohnung und eine gute Einnahme. Die Geschichte von unseren Nachbarn liege ihm, seit ich davon geschrieben, beständig im Sinn, nun bäte er mich im Einverständnis mit seiner Frau, es zu vermitteln, daß ihm einer von den Söhnen der Frau Kramer überlassen würde. Er wolle für seine Erziehung und sein künftiges Fortkommen sorgen.«

»Das ist ja köstlich«, sagte Frau Maria, die bis dahin schweigsam und sinnend dagesessen hatte.

Die beiden Mädchen aber riefen wie aus einem Munde: »Das muß Reinhold sein.«

»Dasselbe habe ich auch gedacht. An dem wird Onkel Ernst jedenfalls die meiste Freude haben. Wir müssen aber Frau Kramer selbst entscheiden lassen. Es ist mir eine wirkliche Freude, sie zu sehen, denn außer dieser Nachricht habe ich ihr ein hübsches Sümmchen auszuhändigen; meine Sammlung ist von einem Erfolg begleitet gewesen, den ich nicht erwartet habe.«

»Du hast dir aber auch viel Mühe gegeben, lieber Mann.«

»Es ist eine der schönsten Freuden, für andere sorgen zu können. Du hast es ja auch in reichem Maße getan, hast seinerzeit mehr Mühe und Last gehabt als ich«, sagte der edle Mann.

Am Bahnhof herrschte ein großes Gewirre, denn alles eilte vor Weihnachten in die große Stadt, um Einkäufe zu machen, es war kaum eine Droschke zu haben.

»Wir wollen doch zu Fuß gehen, Vater«, bat Gretchen, »wir können uns unterwegs dann die hübschen Läden ansehen.«

»Es ist zu weit, Kind, du kennst die Entfernungen in der großen Stadt nicht. Ihr könnt später noch genug umherlaufen und euch die Läden betrachten. Halt, da steht noch eine Droschke.« Sie eilten darauf zu, und nun ging es in schnellem Trabe durch Straßen und über Plätze der Wohnung der Cousine zu. Endlich wurde gehalten.

Man erwartete die Gäste. Frau Maria hatte sich und die ihren angemeldet, da sie wußte, wie ein plötzlicher Überfall die Hausfrau in Verlegenheit bringen konnte. Die Cousine, eine Frau Hagen, empfing die Verwandte mit großer Herzlichkeit. Hinter ihr stand Lieschen, etwas verlegen, aber hocherfreut, die Nachbarn aus der Heimatstadt zu begrüßen. Drinnen empfing sie ein reich besetzter Frühstückstisch und ein behaglich warmes Zimmer. Als die Reisenden sich ihrer Sachen entledigt hatten, setzte man sich, um sich nach der längeren Fahrt zu erquicken, dann aber in die Stadt zu eilen, um die vielen Einkäufe zu besorgen.

Lieschen eilte hinaus. Sie hatte heute viel zu tun, es war nicht so leicht, ein Mittagessen für so viele allein herzustellen, denn das Mädchen verstand nicht viel vom Kochen, konnte nur einige Handlangerdienste tun.

»Wie macht sich Lieschen?« war Frau Marias erste Frage, als das junge Mädchen das Zimmer verlassen hatte.

»Im ganzen gut«, gab Frau Hagen zur Antwort. »Das Kochen scheint ihr Freude zu machen, doch steht ihr Sinn ein wenig nach Äußerlichkeiten. Sie ist wohl etwas von den Eltern verwöhnt worden, hat mehr als Dame gelebt und wurde nicht zu treuer Pflichterfüllung angehalten. Doch hoffe ich, es soll mit der Zeit besser werden.«

»Und die Mutter?«

»Die Mutter macht mir Sorge. Sie sieht blaß und vergrämt aus und kann sich schwer in ihre jetzige Lage finden.«

»Aber sie muß doch dankbar sein, daß sie bei dir ein gutes Unterkommen hat.«

»Das ist sie auch. Sie ist rührend dankbar, aber man muß in Betracht ziehen, wie schwer diese veränderte Lage für die Frau ist. Aller ihrer Kinder beraubt, ist sie angewiesen, für ihr tägliches Brot zu arbeiten. Auch damit hatte sie in den ersten Tagen Schwierigkeiten. Sie war doch etwas aus allem herausgekommen, war gezwungen, vorher noch einige Stunden zu nehmen, das verzögerte die Anstellung. Erst seit einigen Tagen ist sie nun in dem großen Warenhaus. Um zwölf Uhr kommt sie nach Hause, um zwei Uhr muß sie wieder im Geschäft sein bis um sieben Uhr; jetzt, vor Weihnachten, kommt sie gewöhnlich erst um acht, ja, bisweilen wird es neun. Dann ist sie abgearbeitet und müde, sie ist froh, wenn sie sich, nachdem sie etwas gegessen, auf ihr Zimmer zurückziehen kann. Es ist unverantwortlich von dem Mann, daß er so gegen Frau und Kinder handeln konnte.«

Jetzt kam Lieschen ins Zimmer, und das Gespräch hatte ein Ende. Die Reisenden beschlossen, nun aufzubrechen, da, aus Rücksicht für Frau Kramer, um zwölf Uhr zu Mittag gegessen wurde.

»Ich habe es so eingerichtet«, erklärte Frau Hagen, »damit Frau Kramer nach Tisch noch ein wenig der Ruhe pflegen kann.«

Punkt zwölf Uhr, denn auf Pünktlichkeit hielt Herr Dunker, stieg er mit den Seinen wieder die Treppe zur Wohnung der Cousine empor. Hinter ihnen schlich eine blasse Dame, erschöpft und müde.

Die Mädchen waren mit Paketen beladen und schwatzten fröhlich miteinander. Als sie oben waren und sich umsahen, bemerkten sie die nach ihnen kommende Dame.

»Das ist ja unsere Frau Kramer«, rief Herr Dunker. »Wie schön, daß wir uns einmal wiedersehen.«

Ihr traten die Tränen in die Augen, ihre Züge waren schmerzlich bewegt. »Nun, Frau Kramer«, sagte Frau Maria freundlich, »wie geht es Ihnen?«

»Das Leben ist schwer, Frau Dunker«, war die Antwort.

Tatsächlich war das Leben schwer für eine Frau, die seit ihrer Verheiratung im Wohlstand gelebt, sich nur in Vergnügungen und Gesellschaften bewegt und das Pflichtgefühl hintangesetzt hatte. Dazu kam der schwere Schicksalsschlag mit dem Mann und die Erkenntnis, daß alles, alles anders hätte sein müssen.

»Nur immer getrost, Frau Kramer«, sagte Herr Dunker herzlich. »Immer aufwärts geschaut! Das Leben ist schwer, aber wir haben einen, der uns tragen hilft, ja der uns die Last leicht macht.«

Sie ging in ihr Zimmer, um abzulegen. Als sie sich zum Mittagessen im Eßzimmer wiedertrafen, ging Herr Dunker auf sie zu und überreichte ihr ein Kuvert mit den Worten:

»Im voraus ein kleines Weihnachtsgeschenk von einigen Freunden aus P. zum Zeichen, daß man sie dort nicht vergessen hat.« Sie errötete, nahm mit Dank, was ihr gegeben ward, und ließ das Kuvert in ihre Tasche gleiten. Es war ihr peinlich, soviel Wohltaten von einem Mann entgegennehmen zu müssen, den sie und besonders ihr Mann stets mit Verachtung behandelt hatten. Sie ahnte ja nicht, was die Veranlassung gewesen, die den Haß bei ihrem Mann gegen Herrn Dunker erzeugt hatte, und würde es nie erfahren.

Dem Lieschen war alles wohl geraten, sie sah erhitzt aus und Frau Hagen lobte sie. Auch Herr Dunker äußerte: »Ganz vorzüglich, Lieschen«, und ließ es sich wohl schmecken.

Nach Tisch erlaubte Frau Hagen dem jungen Mädchen, mit Gretchen und Eva, die noch mancherlei zu besorgen hatten, in die Stadt zu gehen. So wanderten die drei vergnügt ab, während die Eltern mit Frau Kramer in ihre Stube gingen, um die Sache wegen Reinhold zu besprechen.

Wie gemütlich und bequem war das Zimmer eingerichtet! Eine zweifenstrige Stube nach vorn heraus mit schönem Sofa, Teppich und Sofatisch, ein hübscher Glasschrank, eine Kommode und was sonst zu einer gediegenen Einrichtung gehörte. Blumen an den Fenstern, einige gute Kupferstiche an den Wänden, daneben ein Schlafkämmerchen mit zwei Betten für sich und ihre Tochter.

»Hier läßt es sich wohl wohnen, ein hübsches, gemütliches Zimmer«, rief Frau Maria, »das hat Cousine Martha gut gemacht.«

»Die Güte der Frau Hagen hat etwas Bedrückendes für mich, und dann das Hasten und Jagen in die Stadt. Morgens um halb acht muß ich aus dem Hause, wenn ich zur rechten Zeit im Kontor sein will, während ich sonst gewohnt war, um acht Uhr das Bett zu verlassen, oder wenn wir spät aus einer Gesellschaft kamen, erst um neun oder halb zehn. Aber es will alles gelernt sein und muß gelernt werden. Wenn nur die ganze Lage nicht so entsetzlich schwer wäre.« Sie konnte sich nicht länger halten, sie weinte bitterlich. Dunkers ließen sie ruhig gewähren, sie wußten, es war eine Erleichterung für die arme Frau.

»Es ist undankbar von mir, ich sehe es ein«, schluchzte sie. »Aber ich brauche Zeit, mich in die gänzlich veränderte Lage hineinzugewöhnen. Haben Sie nur Geduld mit mir, zürnen Sie mir nicht.«

»Keineswegs, Frau Kramer, sprechen Sie sich aus, sagen Sie uns alles, was Sie drückt, die Aussprache erleichtert das Herz.«

»Gerade in dieser Woche habe ich noch etwas Schweres erlebt. Mein Ältester, mein Edgar, schrieb, da er ohne Unterstützung nicht weiter studieren könnte, habe er sich entschlossen, zur See zu gehen. Dies sei schon lange sein Wunsch gewesen, er wolle es mir nur sagen, damit ich mich nicht sorge, wenn ich lange nichts von ihm hören würde.«

»Nun, er wird doch kommen und Abschied nehmen?«

»Ich schrieb ihm gleich, daß ich mich darein fügen müsse, da ich ihm zum Weiterstudieren nichts geben könne. Er möchte doch am vorigen Sonntag noch einmal kommen, damit wir alles Nähere besprechen könnten. Es war eine offene Karte, auf welche ich dies schrieb. Am nächsten Tage kam ein Brief von seiner Wirtin, in dem sie mir mitteilte, daß der junge Herr Kramer alles, was sein war, verkauft habe und abends abgereist sei, sie wisse nicht, ob nach Hamburg oder Bremen. Er hätte gesagt, er wolle drüben sein Glück versuchen.«

»Das ist allerdings sehr eigenmächtig gehandelt«, meinte Herr Dunker.

»Er ist immer sehr selbständig gewesen. Aber Sie können denken, wie mich alles tiefbewegt und mürbe gemacht hat.«

»Und Otto?« fragte Frau Maria.

»Er macht sich bis jetzt gut in der Kaufmannslehre.«

»Haben Sie Nachricht von Ihrem Schwager, wie es mit den anderen beiden Knaben geht?«

»Er schreibt, sie gebrauchten strenge Zucht, sie wären etwas verwildert, aber es wären begabte Jungen, aus denen bei anhaltendem Fleiß etwas werden könnte.«

»Gott gebe, daß Sie Freude an ihnen erleben. Und nun die Jüngsten?«

»Die kann ich ja öfter sehen. Sie haben es gut, aber die Pensionseltern klagen, daß sie es bei dem Preis nicht lange werden machen können, von Ostern an müsse die Pension erhöht werden!«

Da kam Herr Dunker mit dem Vorschlag seines Bruders hervor, fragte sie, ob sie damit einverstanden sein würde, ihren Reinhold dahin zu geben als Pflegesohn.

Da brach ein Strahl der Freude aus den Augen der Frau.

»Wie gern, o wie gern nehme ich das gütige Anerbieten an. Wenn Ihr Bruder ist wie Sie.«

»Viel besser, viel besser, Frau Kramer. Er ist ein tüchtiger Pädagoge und ein herzensguter Mann dabei.«

»Und seine Frau, meine liebe Schwägerin Emilie, gleicht ihm an Herzensgüte. Beide sind vorzügliche Erzieher. Reinhold wird in den besten Händen sein!«, fügte Frau Maria hinzu.

»Jetzt erkenne ich, daß es einen Vater im Himmel gibt, der für uns sorgt, auf die Dauer hätte ich es nicht erschwingen können, für beide Söhne Pension zu zahlen. Die Sorge für dies Quartal ist mir heute auch genommen durch Ihre gütige Gabe. O, wie danke ich Ihnen, meine Freunde, für alle Ihre Liebe und Fürsorge. Wie soll ich es je vergelten!«

»Dadurch, daß Sie uns wieder ein bißchen lieb haben«, erwiderte Frau Maria. »Dadurch, daß Sie immer mehr Vertrauen fassen zu unserem himmlischen Vater, der unser bester Freund und Helfer ist.«

»Etwas spüre ich schon davon. Ich folge Ihrem Rat und lese jeden Morgen mit Lieschen, eh' ich gehe, einen kleinen Abschnitt aus der Bibel. Ich fühle, wie es stärkt und erhebt. Doch jetzt«, sie sah nach der Uhr, »muß ich gehen. Ich habe eine halbe Stunde zu wandern bis zum Kaufhaus, es wird sehr auf präzises Erscheinen gesehen.«

Herr und Frau Dunker verabschiedeten sich und begaben sich ins Wohnzimmer zur Cousine, die unterdes den Kaffeetisch gedeckt hatte und die Gäste schon erwartete.

Die Mädchen waren in der Stadt herumspaziert und hatten Besorgungen gemacht. Mit großem Staunen hatte Lieschen von Gretchens Verlobung gehört. »O, wie beneide ich dich«, rief sie aus. »Wie gern möchte ich verheiratet sein, einen guten Mann haben, der mich verzöge, der alles täte, was ich wollte.«

»Aber Lieschen, das ist doch nicht gut«, sagte Eva. »Du hättest doch auch Pflichten gegen ihn.«

»Ich würde mir Dienstboten halten, die kochten und das Haus in Ordnung hielten. Alles selbst tun ist nicht schön. Ich war sehr unglücklich heute morgen, als ich euch abwandern sah, und ich mußte in die heiße Küche und kochen –«

»Dann bist du wohl gar nicht gern bei Tante Martha?«

»O ja, sonst wohl. Aber sie ist sehr streng, das bin ich von Haus aus nicht gewohnt.«

»Wir dürfen auch nicht jeden Morgen herumspazieren wie heute. Das ist nur eine Ausnahme. Unsere Mutter ist streng, wir müssen fleißig sein und tüchtig im Haushalt helfen, nicht wahr, Eva?«

»Das ist auch gut, mir macht das Arbeiten Freude«, erwiderte diese.

»Ihr seid einmal ganz andere Menschen«, seufzte Lieschen.

Als Herr Dunker mit den Seinigen abends auf der Rückreise war, wurde viel von Kramers gesprochen.

»Es wird den armen Leuten doppelt schwer, sich zu fügen, weil sie nicht gewohnt sind, ihren Pflichten zu leben«, sagte Frau Maria.

»Vielleicht hat aber gerade Gott das Schwere über sie kommen lassen, damit sie es lernen und schließlich ihre Befriedigung darin finden«, entgegnete Herr Dunker.

Plötzlich wendete er seine Blicke einem großen Paket zu, das Eva bei sich in der Ecke zu verbergen suchte.

»Was habt ihr denn aber da in dem riesengroßen Paket, ihr Kinder?«

Da gab es fröhliches Lachen und Verstecken. Das dürfe der Vater gar nicht sehen und merken. Daraus solle etwas ganz Wundervolles gearbeitet werden für ihn, er solle sich nur immer freuen, was eines Tages für ihn auf dem Weihnachtstisch liegen werde.


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