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5. Allerlei Veränderungen

Es blieb nicht aus, daß die Kinder trotz allem Verbot zusammentrafen. Aber nach der zuletzt beschriebenen Szene war es doch, als ob die täglichen Neckereien ein Ende hätten. Man ging gleichgültig aneinander vorüber, jeder hatte seine Freunde, die ihm zusagten. Die Tür zwischen den Gärten wurde wirklich mit einem mächtigen Brett vernagelt, was in Frau Marias Herzen ein wehmütiges Gefühl erweckte.

»Laß gut sein, Mutter«, tröstete Dunker seine Frau, »du hast viele Freunde in der Stadt, wenn die Nachbarn nicht Freundschaft halten wollen, zwingen können wir sie nicht.«

Frau Maria merkte bald, daß die Erziehung im Nachbarhause an vielem Schuld war. Die Eltern kümmerten sich zu wenig um die Kinder. Sie konnten tun und lassen, so daß Georg und Heinz oft mit stillem Neid bemerkten, daß die Knaben alles hatten, wonach ihr Sinn längst gestanden, was sie sich aber hatten versagen müssen, weil die Eltern nicht in der Lage waren, ihnen jeden Wunsch zu gewähren, es auch nicht richtig fanden. Hatten die Kramer'schen Jungen ihre Spielsachen zerbrochen, so wurden sie einfach weggeworfen und durch neue ersetzt, waren die Anzüge beschmutzt oder zerrissen, so wurden sie verschenkt und neue Kostüme angeschafft. Es war kein sparsamer Haushalt. Frau Kramer hielt sehr auf elegante Toilette, sie fand bald Familien, die ihr zusagten, sie ging oft aus und fing an, Gesellschaften zu geben. Es herrschte viel Luxus in der Stadt, einer wollte es dem anderen zuvor tun, einer vor dem anderen glänzen und reich scheinen. So verbreiteten auch Kramers bald den Schein großen Reichtums um sich, die Familien, mit denen sie in Verkehr getreten waren, ließen es sich wohl bei ihnen sein. Herr Kramer, der Tag für Tag seine bestimmten Bankstunden hatte, bei Quartalwechsel mehr als gewöhnlich, war abends in der Regel in einem ihm zusagenden Restaurant; hatten sie Gesellschaft, so war er ein liebenswürdiger Wirt und guter Unterhalter. Die Leute sagten bald, er müsse wohl von den Eltern große Reichtümer geerbt haben; denn ein Bankbeamter, wenn er nicht Direktor sei, könne so etwas von seinem Gehalt nicht bestreiten. So hieß es bald: »Die reichen Kramers«, und dies Prädikat schien ihnen, wenn sie es hörten, zu gefallen.

Nicht so Dunkers. Die Überschüsse, die er aus seiner kleinen Fabrik zog, waren nicht so reich, daß sie große Sprünge machen konnten, dabei die Arbeitslöhne so hoch, daß ihm der Kopf schwirrte, wenn es wöchentlich ans Auszahlen ging. Er hatte schon oft erwogen, ob es nicht besser sei, das ganze Anwesen zu verkaufen und selbst eine andere Tätigkeit zu suchen, das Geld aber zur Erziehung der Kinder, zum Studium der Söhne anzulegen. Aber es war ihm schmerzlich, das Erbe der Väter zu veräußern. Frau und Kinder wollten nichts davon wissen, besonders widerstanden sie, als er einst in einer trüben Stunde äußerte, er möchte am liebsten Haus und Garten auch dran geben und in eine andere Stadt ziehen, um von der unliebsamen Nachbarschaft befreit zu werden.

Es mußte ihm doch schwer sein, diesen Mann in seiner Nähe zu haben, wiewohl er fast gar nicht mit ihm in Berührung kam. Besonders im Winter, als das Leben im Garten aufhörte, sah und hörte man nicht viel voneinander, zudem verkehrten Dunkers in anderen Kreisen als die Nachbarn. Sie hatten wohl auch im Winter ihre kleinen geselligen Vereinigungen, aber meistens waren sie abends zu Hause und lebten mit ihren Kindern. Es wurde vorgelesen, musiziert oder der Vater sprach mit den Söhnen über das, was in der Schule im Geschichts- oder Religionsunterricht behandelt wurde und förderte sie so durch anregende Gespräche. Das Leben in den beiden Nachbarhäusern war ein ganz verschiedenes, während es sich früher so harmonisch gestaltet hatte. Da hatten die Kinder oft hübsche Aufführungen vorgenommen oder aus den Klassikern gelesen, wobei der Herr Oberlehrer Anweisungen gab. Wie anregend und vergnüglich war das! Die Kramer'schen Kinder saßen viel allein, zankten und prügelten sich und trieben allerlei Dummheiten, wenn die Eltern nicht daheim waren.

Man gewöhnte sich schließlich daran, daß beide Häuser keine Zusammengehörigkeiten hatten, ja, daß nicht einmal freundliche Beziehungen zwischen beiden Familien bestehen konnten. Und doch blieb es nicht aus, daß ein oder das andere der Kinder sich zu einem der Nachbarskinder hingezogen fühlte. Es war eine 13jährige Tochter bei Kramers, die mit Gretchen dieselbe höhere Töchterschule besuchte, ja mit ihr in einer Klasse war. Da kam es vor, daß sie oft nicht mit den Arbeiten zurecht kam und sich dann einmal auf dem Schulweg an Gretchen anschloß, sie nach diesem und jenem fragte. Als sie erst merkte, daß diese immer freundlich und gefällig Auskunft gab, wandte sie sich öfter an sie, fing an, sie freundlich zu grüßen und sich mit ihr zu unterhalten. Reinhold neckte Gertrud nicht mehr, es war sogar vorgekommen, daß er ihr hier und da kleine Aufmerksamkeiten erwies, aber ganz unauffällig. Es war ein großer Hund in der Nähe, vor dem die Kleine Furcht hatte. Wenn er in Sicht kam und Trudchen anfing zu laufen, merkte sie, daß er ihn fortjagte. Dadurch entstand ein dankbares Gefühl gegen ihn in ihrem Herzen, ja es geschah ab und an, daß sie ihm freundlich zunickte. Die anderen Jungen, vier oder fünf an der Zahl, blieben wie sie waren, Georg und Heinz hatten nichts mit ihnen gemein. –

So verging ein Jahr nach dem anderen in gleicher Weise, und wenn wir sechs Jahre nach dem eben Erzählten wieder bei Herrn und Frau Dunker einkehren, wie sie an einem Sonnabend zusammen unter der großen Linde sitzen, so merken wir, daß sie beide älter geworden sind. Herr Dunker hat einen grauen Kopf bekommen, etwas früh für seine Jahre, aber Sorgen mögen ihn gedrückt haben und ihn vor der Zeit ergrauen lassen. Frau Maria hat noch immer ihre schönen goldblonden Haare, obwohl sie behauptet, auch schon Silberfäden gefunden zu haben.

»Mutter, du siehst noch so jung aus, als wärest du unsere Schwester«, hatte Christian auf diese Behauptung hin geäußert. »Dein Aussehen ist jung, dein Gang elastisch, und wenn man denkt, was du noch leistest« –

»Nun, übertreibe nur nicht«, hatte sie dem jungen, lang aufgeschossenen Studenten geantwortet. »Es geht alles nicht mehr wie sonst.«

Heute waren die Eltern allein. Die Kinder machten einen gemeinsamen Ausflug in die Umgegend und waren noch nicht zurück. »Otto«, sagte Frau Dunker und streckte ihm die Hand hin, »du müßtest etwas für deine Gesundheit tun. Der Arzt will, du sollst einige Wochen an die See gehen, das würde wesentlich zu deiner Erholung beitragen.«

»Es wird nicht gehen, Maria.«

»Warum sollte es nicht gehen? Die Fabrik ist günstig verkauft, alle darauf liegenden Schulden gedeckt, es bleibt so viel, daß wir anständig davon leben können.«

»Aber ich muß an das Studium meiner Söhne denken, an das Freiwilligenjahr von Christian und muß irgendeine Tätigkeit suchen, die mir Einnahme und Befriedigung bringt. Ich habe schon mit Herrn Kommerzienrat Grote gesprochen, er will mir gern eine Vertrauensstelle in seinem Kontor einräumen. Ohne Arbeit kann ich noch nicht sein, das würde mich krank machen.«

»Das weiß ich, Herzensmann, und eine Tätigkeit gönne ich dir von Herzen, aber erst mußt du eine Erholungszeit haben, du bist im höchsten Grade abgespannt und angegriffen.«

»Dann müßt ihr alle mitkommen. Ohne dich und die Kinder gehe ich nicht.«

»Dann hätte es in den Ferien sein müssen, während der Schulzeit geht es nicht. Nein, Otto, wir bleiben hübsch daheim und du hast mehr Ruhe, wenn du einige Wochen allein nur deiner Gesundheit lebst. Doch jetzt kommen die Kinder, wir wollen hören, was die meinen!«

Es wurde Leben im Hause. Man suchte die Eltern, wußte sie aber bald zu finden an dem gewöhnlichen Sammelplatz der Familie. Da kam das schlanke achtzehnjährige Gretchen, zwar blond wie die Mutter, sonst mehr dem Vater ähnlich. Sie war nicht hübsch, ein breites Gesicht mit einem Stumpfnäschen, aber treuherzige blaue Vergißmeinnichtaugen mit einem gutherzigen Ausdruck. Sie trug einen großen Feldblumenstrauß und legte ihn vor die Mutter hin. Christian hatte seltene Steine gefunden, die er dem Vater zur Prüfung vorlegte. Georg und Heinz, jetzt höhere Gymnasiasten, hatten allerlei seltene Farnkräuter und Pflanzen, die sie pressen wollten. Die zwölfjährige Gertrud hatte nichts; sie meinte, sie hätte die Feldblumen für die Mutter pflücken helfen. »Ja, einige wohl«, lachte Gretchen. »Sie ist aber mit Reinhold auf den Hügeln herumgeklettert und hat Brombeeren gegessen.«

»Ist denn Reinhold mitgewesen?«

»Ja, denkt nur, er und Lieschen fragten, ob wir sie mitnehmen wollten. Sie müssen im Garten gewesen sein, als wir davon sprachen und kamen hinter uns her, als wir schon aus der Stadt waren.«

»Kinder, seht euch vor«, warnte der Vater. »Ihr wißt, die Eltern wünschen keinen Umgang.«

»Diese beiden sind die nettesten. Sie tun sich immer wieder zu uns, wir können sie doch nicht fortweisen«, meinte Georg.

»Ich bin sogar schon im Nachbarhause bei Lieschen gewesen«, triumphierte Gretchen.

»Aber Gretchen, du weißt, daß wir es nicht wünschen, daß ihr drüben Besuche macht. Das Ende wird sein, daß man euch herauswirft«, tadelte der Vater.

»Lieschen sagte: Komm doch, die Eltern sind nicht zu Hause.«

»Darin liegt schon das Unrecht, daß ihr es heimlich tut. Ich habe nichts dagegen, wenn Lieschen dich hier besucht«, sagte die Mutter, »aber gehe du nicht zu ihr.«

»Wenn ihr es nicht wollt« –

»Reinhold und ich sprechen oft zusammen, obgleich wir Feinde sind«, ließ sich Trudchen vernehmen.

Alle lachten. »Das nennt man gerade keine Feindschaft mehr«, äußerte Christian. »Meine Hiebe von damals haben doch Wunder getan.« Er ahnte nicht, daß Trudchen einst Worte gesprochen, die vielleicht dies Wunder bewirkt hatten.

»Etwas anderes, Kinder! Was sagt ihr, wenn wir unseren lieben Vater einige Wochen an die See schicken?«

»Ja, der Vater muß an die See!« »Der Vater muß eine Erholung haben.« »Vater sieht elend aus, er muß eine Erholung haben.« »Er muß einmal Ferien machen.« So schwirrte es durcheinander.

»Kinder, das Reisen kostet Geld«, rief der Vater. »Für uns hast du immer Geld, für dich willst du nie etwas tun, Vater«, rief Gretchen, und Christian fügte hinzu: »Vater, das teure Buch, um das ich dich kürzlich bat, brauchst du mir nicht mehr zu kaufen, ich kann es von einem Freund entleihen.«

»Und Heinz und ich«, versetzte Georg, »haben keine neuen Anzüge nötig, wie Mutter meinte. Unsere Sonntagsjacken sind noch ganz gut.«

»Ich will auch kein neues Kleid haben, wenn Vater an die See geht!« rief Gertrud. Sie wollte nicht nachstehen, wenn die anderen Geschwister es dem Vater erleichtern wollten.

»Also meine Kinder gönnen mir den Ausflug. Nun, Mutter, dann müssen wir wohl zur Reise rüsten.«

»Vater, du darfst nun sagen, in welches Bad du möchtest, dann lassen wir Prospekte kommen.«

»Mutter und Kinder befehlen, und der Vater muß gehorchen«, schmunzelte Herr Dunker.


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