Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

24. Frau Minna Berg

Die Zeit war dahingeflogen, und mancherlei hatte sich ereignet. Christian war noch einmal kurz gekommen und hatte Abschied genommen. Nach einigen Wochen hatte er seine glückliche Ankunft auf den westindischen Inseln gemeldet und die Fahrt über den atlantischen Ozean interessant beschrieben, Georg hatte sein Abiturium mit Auszeichnung bestanden und war zur Universität gegangen, um Theologie zu studieren. Heinz war nach Prima versetzt und Gertrud in die erste Mädchenklasse. Eva und Gretchen arbeiteten mit der Mutter um die Wette an der Aussteuer. Eva war nicht, wie früher beabsichtigt gewesen, aufs Seminar gegangen, Frau Maria wünschte sie einstweilen als Haustochter zu behalten, da Gretchen sich verheiratete.

Da Hemsing sehr nach einer Hausfrau verlangte, so wurde die Hochzeit auf die Pfingstferien angesetzt, denn man rechnete vor allen Dingen darauf, daß Onkel Ernst mit Familie dem Feste anwohnen sollte. Großartige Aufführungen wurden von der Jugend geplant; es gab viel Hin- und Herschreiben zwischen den Beteiligten, und als die jungen Leute zu Pfingsten zusammenkamen, gab es Proben über Proben, und alles verlief glänzend am Polterabend. Natürlich wurde der Beinbruch des Bräutigams als Ursprung der Bekanntschaft verherrlicht. Es gab manchen Spaß und viel Vergnügen.

Onkel Ernst und Tante Emilie ließen sich die Schicksale des Nachbarhauses erzählen, und lauschten mit Teilnahme. Sie lobten Reinhold, der die Ferien bei der Mutter verleben durfte, sehr. Sein Betragen war musterhaft, sein Fleiß vorzüglich, Onkel Ernst hoffte einen tüchtigen Mann aus ihm zu erziehen.

Der Hochzeitstag war ein sehr schöner, wie man ihn sich im Wonnemonat Mai vorstellen konnte. Gretchen war eine liebliche Braut, und die Brautjungfern, Eva, Erna, des Doktor Ernst Tochter, Gertrud und Etty waren prächtig anzusehen in ihrem hochzeitlichen Schmuck und den Blumenkränzen im Haar. Fröhliches Leben waltete in Garten und Haus, bis gegen Abend das junge Paar abreiste, begleitet von den Segenswünschen der Eltern.

Nun hatte die junge Frau schon zweimal geschrieben; ihr höchster Wunsch war, die Eltern einmal als Gäste bei sich zu sehen, doch daran war vorderhand nicht zu denken, es sollte sich noch verschiedenes vorher abwickeln.

Frau Maria, die ihren Plan still, aber entschlossen verfolgte, hatte Eva veranlaßt, Frau Minna Berg auf etwa acht Tage einzuladen; wenn sie zustimmend antwortete, sollte ihr das Reisegeld geschickt werden. Die Liebe der Frau zu dem jungen Mädchen überwand alle Schwierigkeiten. Sie schrieb, die Schwester ihres Mannes wolle denselben die Zeit über versorgen, und da Kinder nicht vorhanden waren, machte sich die Sache eher.

Heute nun, es war Anfang Juni, sollte Frau Minna eintreffen. Eva wollte an die Bahn gehen und sie abholen. Sie stand in ihrem Stübchen und sah sinnend zum Fenster hinaus.

Wie wunderbar hatte sich doch alles in ihrem Leben einander gefügt. Erst war sie von den guten Belzers angenommen, da ihre Mutter, wie Mutter Belzer ihr erzählt hatte, jung gestorben war. Auch daß der Vater sie verlassen, hatte sie kurz angedeutet, und als sie gefragt, ob derselbe denn nicht eines Tages wiederkommen würde, hatte Frau Belzer geantwortet: »Nein, mein gutes Kind, der ist längst mit einer anderen verheiratet.«

Die Antwort verletzte sie nicht, was lag ihr daran, ob ein Vater, den sie nie gekannt, sich um sie kümmerte oder nicht; sie hatte so gute Eltern, wie sie nur wünschen konnte. Sie hatten für ihr leibliches und geistiges Wohl aufopfernd gesorgt, und als Gott der Herr ihr nacheinander beide genommen hatte, erst die Mutter, dann den Vater, da hatte er schon wieder für Ersatz gesorgt in einer Weise, wie sie sich nie hätte träumen lassen. Er hatte ihr nicht nur treue Eltern wieder beschert, auch liebe Geschwister. Dafür war sie besonders dankbar, sie, die nie den Verkehr mit Geschwistern kennengelernt hatte. Was war ihr Gretchen gewesen in dem Jahr; mit welcher Liebe und Innigkeit hatte sich die jüngere Gertrud an sie angeschlossen, wie freundlich und gefällig, wie bieder und herzlich waren die beiden Jungen, Georg und Heinz, ihr entgegengekommen, wie hatten sie sich stets als Brüder erwiesen. Und doch – trotz alledem wollte sie mitunter ein Gefühl der Heimatlosigkeit überkommen. »Ich wollte, ich hätte einen richtigen Verwandten, jemanden, dem ich wirklich angehörte.« Doch diese Stimmung war vorübergehend. Sie tauchte etwa auf, wenn Frau Maria von Fremden gefragt wurde, wie viel Kinder sie habe, und sie schnell, ohne sich zu bedenken, antwortete: »Fünf.« Dies hatte Eva zufällig gehört und gedacht: »Ja, ich gehöre eigentlich nicht dazu.« Sie hatte eben ein leicht empfindliches Gemüt.

So empfand sie es, wie wir wissen, daß Christian sich von Anfang an nicht als Bruder zu ihr gestellt, wiewohl sie ihn sehr schätzte und zu ihm aufsah. Sie hatte längst erkannt, daß sein etwas herber, verschlossener Charakter daran schuld war, daß er es keineswegs böse meinte; jetzt glaubte sie sich selbst etwas Schuld beimessen zu müssen. Wie kam es denn, daß er mit Etty gleich auf so freundschaftlichem Fuß stand? Sie, Eva, hatte ihm gegenüber gewiß auch etwas Zurückhaltendes, darum kam es bei ihnen so schwer zu einem geschwisterlichen Verhältnis. Daß er es gut mit ihr meinte, wußte sie jetzt. Wie hatte er ihr herzlich und fest die Hand gedrückt beim Abschied, und mit welch treuem Blick hatte er sie angesehen, als er sagte: »Gott behüte Sie, liebe Eva, so Gott will, sehen wir uns in zwei Jahren wieder, dann seufzen Sie nicht mehr über mich, sondern freuen sich ein bißchen?«

Sie wollte Gretchen zürnen, daß sie ihm dies wieder gesagt, aber diese verteidigte sich und sagte, sie habe es nur gut gemeint, man müsse Christian mitunter ein bißchen aufrütteln.

Doch, sie sah nach der Uhr, es war höchste Zeit an den Bahnhof zu gehen. Schnell setzte sie ihr Strohhütchen auf, zog die Handschuhe über und machte sich eiligen Schrittes auf den Weg.

Der Zug lief gerade in die Halle ein, als sie ankam. Sie achtete auf alle Aussteigenden und hatte bald die Rechte gefunden. Frau Minna war noch eine stattliche Frau in den vierziger Jahren. Mit einer großen Reisetasche versehen, kam sie auf Eva zu, die ihr die Tasche abnehmen wollte.

»Wie werd' ich Fräulein die Tasche tragen lassen! Nein, Fräulein Eva, so was gibt's nicht. O, daß ich Sie einmal wiedersehe, ich hab' mich zu sehr gefreut, als die Einladung kam.«

»Aber, Minna, du sollst mich nicht ›Sie‹ nennen, sondern wie früher ›Du‹ sagen, es ist sonst gar nicht, als ob du meine Minna wärst.«

»Wenn Fräulein erlauben. Es ist mir selbst, als ginge es besser mit ›Du‹. Aber du bist so groß und schlank geworden, ein richtiges, feines Fräulein, ich hab's immer gesagt.« Minna erzählte nun allerlei aus dem Städtchen, und so kamen sie bald im Dunkerschen Hause an.

Frau Maria hieß die Frau freundlich willkommen und lud sie ein, sich zu setzen und eine Erquickung anzunehmen.

»Zuerst will ich nur meine Tasche auspacken. Ich habe der Frau Dunker, die mich so freundlich eingeladen hat, etwas von meiner Schlachterei mitgebracht.« Sie holte ein paar derbe Mettwürste heraus und ein großes Stück Schinken.

Frau Maria meinte, das hätte sie nicht tun sollen, aber die dankbare Gesinnung der Frau rührte sie, so nahm sie das Mitgebrachte mit Dank an. Sie bat Eva, die Sachen in die Vorratskammer zu tragen. Als diese damit hinausgegangen war, sagte sie: »Das ist nun unser liebes Kind, Frau Berg.«

»Wie dank ich dem lieben Gott täglich, daß das Kind in Ihr Haus gekommen ist, Frau Dunker«, rief die Frau, und da ihr das Herz auf der Zunge lag, fügte sie hinzu: »Ich hab' die Eva zu lieb, liebe Frau, habe sie ja von klein an aufgezogen. O, wenn Sie wüßten, wie wir zu dem Kind gekommen sind, das ist eine ganz traurige Geschichte, ich werd' es Ihnen einmal ausführlich erzählen, wenn wir beide allein sind.«

Sie ahnte nicht, wie froh Frau Maria diese Äußerung machte. Von dieser Frau würde sie gewiß wertvolle Einzelheiten erfahren, die imstande waren, in dieser dunklen Sache Aufschluß zu geben.

Da Eva wieder erschien, wurde natürlich nicht weiter davon gesprochen. Das junge Mädchen versorgte nun ihre liebe Minna mit Speise und Trank, und diese streichelte ein über das andere Mal Wangen und Stirn des geliebten Kindes. »Meine Eva, meine gute Eva, wie bin ich froh, daß ich dich einmal wieder hab.«

»Eva, du mußt dann Frau Berg den Garten und das Haus zeigen, auch ihr Stübchen, wo sie schlafen soll.«

Eva ging gern mit der Hüterin ihrer Jugend, sie zeigte ihr alles, was sie interessieren konnte und führte sie endlich in ein niedliches, kleines Zimmer, das Frau Maria für sie bestimmt hatte. Minna schlug immer vor Verwunderung die Hände zusammen und rief: »Das ist ja alles viel zu schön für mich. Das bin ich ja nicht gewohnt, es ist ja wie für Besuch.«

»Du bist auch unser Besuch, Minna. Nun sollst du unsere Rieke kennenlernen, die ist ebenso treu und gut wie du.«

Sie führte sie nach unten, wo Rieke noch mit Putzen und Scheuern zu tun hatte, denn morgen war Sonntag, da mußte alles blitzen und blank sein.

Rieke wischte sich die nassen Hände an der Schürze und reichte der Frau die Rechte. »Das ist also die Minna, von der Fräulein Eva mir so viel erzählt hat. Schauen Sie mich heute nur nicht an, wenn ich im Scheueranzug bin, morgen erscheine ich in sonntäglicher Kleidung, da können wir Bekanntschaft miteinander machen.«

»Denken Sie, ich wisse nichts vom Scheuern? Hab' ich nicht bei Frau Rechtsanwalt Belzer so viele Jahre gedient und sollte nicht wissen, was Scheuern heißt. Ei, meine Frau hatte es gar gern, wenn sie sonnabends durchs Haus ging, wenn da alle Türschlösser funkelten und die Fußböden sauber gewaschen waren. Dann pflegte sie zu sagen: Ordnung und Sauberkeit ist doch etwas Schönes, Minna, du hast alles gut gemacht. Das war mir der schönste Lohn für meine Arbeit.«

»Morgen soll Betty auch kommen, Rieke«, sagte Eva, »dann sollt ihr drei unten im Garten Kaffee trinken, den Kuchen habe ich schon beim Bäcker bestellt.«

Im Weitergehen fragte Minna: »Wer ist denn Betty? Ich mache am liebsten keine neuen Bekanntschaften, ich will ja nur dich, du liebes Evchen, besuchen.«

»Aber du hast Mutter gebeten, daß du unten bei Rieke essen dürftest und Kaffee mit ihr trinken, weil es dich geniert, mit der Herrschaft zu speisen, darum hat Mutter das so angeordnet.«

So geschah es. In der hübschen großen Laube, unten im Garten, wo man den Blick auf den Fluß und die angrenzenden Wiesen hatte, war ein hübscher Tisch gedeckt. Betty hatte sich zur bestimmten Stunde eingefunden, die drei Mädchen waren bald bekannt miteinander und plauderten von diesem und jenem. »Heute bediene ich«, hatte Eva gesagt, war mit der großen Kanne erschienen und hatte eingeschenkt.

»Es ist verkehrte Wirtschaft«, hatte Rieke gesagt. »Wir sollten Fräulein Eva bedienen und sie nicht uns.«

»Heute ist's nun so«, hatte Eva freundlich geantwortet. »Nun will ich gehen und die Eltern versorgen, du, Rieke, siehst, daß deine Gäste tüchtig essen. Der Teller muß leer sein, wenn ich wiederkomme.«

Sie hatten gelacht, und Eva war vergnügt davongegangen.

»Was ist doch das Fräulein für ein reizendes Wesen! Meine alte Dame ist ganz verliebt in sie, wenn sie kommt, lebt meine Herrin ordentlich auf.«

»Sind Sie hier in Stellung?« fragte Minna.

»Ja, ich bin seit vielen Jahren bei derselben Dame. Wir wohnten früher in Berlin, aber meine Frau hat noch in ihren alten Tagen von einem Vetter, der unverheiratet war, ein schönes Landhaus geerbt.«

»In Berlin haben Sie früher gewohnt? Dort war ich auch schon einmal. Das war aber eine Reise, da werd' ich zeitlebens dran gedenken.«

»Mit wem waren Sie denn dort?« fragte Betty, die die Frau schon immer aufmerksam angesehen hatte, als ob sie ihr bekannt sein müsse.

»Mit dem jungen Fräulein, das uns den Kaffee einschenkte. Die hab' ich als ganz kleines Kind nach Berlin gebracht zu ihrer Großmutter, einer alten, garstigen Frau, die das Kind ihrer verstorbenen Tochter verleugnete und es nicht annehmen wollte. Wenn meine Herrin, Frau Rechtsanwalt Belzer, sich der Kleinen nicht erbarmt hätte, was wäre wohl aus ihr geworden. Gewiß nicht das, was sie heute ist.«

Im Eifer des Gesprächs hatte Frau Minna nicht bemerkt, was Rieke wahrgenommen, nämlich daß Betty todesbleich geworden. Das Strickzeug war ihren Händen entfallen, sie saß da und sah starren Auges auf die Sprecherin, die etwas erzählte, was sie miterlebt hatte. »Um alles in der Welt, was reden Sie da, gute Frau. Wir – kennen – uns ja!« rief sie in Absätzen, denn das Reden fiel ihr schwer. »Wir haben uns doch schon einmal gesehen. Sind Sie die Minna, die mit dem kleinen Kind auf dem Arm, begleitet von einer feinen Dame, bei uns erschien, und ich mußte sie wieder gehen lassen, weil ich Frau –«

Nun war das Erschrecken an Frau Minna.

»Sie waren das Mädchen, das uns damals empfing und gleich nichts Gutes weissagte? Jetzt erkenne ich Sie auch wieder. O, mein Gott, wie wunderbar! Und Sie haben ausgehalten bei dieser bösen Frau, die ein so liebes, unschuldiges Kind von sich weisen konnte!«

»Frau Röder ist ganz umgewandelt. Die Frau hat den Schritt tief bereut und gäbe etwas darum, das ungeschehen zu machen, was damals geschehen ist.«

Sie hörten Schritte kommen, plötzlich stand Eva vor ihnen.

»Sie haben ja gar nichts gegessen!« Verwundert sah sie auf die verstörten Gesichter. »Die Kaffeekanne ist auch noch so schwer. Es schmeckt wohl gar nicht. Ich muß wirklich die Mutter rufen, die versteht das Nötigen besser als ich.« Eilig entschwand sie wieder.

»Mutter«, rief sie, »ich weiß nicht, was die drei da unter in der Laube haben. Sie essen nicht, sie trinken nicht, sehen alle ganz verstört aus, ja die Betty ist blaß und ganz zittrig. Die ist gewiß krank geworden. Willst du nicht einmal hinuntergehen und sehen, was das zu bedeuten hat?«

»Das will ich, mein liebes Kind. Und dich möchte ich bitten, geh' ein Weilchen zu unserer Nachbarin hinüber. Sie ist ganz allein, frage, ob du ihr mit etwas dienen kannst, weil ihre Betty nicht da ist.«

»Das will ich gern, liebe Mutter, aber ich glaube, der Betty fehlt etwas.«

»Ich werde nach ihr sehen, und wenn es der Fall ist, schicke ich Sie nach Hause. Dann bist du gerade nötig bei der alten Dame.«

Eva machte sich bereit zum Gehen, und Frau Maria eilte klopfenden Herzens nach der Laube; sie ahnte, daß es dort vielleicht schon zu Aufklärungen über Eva gekommen sein müsse.

Sie blieb hinter der Laube ein Weilchen stehen, ohne daß die Mädchen sie bemerkten, und hörte Bettys Stimme, die eben sagte:

»Sie können es mir gewiß glauben, Frau Röder ist ganz anders geworden. Sie wird Gott auf den Knieen danken, wenn sie hört, daß Fräulein Eva, die sie jetzt schon innig liebt, ihr angehört, daß sie ihre Enkelin ist!«

Bei diesen Worten betrat Frau Dunker die Laube. Die drei erhoben sich sofort von der Bank und Rieke rief: »Frau Dunker! Wenn Sie wüßten, was hier eben herausgekommen ist.« Und sie überstürzten sich im Erzählen der uns schon bekannten Tatsachen.

»Wir beide kamen uns schon bekannt vor, als wir uns zuerst sahen, und als die Rede auf Fräulein Eva kam, da ist alles an den Tag gekommen«, sagte Frau Minna erregt. »Aber nicht wahr, Frau Dunker, zu der Frau lassen wir sie nimmermehr. Sie glauben nicht, wie böse die ist.«

»Wir wollen die Sache ruhig überlegen, Frau Berg«, sagte jetzt Frau Dunker, indem sie sich zu den Mädchen setzte. »Ich habe seit längerer Zeit geahnt, daß Frau Röder die Großmutter unserer Eva ist. Darum, liebe Frau Berg, habe ich Sie herkommen lassen, weil ich die einzige Möglichkeit einer Aufklärung durch Sie hoffte.«

Und nun suchte sie Frau Berg, die schon wieder auffahren wollte, zu beruhigen, sagte ihr wie Gott der Herr das Herz der armen Frau völlig umgeändert habe, wie sie selbst Zeugin gewesen von der tiefen Reue, die Frau Röder ergriffen habe, und wie es ihr, der Frau Dunker, nun die größte Freude machen würde, der armen vergrämten Frau die längst ersehnte Enkelin zuzuführen.

Bettys Gesicht verklärte sich bei den Worten der Frau Dunker. »Wie dankbar bin ich Ihnen, daß Sie mir beistehen, liebe Frau Dunker, daß Sie zugunsten meiner Frau reden. O, was für ein froher Tag wird das werden, wenn Frau Röder alles erfahren wird!«

»Wir müssen vorsichtig sein, Betty, Ihre Herrin ist alt und schwächlich und könnte durch eine zu schnelle Entdeckung Schaden nehmen. Sagen Sie vorderhand nichts, erst nach und nach muß ihr die Wahrheit beigebracht werden.«

»Nehmen Sie es nur in die Hand, liebe Frau Dunker, Sie verstehen es am besten, ich werde mich ganz Ihren Anordnungen fügen. Aber nicht wahr? Sie reden bald mit meiner alten guten Dame, ich gönne es ihr, daß sie, die so viel gelitten hat, endlich von dem Druck befreit wird, der jahrelang auf ihrer Seele gelegen hat.«

Frau Minna schlug ein über das andere Mal die Hände zusammen und rief: »O, daß ich dies noch erleben muß! Was wird mein Mann sagen, wenn ich ihm alles erzähle. Ich habe so oft mit ihm von der bösen Großmutter gesprochen.«

»Die nun die beste von der Welt sein wird, das glauben Sie mir, Frau Minna. Ich werde Ihnen später alles erzählen, was meine Frau mit der Tochter erlebt hat, dann werden Sie begreifen, woher damals ihr Zorn kam.«

»Warum hat sie nur damals nicht einmal fragen lassen, woher wir kämen, wie der Name der Dame gewesen, die sich des Kindleins erbarmt und die Reise nach Berlin mit dem Würmchen machte. Nein, ungehört mußten wir umkehren, den Brief, den die Tochter geschrieben, mußten wir ungelesen zurücknehmen.«

»Den Brief«, fuhr Betty auf, »haben Sie den Brief noch?«

»Ja, den hab' ich aufbewahrt. Erst hat ihn Frau Belzer behalten. Als sie aber schwer krank wurde und ihr Ende herannahen fühlte, ließ sie mich kommen und sagte: ›Treue Minna, nimm den Brief an dich, es könnte sein, er würde eines Tages noch begehrt.‹ Da hab' ich ihn in einem besonderen Kästchen in meiner Kommode aufbewahrt.«

»Das ist mir sehr wertvoll«, rief Frau Dunker, »den Brief, liebste Frau Berg, müssen Sie uns schicken, sobald Sie nach Hause kommen. Aber nun ist bei der wichtigen Sache, die wir verhandelt haben, der Kaffee kalt geworden. Was wird unsere Eva sagen, wenn sie sieht, daß die Mutter nichts ausgerichtet hat? Sie rief mich doch, daß ich Sie zum Trinken ermuntern sollte.«

»Wir holen es nach, Frau Dunker«, sagte Rieke. »Es soll uns noch einmal so gut schmecken, da wir miteinander so etwas Schönes erlebt haben. Betty, trinken Sie, Sie sehen immer noch ganz blaß aus.«

»Mir ist der Schreck in alle Glieder gefahren, ich glaube nicht, daß ich etwas genießen kann.«

Aber auf Riekes dringliches Zureden versuchte sie es, und es ging. Schließlich wurden die drei ganz vergnügt und guter Dinge.

Was aber der Hauptinhalt ihres Gesprächs war, kann sich der Leser denken.


 << zurück weiter >>