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2. Die Großmutter

Herr Belzer, ein tüchtiger Rechtsanwalt, hatte sein Büro im Parterre des Hauses, dessen ersten Stock das Ehepaar bewohnte. Er stand an seinem Pult, an dem er einige wichtige Sachen erledigt hatte, mit denen er einen seiner Schreiber auf die Post geschickt, da klopfte es. Auf ein »Herein« erschien Minna in der halbgeöffneten Tür und brachte die Bitte von Frau Belzer, ob der Herr Rechtsanwalt nicht schnell nach oben kommen wollte, die Frau möchte den Herrn gern sprechen.

»Was ist denn wieder los?« murmelte er etwas unwirsch, denn viel Arbeit lag vor ihm. Er folgte aber doch dem Ruf und begab sich in das Wohnzimmer seiner Frau.

»Was willst du, Lieschen? Du weißt, ich lasse mich nicht gern stören.«

Da verstummte er plötzlich und sah mit Staunen auf seine Frau, die auf dem Sofa saß, mit einem kleinen Kinde auf dem Schoß.

»Denk dir, Gustav, die Fremde ist plötzlich gestorben, der Arzt sagt, es sei ein Herzschlag gewesen, nun sitzen wir mit dem Kinde da.«

»Das hast du nun davon«, sagte er ärgerlich, »wir können es doch nicht behalten.«

»Nein, das wollen wir auch nicht. Aber die Fremde hat mich gebeten, es zu ihrer Mutter nach B. zu bringen; nun möchte ich dich fragen, wann ein Zug dorthin geht, ob ich abends wieder zurückkommen kann? Du weißt, ich bin in diesen Sachen sehr unsicher.«

»Frauchen, was hast du dir eingebrockt«, sagte er kopfschüttelnd. »Davon hast du mir ja gar nichts gesagt.«

»Ich wollte dich gestern abend beim Spaziergang nicht beunruhigen, hoffte auch, die Frau würde sich erholen und bald reisen können.«

»Heute kannst du auf keinen Fall nach B. Der Zug geht in einer Viertelstunde, und der Bahnhof ist weit. Kann denn nicht jemand anders das Kind zu seiner Großmutter bringen? Frau Rösel ist, meine ich, die geeignete Persönlichkeit dazu. Laß sie das nur bewerkstelligen, sie wird besser damit fertig als du.«

»Frau Rösel hat so viel zu tun mit der Beerdigung der Entschlafenen, sie weiß gar nicht, wo ihr der Kopf steht. Sie hat es bei der Polizei gemeldet und muß noch viele andere Gänge tun. Sie ist ganz unglücklich, daß dies über sie gekommen ist. Ihr Mitleid kommt sie teuer zu stehen. Ich habe das Kind mitgenommen, sie kann es jetzt doch nicht versorgen. Wann meinst du, daß ich fahren soll? Ist es dir recht, wenn die kleine Eva bis morgen hierbleibt?«

»Es bleibt ja nichts anderes übrig«, lächelte er.

»Wer A sagt, muß auch B sagen.«

»Sieh nur, wie das Kind mich anlächelt, o, es ist ein herziges, kleines Wesen, man muß es lieb haben.«

Er trat ein wenig näher. »Ein niedliches Kindchen! Arme Kleine!«

»Ich denke, sie wird mit Liebe von der Großmutter aufgenommen. Sie muß sich freuen über ein solches Vermächtnis.« Er zuckte die Achseln. »Das ist die große Frage. Du kennst die Welt nicht, Lieschen. Doch ich habe heute viel zu erledigen. Weiter wünschtest du nichts von mir?« Eine leise Ungeduld war nicht zu verkennen.

»Vorderhand nicht.« Sie seufzte, und der Rechtsanwalt war schon zur Tür hinaus. Sie hörte ihn mit schnellen Tritten die Treppe hinuntereilen. Während der Bürostunden liebte er durchaus nicht gestört zu werden. Aber dies war ein so besonderer Fall, da mußte sie ihn holen lassen. Also morgen sollte die Reise vor sich gehen, da wollte sie sich heute an dem Kindlein erfreuen. Welche Frau fühlte nicht mütterlich einem so kleinen hilflosen Wesen gegenüber! Minna werde sie wohl mitnehmen müssen, sie konnte nicht allein mit dem Baby auf Reisen gehen. Sie wollte mit Frau Watzky reden, die auf dem Hof eine kleine Wohnung inne hatte. Sie war Kochfrau und ging in fremde Häuser, um hier und dort auszuhelfen, sie sollte ihren Mann versorgen. Er war eigen und hatte es nicht gern, wenn es an etwas fehlte, ihm sollte nichts abgehen. Und für Minna war es ein Vergnügen. Das Landkind hatte schon gestrahlt, als sie ihr angedeutet, daß sie mit ihr und dem Kind eine kleine Reise vorhabe. So gingen die Gedanken der kleinen Frau hin und her. Frau Rösel hatte es bestimmt schwerer als sie, wenn die nur erst alles hinter sich hätte!

Jetzt klopfte es. Da kam die gute Frau und berichtete. Sie war bei verschiedenen Behörden gewesen, man hatte die Adresse der Mutter verlangt, um zu telegraphieren; am Nachmittag sollte die Verstorbene dann abgeholt und in die Halle des Friedhofes gebracht werden. Dann hatte sie nichts weiter mit der Sache zu tun.

»Meine liebe Frau Belzer, Sie können mir's glauben, ich bin gern gefällig und barmherzig, aber so etwas möchte ich nicht gleich wieder erleben. Seit gestern geht alles drunter und drüber bei mir. Ich habe zu tun, bis ich in meinem Häuschen wieder Ordnung hergestellt habe!«

»Lassen Sie es sich nicht leid sein, meine gute Frau. Gott wird es Ihnen lohnen, was Sie an der Verlassenen getan haben.«

Die Frau konnte sich nicht lange aufhalten. Auch Frau Belzer hatte mit Vorbereitungen zu tun. Sie legte das Kindlein in ihre Schlafstube auf ihr eigenes Bett und ging, zunächst ein Lager für die Kleine herzurichten. –

Nicht den folgenden Tag, auch nicht den dritten kam es zur Reise, erst den vierten, nachdem die Mutter des Kindes bestattet war, wurde früh morgens aufgebrochen, mit dem Zuge, der bereits um sieben Uhr das Städtchen verließ.

Es schien ein heißer Tag werden zu wollen. Der Himmel war wolkenlos, und die Sonne meinte es schon jetzt gut. Frau Belzer ist auf dem Weg zum Bahnhof. Minna schreitet vergnügt neben ihr, die kleine Eva sorgsam tragend. »Sehen Sie, Frau Belzer, jetzt schlägt sie die Augen auf.« »Ja, du, jetzt geht es zur Großmutter. Ei, da wirst du's aber gut haben. Da bekommst du ein eigenes Bettchen und flaumenweiche Kissen darin. Und alle Tage schöne Milch. Du wirst's aber gut haben.« So plauderte sie mit dem Kinde, während Frau Belzer gar nicht froh gestimmt war. Man hatte ihr erzählt, daß auf das Telegramm keine Antwort erfolgt sei. Nun war von der Stadt wegen an Frau Röder geschrieben worden, daß sie als Mutter der Verstorbenen die Unkosten zu tragen habe. Wie würde die Dame das alles aufgefaßt haben? Es mußte doch schwer sein für eine Mutter, so etwas zu erleben. Wie, wenn sie an ihrem Kinde, das Gott früh zu sich gerufen, Ähnliches erleben müßte? Das hätte sie nicht überstanden. Doch jetzt war keine Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen. Sie waren am Bahnhof, da galt es, Fahrkarten zu lösen und sich auf den Bahnsteig zu begeben.

Man wußte im Städtchen natürlich von der Begebenheit. Minna, die mit dem Kindlein auf ihre Herrin wartete, stand bald umringt von neugierigen Menschen, die die Kleine, die ein so trauriges Geschick hatte, sehen und bedauern wollten.

»Zu bedauern ist das Kindchen nicht. Es kommt zur Großmutter, da wird die Kleine es besser haben als bei der Mutter«, belehrte Minna die Umstehenden. Als nun die Leute forschten und mehr von der Geschichte zu hören begehrten, rief das Mädchen: »Da kommt meine Frau, jetzt muß ich fort«, und rannte eilig mit dem Kinde davon.

Die Fahrt war nicht lang, nach 1½ Stunden waren sie am Ort ihrer Bestimmung. Frau Belzer nahm eine Droschke, mit der sie durch viele Straßen, über manche Plätze fuhr, bevor sie an die von der Verstorbenen angegebene Adresse kam. Minna sah glückstrahlend aus. Als Mädchen vom Lande war ihr alles neu.

»Siehst du«, sagte sie zu der Kleinen, »nun fahren wir in einer Kutsche zur Großmama!« Dem Kinde war es gleich; es schlummerte sanft, unbekümmert um sein Erdenlos.

»Hier ist es«, sagte Frau Belzer, als sie in die Landstraße einbogen, »nun sind wir gleich da«. Das Herz schlug ihr hörbar, während Minna in ihrer Glückseligkeit über die große Stadt staunend ausrief: »O, Frau Belzer, die vielen hohen Häuser, da müssen aber viele Menschen drinnen wohnen! Ob sie sich wohl alle miteinander vertragen? Evchen, jetzt sind wir da! Ei, was wird Großmama sagen über das schöne Kind!« »Laß sie doch schlafen, Minna«, wehrte Frau Belzer, »damit sie nicht anfängt zu schreien.«

Auf das Klingeln wurde in dem zweiten Stock nicht gleich geöffnet. Man hörte wohl Schritte und drinnen das Öffnen einer Tür, aber sonst blieb alles still. Frau Belzer klingelte energisch ein zweites Mal, wieder vernahm man Schritte, aufgemacht wurde nicht. Jetzt schellte sie lange und mit Nachdruck, da endlich tat sich die Türe ein klein wenig auf, und durch die Spalte kam es leise: »Hören Sie doch auf mit dem Klingeln und gehen Sie wieder, hier ist doch niemand zu sprechen.«

»Wir bringen etwas ganz Wichtiges. Eine Dame steht draußen, die Frau Röder durchaus sprechen muß.«

Da wurde Einlaß gewährt. Ein älteres Mädchen sah erstaunt auf die Gruppe.

»Was wünschen Sie denn?« Mit einem Blick auf das Baby fuhr sie fort: »Hier wohnt nur eine alte Dame. Wir glaubten, es sei wieder ein Herr aus der Umgegend, mit dem es schon Unannehmlichkeiten genug gegeben hat.«

»Wir kommen wahrscheinlich in derselben Angelegenheit. Nehmen Sie das Mädchen hier mit dem Kinde in die Küche und melden Sie mich bei Ihrer Herrin an. Frau Rechtsanwalt Belzer aus N. wünscht Frau Röder zu sprechen in einer dringenden Angelegenheit.« Jetzt wachte das Kind auf und fing an zu nörgeln. Minna wiegte es auf den Armen hin und her und flüsterte: »Ganz still muß Kindchen sein, wir sind jetzt bei Großmama.« Frau Belzer sah Minna unzufrieden an, über des Mädchens Gesicht aber ging ein Aufleuchten des Verständnisses. Sie sagte höflich, aber freundlich: »Frau Rechtsanwalt, wenn ich Ihnen raten soll, kehren Sie sofort um. Wenn das ein Kind von der Tochter der Herrin ist, so ist nimmer Hoffnung, daß die Frau es behält.«

»Ich bitte, daß Sie mich melden.« Diese Worte wurden mit solchem Nachdruck gesprochen, daß das Mädchen keinen Widerspruch wagte und langsamen, zögernden Schrittes der Tür zuging. Frau Belzer zeigte auf ein offenstehendes kleines Zimmer und bedeutete Minna, sich dort mit dem Kinde zu setzen. Sie selbst stand im Vorsaal und harrte geduldig der Dinge, die da kommen sollten.

Aber was kam, das hatte sie nicht erwartet. Ein Toben und ein solches Wutgeschrei erfolgte, begleitet von Schimpfreden, wie Frau Belzer sie nie vernommen; es wurde ihr angst und bange. »Ich habe keine Tochter, weiß von keiner Tochter, und nun soll ich mich gar mit einem Baby befassen?« Ein höhnisches Lachen und Gespotte, Worte, die sie nicht wiederholen mochte, dazwischen leises Flüstern, dann kam das Mädchen heraus. »Sie haben es wohl gehört«, sagte sie verlegen. »Ich sagte es Ihnen gleich, Frau Rechtsanwalt, es nutzt nichts, Sie müssen wieder gehen.«

Frau Belzer schwieg. Sie war so erregt, daß alles in ihr zitterte. »Was soll denn mit dem armen Würmchen werden?« stieß sie endlich hervor.

»Wenn Sie es nicht behalten wollen, muß es in ein Waisenhaus gebracht werden. Einen anderen Rat weiß ich auch nicht«, versetzte das Mädchen mitleidig und fügte gleichsam entschuldigend hinzu: »Meine Frau hat zuviel Schmerz mit der Tochter erlebt, davon ist sie so geworden.«

»Bitte, dann übergeben Sie ihr wenigstens diesen Brief. Er ist von ihrer verstorbenen Tochter, sie hat ihn mir selbst übergeben; ich habe versprochen, ihn eigenhändig der Mutter abzuliefern.«

»Sie würde ihn sofort in Fetzen zerreißen, ich kenne sie.«

»Nun, dann muß ich ihn wieder mitnehmen«, seufzte sie. Sie winkte ihrer Minna, die in der offenen Tür atemlos gelauscht hatte und nun mit dem Kinde herzukam. »Sehen Sie doch das süße kleine Mädchen! Und das will die Großmutter nicht haben. Es wird ihr noch bitter leid werden, das sagen Sie ihr nur«, konnte Minna nicht unterlassen, dem Mädchen zu verstehen zu geben. Dann sich zum Kind wendend: »Sei du nur ganz zufrieden, nun behalten wir dich. Frau Belzer wird nun deine Mutter und Herr Belzer dein Vater. Ei, das ist einmal ein guter Vater. Weine nur nicht, Kleinchen.« »Es ist die große Frage, ob wir das Kind behalten, Minna. Gut, daß sie nicht versteht, was du sagst, schwatze ihr nicht so viel vor. Wir wollen jetzt gehen, es ist die höchste Zeit.« Ja, es war die höchste Zeit, denn die Kleine erhob plötzlich ein großes Geschrei, so daß das Mädchen die Küchentür aufmachte und Minna mit dem Kinde schnell hineinschob. »Ich will ihr etwas zu trinken geben, sie ist gewiß hungrig.«

»Danke, wir haben Milch bei uns. Lassen Sie uns ein paar Minuten hier bleiben, so können wir nicht auf die Straße.« Schnell hatte Frau Belzer die Milch ausgepackt, und kaum hatte die Kleine die Flasche im Mund, so trat Stille ein. In diesem Augenblick rief eine schrille Stimme laut und ärgerlich nach dem Mädchen, das ängstlich dem Ruf folgte. Frau Belzer verließ schleunigst diese Stätte des Unfriedens und befahl Minna, ihr nachzukommen, sobald die Kleine befriedigt sei. Gleich an der Ecke rief sie eine Droschke herbei und begab sich, als Minna mit dem Kinde erschien, an den Bahnhof zurück. In der Nähe ließ sie sich ein kleines Zimmer geben. Hier wurde ausgeruht nach den körperlichen und seelischen Aufregungen. Sie mochte, um nicht Aufsehen zu erregen, nicht mit dem Nachmittagszug zurückfahren, sondern beschloß, bis zum Abend zu bleiben. Sie schickte Minna, nachdem sie etwas genossen hatten, in die Stadt, da sie merkte, welch ein Vergnügen es dem Mädchen machte, die Läden in den Straßen anzusehen und sich über alles, was sie sah und hörte, zu verwundern, gab ihr aber die Weisung, sich Straße und Hausnummer zu merken, nicht zu lange zu bleiben und sich pünktlich wieder einzufinden. Sie selbst bedurfte der Ruhe und blieb bei dem nun wieder schlafenden Kinde.

Herr Rechtsanwalt Belzer schloß die Bücher in seinem Büro. Er hatte die Schreiber entlassen und schickte sich an, Feierabend zu machen. Nachdem er die unteren Räume geschlossen, ging er nicht wie sonst nach oben, sondern begab sich an den Bahnhof, um seine Frau, ohne die er nicht gut sein konnte, abzuholen. Nicht wenig erschrak er, als der Zug kam und sie das Kind wieder mitbrachte.

»Etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht«, sagte er nur. Weiter zunächst nichts. Er sah es seiner Frau an, daß sie gelitten hatte und erschöpft war. Minna wurde beauftragt, schnell mit dem Kinde voranzugehen; er ging mit seiner Frau langsam nach. Sie sagte nur: »Ich erzähle dir zu Hause alles, du glaubst nicht, was ich durchgemacht habe.« »Du kennst die Welt nicht, wie ich sie kenne. Es passieren unglaubliche Dinge, auch zwischen den nächsten Angehörigen.« Dann gingen sie schweigend nach Hause.

Spät am Abend saß das Ehepaar lange beieinander. Sie redeten für und wider die Sache. Die Frau bedauerte, daß sie gegen ihren Willen in die Geschichte hineingezogen war.

»Aber ich konnte ja nicht anders handeln, ich konnte mein Herz nicht gegen eine Kranke und Sterbende verschließen, es wäre gegen Gottes Gebot gewesen. In das Waisenhaus mag ich das Kind nicht geben.«

»Es wird uns nichts anderes übrig bleiben. Wir haben keine Verpflichtungen gegen die Kleine. Du bist nur gebeten, das Kind an die Großmutter abzuliefern. Wenn sie verweigert, es anzunehmen, hast du nichts weiter damit zu tun.«

Sie sah ihn traurig an. »Heute, hast du daran gedacht, ist der Sterbetag unseres Töchterchens. Sollte Gott uns an dem Tage, da er uns das Kind genommen, einen Ersatz geben wollen? Ich habe das kleine süße Herz schon lieb gewonnen; meine mütterlichen Gefühle sind stark erwacht. Gustav, laß uns das Kind behalten, wir können uns einen Gotteslohn daran verdienen.«

»Minna hat mich ja schon der Kleinen als ›Papa‹ vorgestellt«, sagte er lächelnd, fast schon überwunden. »Warum hatte denn das Mädchen so verweinte Augen?« »Sie hat im Zug bitterlich geweint über die böse Großmutter, die das Kind nicht behalten wollte. Sie hat ein gutes Herz und ist sehr kinderlieb. Man würde ihr die Kleine ruhig anvertrauen können. Laß sie uns behalten, Gustav«, bat die Frau noch einmal.

»In Gottes Namen denn, mein Lieschen.«

»Ich danke dir, Gustav; ich habe es lange gewünscht, ich hatte nur Sorge, daß es dich stören würde. Unser eigenes Kind ist seit mehreren Jahren tot, du bist die Unruhe nicht mehr gewöhnt.«

»Der Mensch muß sich an alles gewöhnen«, sagte er ergeben. »Nur nachts darfst du sie nicht schreien lassen, meine Ruhe muß ich haben nach anstrengender Tagesarbeit.« So wurde der Entschluß gefaßt. Er versprach, alles Geschäftliche zu besorgen, es war ihm ein Leichtes bei seinem juristischen Beruf. Die Frau nahm mit Liebe den schweren Teil auf sich.

Herr Belzer meinte, die Großmutter würde doch im Laufe der Zeit wiederkommen und das Kind begehren, ahnte aber nicht, daß die Frau weder nach Namen noch Ort gefragt hatte.

Sie wollten es behalten, großziehen und pflegen, als ob es ihr eigenes sei.

Die Pflegeeltern hatten Freude und Segen davon. Die kleine Eva wuchs heran, wurde nicht nur ein hübsches, sondern auch ein gehorsames Kind, mit guten Fähigkeiten zum Lernen. Herr und Frau Belzer sorgten später für guten Unterricht; sie waren wohlhabend, aber nicht reich. Große Schätze konnten sie dem Kinde einst nicht hinterlassen, deshalb dachten sie daran, es für das Leben so auszustatten, daß es einst imstande sein möge, auf eigenen Füßen zu stehen.


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