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20. Verlobungsfeier in Langendorf

Ja, was sagten sie? Georg und Heinz blieben ganz verdutzt stehen, als sie nach der Schule heimkamen, und sperrten Mund und Augen auf, als sie Hemsing und Gretchen in vertraulicher Stellung am Fenster des Eßzimmers stehen sahen. Sie fragten Eva, die gerade mit Tellern hereinkam, um den Tisch zu decken: »Du, Eva, was soll das?«

»Geht nur hin und gratuliert, da steht ein Brautpaar.«

»Kommt doch her, ihr Jungen, ihr tut ja heute so fremd«, rief Hemsing, der sich schon über das Gebahren der beiden belustigt hatte. »Nun seid ihr nicht mehr meine Besten, jetzt ist Gretchen meine Allerbeste.«

»Aber Sie gehen doch noch mit uns aufs Eis?«

»Gerade recht. Aber Gretchen geht immer mit. Wenn sie keine Lust hat, bleibe ich bei ihr.«

»Schade«, sagten die Jungen, damit war die Sache abgetan.

Anders Trude. Sie ging gleich auf das Brautpaar zu, machte einen tiefen Knicks und sagte: »Ich gratuliere schön.« Sie hatte schon von der Mutter draußen das Ereignis vernommen und schien sehr glücklich zu sein, nun auch einen Schwager zu besitzen. Ihre Schulfreundin, Anna Ruß, hatte ihr erzählt, daß ihre Schwester sich verlobt habe und daß der Schwager ihr, der Anna, immer schöne Schokolade mitbrächte. Einen solchen Schwager hoffte sie nun auch gewonnen zu haben, dann konnte sie, ebenso wie Anna, mit ihm prahlen.

Nun aber kam der Vater. Als er Hemsing erblickte, rief er: »Guter Hemsing, sind Sie immer noch hier?«

Da kam Gretchen, die einen Augenblick hinausgegangen war, stellte sich neben Hemsing, ergriff seine Hand und sagte: »Lieber Vater, gib uns deinen Segen, wir sind ein Brautpaar.«

»Das ist ja gefährlich schnell gegangen, Kinder! Habt ihr es euch auch richtig überlegt?«

»Schon lange, lieber Vater, so darf ich doch jetzt sagen. Schon seit ich mit einem gebrochenen Fuß dalag. Da hat sich die Liebe zum Gretchen, die mich so treu versorgte, ins Herz geschlichen.«

»Da ist also aus dem Unglück ein Glück geworden. Nun Kinder, meinen Segen habt ihr!« Man sah es dem Vater an, er war glücklich über die Vereinigung.

Als bei Tisch die Gläser fröhlich klangen, klopfte es. Eine junge Dame erschien auf der Schwelle, rosig angehaucht vom schnellen Gehen.

»Hier bist du noch, Gerhard«, rief sie. »Wir dachten, dir wäre wieder ein Unglück passiert.«

»Diesmal nicht, aber ein großes Glück. Man stößt eben auf ein glückliches Brautpaar an!«

Eva war längst aufgesprungen und hatte Etty an den Tisch gezogen. Nun wurde dieser die Lage klar. »Gerhard, du hast dich verlobt und läßt uns in der Angst sitzen! Er sollte uns nämlich«, wandte sie sich an die Tischgenossen, »Leine ziehen, der Knecht war nicht da, und wir wollten Wäsche aufhängen. Aber Gerhard meinte, es sei durchaus nötig, erst das vermißte Portemonnaie zu Dunkers zu tragen, in einem Stündchen wäre er wieder da.«

»Es tut mir leid, schrecklich leid. Aber ich habe rein alles vergessen, was außer Gretchens Bereich liegt. Es war zu schön hier, es ging alles so herrlich glatt vonstatten, ich wünschte es jedem Freier, es ginge ihm wie mir. Etty, sage es nur den Eltern.«

»Jetzt muß ich mich ein Weilchen ausruhen, nun geh' ich nicht gleich nach Hause. Ich muß mir doch das Brautpaar ansehen.«

»Und vor allen Dingen mit anstoßen«, rief Eva, die schon längst ein Glas geholt und eingeschenkt hatte. Nun wurde noch einmal ein Hoch ausgebracht, dann umarmte und küßte Etty die beiden und wünschte ihnen Gottes Segen. »O, was werden die Eltern sagen, sie ahnen ja nicht im entferntesten.«

»Die Eltern wissen alles, sie wissen längst, wen ich auserkoren zu meiner künftigen Hausfrau. Sie wußten nur nicht, ebensowenig wie ich, daß die Bombe heute platzen würde.«

Nachdem die Tafel aufgehoben war, sagte Hemsing plötzlich unruhig werdend: »Etty, ich glaube, ich muß nun doch gehen, sonst denken die Eltern wirklich, es sei etwas passiert, und Mutter kommt wieder mit der Pfarrkutsche, wie damals, als ich den Fuß gebrochen hatte. Wenn du noch bleiben willst?«

»Dann geh' ich natürlich mit«, rief diese. Gretchen und Eva gaben ihnen ein Stück das Geleite, man kann sich denken, wie glücklich die vier miteinander abwanderten. Froh bewegt sahen die Eltern ihnen nach. Sie dankten Gott für die Freude, die er ihrem Kinde und ihnen beschert. Dann ging jeder an sein Tagewerk, während die Brüder und Gertrud zur Schule wanderten, wo letztere ihren Freundinnen erzählte, daß sie nun auch einen Schwager habe.

Am folgenden Tage brachte Hemsing von den Eltern eine Einladung für die Familie Dunker zum nächsten Sonntag. Da wollte er seine Braut den Eltern zuführen. Diese wünschten, die Verlobung in ihrem Hause zu feiern.

Schon früh am Morgen hielt die Pfarrkutsche vor der Tür. Jung und Alt stieg ein, und die Pferde trabten fröhlich und rasch dahin. Es war Frost eingetreten, man hoffte auf einen klaren, schönen Wintertag.

Es läßt sich denken, wie freudig die Familie begrüßt wurde. Hemsing stand an der offenen Haustür mit Blumen und empfing seine Braut mit offenen Armen. Die Begrüßung mit den Eltern war eine froh bewegte. Sie nahmen das ihnen schon bekannte und liebe Mädchen gern in ihren Familienkreis auf. Sich heute als Hauptperson gefeiert zu sehen, war dem bescheidenen Gretchen fast zu viel, doch mußte sie sich alles wohl oder übel gefallen lassen.

Der erste Besuch des Brautpaares galt Tante Alice. Obwohl es noch früh am Morgen war, stand sie schon in ihrem vornehmen Kleide von schwarzer Seide und begrüßte die beiden mit inniger Freude. Am Sonntag war sie schon immer früh im Kirchenanzug, den Gottesdienst versäumte sie nie. Während sie mit dem jungen Paar sprach, kam der Lieblingshund Flock herbei und legte sein Pfötchen vertrauensvoll auf Gretchens Schoß.

»Siehst du, Margarete, er will dir gratulieren. Die Tiere haben auch Gefühl, oft mehr als die Menschen. Und hier habe ich heute ein krankes Entlein.« Das Entlein hob sein Köpfchen aus dem Krankenkorb und ein leises »Park, park, park« ertönte.

»Was hat's denn?« fragte Gretchen teilnehmend.

»Es frißt nicht, ich weiß nicht, was mit ihm ist. Dazu haben die anderen Enten es gebissen und nach ihm geschnappt, da hab ich's in meine Schürze getan und mit nach oben genommen. Hier hat es Frieden, nicht wahr, mein Entlein?«

Es wackelte mit dem Kopf, als verstände es seine Herrin. Sie beugte sich in ihrem Seidenkleid zu dem kleinen Pflegling, deckte es warm zu und liebkoste es.

Da begannen die Glocken zu läuten. Das Brautpaar erhob sich, und Tante Alice machte sich zum Gottesdienst bereit.

Alle standen fertig gerüstet zum Kirchgang. Der würdige Pfarrer war schon beim ersten Anschlagen der Glocken gegangen. Es war ein feierlicher, schöner Adventsgottesdienst. Nach der Kirche machte das Brautpaar einen Spaziergang. Eva half Etty allerlei in der Küche, Tante Alice ging, von Gertrud begleitet, zur Fütterung ihrer Schar und gewann die Kleine lieb, weil sie großes Interesse zeigte an jedem einzelnen von Tante Alices Lieblingen. Georg und Heinz murrten ein wenig, daß Hemsing das Interesse für sie verloren zu haben schien, und gingen an den Fluß hinunter, zu sehen, ob das Eis schon hielte. Die Eltern saßen im wohldurchwärmten Wohnzimmer und freuten sich des Glückes ihrer Kinder. Die Pfarrersleute hofften, daß sich bald ein Heim für Gerhard auftun würde, es waren mehrere Pfarrstellen frei, eine Berufung stand in nächster Zeit in Aussicht.

Beim Mittagsmahl ging es vergnügt zu. Etty, die mit dem Mädchen allein gekocht, hatte sich mit Ruhm bedeckt und erntete viel Lob. Die Gläser klangen fröhlich zu Ehren des Brautpaares, auch Tante Alice, als Urheberin des Glückes, mußte es sich gefallen lassen, daß man ein Hoch auf sie ausbrachte.

»Nun soll ich an allem schuld sein und habe nichts dabei getan, habe nicht einmal geahnt, daß Gerhard Liebesgedanken hegte.«

»Du hast aber das Portemonnaie gefunden, um welches am Abend vorher viele Tränen geweint wurden. Wäre es verloren, so säßen wir heute nicht alle vergnügt beisammen, wer weiß, wann ich dann gewagt hätte, um diese liebe Hand zu bitten. Nun gab mir Margaretlein die Hand freiwillig, und ich hielt sie fest fürs Leben.«

»Ich gab sie dir nur, um für das Portemonnaie zu danken.«

»Das war ja eben mein Glück«, scherzte er, und der Pfarrer fügte hinzu:

»Das Portemonnaie muß füglich in großen Ehren gehalten werden. Es muß sich von Geschlecht zu Geschlecht weiter vererben, und die Geschichte von der alten Jule, die es beschnuppert hat, und von Tante Alice, die es ihm sanft entwunden, muß dabei erzählt werden.«

»Gretlein«, rief Hemsing, »dann müssen wir ein Glaskästchen anfertigen lassen und es darin aufbewahren.«

Tante Alice machte plötzlich ein betrübtes Gesicht, das blieb niemandem verborgen, alle wußten sofort, sie dachte an den Tod des alten Pferdes. Als nun aber Ettys Meisterwerk erschien, eine selbstgebackene Torte, da wurde auch die Tante abgelenkt von der traurigen Begebenheit, sie mußte einstimmen in das allgemeine Lob.

So verging die Verlobungsfeier in eitel Lust und Freude. Die Heimfahrt im hellen Mondschein war ein würdiger Beschluß des Tages. –

Am folgenden Nachmittag führte Frau Maria ihren längst beabsichtigten Besuch bei der alten Nachbarin aus. Die Töchter hatten anderweitige Abhaltungen, so ging sie allein. Sie fand Frau Röder in trüber Stimmung.

»Ich glaubte, ich sei ganz vergessen von den jungen Damen, die sich meiner im Sommer so freundlich annahmen. Es ist ja auch kein Vergnügen für die Jugend, eine alte Dame zu besuchen.«

Frau Maria entschuldigte die Mädchen, erzählte von allem, was sie mit den Nachbarn erlebt hatten und wie nun in der letzten Woche die Verlobung einer der Töchter dazu gekommen sei. »Von mir«, fuhr sie fort, »ist es unrecht, daß ich Ihrer, verehrte Frau, so wenig gedacht habe. Die Töchter aber sollen von nun an öfter zu Ihnen kommen und Ihnen vorlesen, dafür will ich sorgen.«

»Ich würde außerordentlich dankbar sein, wenn sie das wollten, gnädige Frau. Ich habe mich zu früh von allem zurückgezogen, lebe seit Jahren, wiewohl früher in einer Großstadt, in tiefster Einsamkeit. Meine Betty, mein treues Mädchen, versorgt mich leiblich wohl, sie sorgt in jeder Beziehung gut für mich, aber geistige Anregung gibt es nicht.«

Frau Röder schien im Laufe der Unterhaltung zu Frau Dunker Vertrauen zu fassen. Sie erzählte ihr, daß sie früh Witwe geworden sei und nur eine Tochter besessen habe, die ihr ein und alles gewesen. Sie müsse aber in der Erziehung viel versehen haben, denn die Tochter hätte einen leichten Sinn bekommen und habe ihr Kummer gemacht. Das Schwerste sei gewesen, daß sie sich hinter ihrem Rücken mit einem jungen Ausländer verlobt habe, dem sie, die Mutter, nicht viel Gutes zugetraut hätte. Sie habe durchaus nicht in die Heirat mit diesem leichtsinnigen Menschen willigen wollen, es habe viel Kämpfe und Szenen gegeben und das Ende sei gewesen, daß die Tochter eines Tages auf und davongegangen sei und sie mit ihrem Kummer allein gelassen habe.

»Sie arme Dame, da haben Sie Schweres erlebt. Kummer an den Kindern halte ich für eins der schwersten Kreuze, die Eltern auferlegt werden können.«

»Es ist noch lange nicht das Schwerste, verehrte Frau. Es hat sich dann noch etwas ereignet, was jetzt beständig an meinem Herzen nagt. Vielleicht kann ich Ihnen später mitteilen, was mich beständig drückt und quält. Heute erlassen Sie es mir, es hat mich schon genugsam angegriffen, was ich Ihnen von meinem Kinde erzählt habe.«

»Sie dürfen nicht mehr davon sprechen, ich sehe es Ihnen an, wie die Sache Sie erregt hat.«

»Es kommt noch etwas dazu, was ich damals in der Verblendung und im Zorn nicht als Unrecht ansah. Aber in späteren Jahren sind mir die Augen geöffnet für meine Sünde. Ich habe auf den Knieen gelegen und Gott um Vergebung gebeten, aber das Unrecht, was ich begangen habe, ist nie, nie gut zu machen. Was würde ich darum gegeben haben, wenn Gott es mir gewährt hätte, aber die Jahre sind dahingegangen, ich alte Frau werde einsam und verlassen bleiben, während sonst –«

Sie legte die Hände vors Gesicht, nein, sie wollte, sie konnte nichts mehr sagen, es war ihr zu schwer.

Frau Dunker suchte absichtlich andere Gesprächsgegenstände auf, weil sie merkte, wie es die alte Dame erregte, wenn sie auf ihren Kummer zu sprechen kam. Sie saßen in einem schön eingerichteten Zimmer. Im Kamin brannte ein helles Feuer, die ganze Umgebung war so geschmackvoll und behaglich, daß man sich wohl darin fühlte. Was Frau Maria wohltuend empfand und ihr den Eindruck gab, daß sie es mit einer Christin zu tun habe, war, daß über dem Sofa ein schönes Bild hing: »Der sinkende Petrus«, darunter die Worte: »Herr, hilf mir« und unter dem Bild ein schön gemalter Spruch: »Gott legt eine Last auf, aber er hilft sie auch tragen.«

Als Frau Maria ihre Augen auf den Spruch richtete und Bild und Spruch sinnend betrachtete, äußerte Frau Röder:

»In früheren Jahren hätten Sie derartiges vergeblich bei mir gesucht. Gott der Herr hat mich in eine ernste Schule genommen, bis ich zu seinen Füßen lag und ausrufen konnte: ›Mein Herr und mein Gott!‹ Jetzt lerne ich daran, ihm stille zu halten und das zu tragen, was er mir auferlegt hat, was ich verdient habe um meiner Sünde willen.«

Es hatte etwas Ergreifendes, wie demütig die Frau geworden war in Gottes Schule.

Über dem Schreibtisch der alten Dame hing ein Bild, das Frau Maria zu fesseln schien. Sie sah immer wieder hin und fragte endlich, ob sie das Bild näher ansehen dürfe. Frau Röder nickte zustimmend.

Es stellte ein junges Mädchen dar in weißem Kleide mit einem Rosenkranz im Haar. Frau Maria stand lange davor, sie wagte nicht zu fragen, ob es die Tochter sei. Da Frau Röder auch nichts sagte, so blieb es unentschieden.

Frau Dunker kam von diesem nachbarlichen Besuch sehr befriedigt nach Hause. »Wir hätten uns ja längst mehr um diese alte, prächtige Dame kümmern müssen«, rief sie, »sie ist es wert, daß man sich ihrer annimmt. Wir müssen versuchen, sie ihrer Einsamkeit zu entreißen, damit sie nicht mehr so viel ihren Gedanken nachhängt. Ihr Mädchen müßt ihr abwechselnd vorlesen oder ihr anderweitig die Zeit vertreiben helfen.«

»Zu Weihnachten müßten wir ihr ein Christbäumchen anzünden«, rief Gretchen.

»Und etwas dazu singen«, bat Eva.

»Oder am liebsten sie am Heiligen Abend zu uns herüberholen, damit sie mit uns feiert, das dächte ich mir am schönsten«, schlug die Mutter vor.

»Ja, das müssen wir«, frohlockte Eva und schlug vor Freude in die Hände.

Von da an ging Frau Maria öfters zu der alten Dame, so daß sich allmählich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen beiden entspann.

Eines Tages war sie mehrere Stunden in der Villa gewesen, sie hatte Frau Röder für einige arme Familien zu interessieren gewußt, so daß sie jetzt eifrig strickte an Strümpfen, Röckchen u. dergl., auch spendete sie Geld, wo es not tat. Heute nun war es Frau Maria gelungen, sie nach dem anziehenden Bild zu fragen, und sie hatte erfahren, daß es der alten Dame Tochter sei, die sie gleich nach ihrer Konfirmation hatte malen lassen.

»Damals«, seufzte sie, »war sie noch unberührt von den Versuchungen der Welt, später war der unschuldige, reine Ausdruck, der das Bild so anziehend macht, nicht mehr vorhanden.«

Da wagte Frau Maria die Frage: »Lebt Ihre Frau Tochter noch?«

»Sie ist gestorben.« Die Worte wurden so hart herausgestoßen, daß sie nicht wagte, weiter zu fragen. Sie merkte der alten Dame an, daß der Zeitpunkt noch nicht gekommen sei, wo sie darüber zu sprechen imstande sei.

Am Abend äußerte Frau Dunker zu ihrem Mann, daß sie seit einiger Zeit ein Gedanke verfolge, den sie nicht wieder los würde.

»Dann vertraue ihn mir an, Mutter. Was hast du denn wieder auf deinem sorgenvollen Herzen?«

»Du wirst mich gewiß auslachen.«

»Keineswegs, wenn es etwas Vernünftiges ist.«

»Ich erzählte dir kürzlich, daß ich bei Frau Röder ein hübsches Bild von der Tochter gesehen habe, verschwieg dir aber, daß mich das Bild unwillkürlich an unsere Eva erinnerte. Es geht von dem Bild derselbe Liebreiz aus, der Eva für alle so anziehend macht. Überhaupt erinnert mich der Ausdruck der Augen, das feine Kolorit, die Nase und der Mund, alles an unser Pflegetöchterchen. Da ist der Gedanke in mir aufgetaucht, ob vielleicht zwischen der alten Dame und unserer Eva irgendein Zusammenhang besteht, ob es vielleicht das Kind der verstorbenen Tochter wäre –«

Nun lachte er doch herzlich. »Nein, gute Frau, deine Einbildungskraft ist groß. Diesen Gedanken gib auf. Es gibt so viel wirkliche Sorgen, die uns einnehmen, daß wir keine Zeit haben, uns unnötige zu machen. Und damit du diese Hirngespinnste fahren läßt, wollen wir übermorgen mit den beiden Mädchen nach L. fahren und Weihnachtseinkäufe machen. Außerdem wollen wir bei der Cousine vorsprechen und uns nach Frau Kramer umsehen. Für diese habe ich eine sehr erfreuliche Überraschung, die du später erfahren sollst. Heute ist es höchste Zeit, uns zur Ruhe zu verfügen.«

Frau Maria tat es fast leid, diese Äußerung zu ihrem Mann getan zu haben. Aber fahren ließ sie den einmal gefaßten Gedanken nicht. Sie nahm sich vor, auf alles genau zu achten, was die alte Dame von ihrer Tochter erzählen würde. Sie wollte es nicht hervorrufen, sondern geduldig abwarten, bis Frau Röder völliges Vertrauen gefaßt haben würde und aus eigenem Antrieb ihr Herz ihr erschließen möchte.


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