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25. Großmutter und Enkelin

»Frau Röder wollte mich heute gar nicht fortlassen, Mütterchen. Sie war so lieb und gut und sagte beim Abschied, am liebsten behielte sie mich ganz bei sich.«

»Sagte sie das?« fragte Frau Dunker, die eben ihrem Mann, der im Wohnzimmer die Zeitung las, berichtet hatte, was sie dort unten in der Laube erlebt, wobei sie sich an seinem Erstaunen weidete.

»Ihr Frauen«, hatte er gesagt und ein halb ungläubisches Gesicht gemacht, »dem, was ihr euch ausdenkt, sinnt ihr nach, das verfolgt ihr mit einer Konsequenz, es ist großartig.«

»Du siehst, lieber Otto«, hatte sie triumphierend gerufen, »daß ich damals recht hatte. Was meinst du nun, sagen wir Eva gleich etwas davon, oder weihen wir sie erst ein, wenn die Großmutter alles weiß?«

»Da es nun so weit ist, nur gleich zur Sache, wenn sie kommt! Wozu noch lange zögern. Tränen wird die Enthüllung sowieso kosten. Die Kinder sind nach Langendorf gegangen, quirlen also nicht dazwischen, dann nur los.«

Als Eva zurückkam, erhob er sich mit seiner Pfeife und ging in sein Zimmer. Es war ihm lieber, wenn seine Maria die Rührszene allein unternahm. Er war nicht für dergleichen.

Frau Maria zog Eva zu sich aufs Sofa. Sie begann damit, daß sie die drei Mädchen da unten in höchster Aufregung getroffen habe, und fuhr dann fort, ihr den ganzen Sachverhalt so schonend wie möglich anzubringen. Die Hauptsache wußte sie ja schon, daß die Großmutter einst nichts von der Enkelin hatte wissen wollen. Nun konnte Frau Maria ihr aber sagen, daß Frau Röder schon seit einigen Jahren diese Tat bereut habe und unendlich beglückt sein würde, in ihr die verlorene Enkelin, die sie schon für tot oder verkommen gehalten, wiederzufinden.

Eva war tief erschüttert durch das, was sie jetzt vernahm, und machte ihren Gefühlen durch einen Tränenstrom Luft, während Frau Maria ihr liebevoll die Wangen streichelte und ihr freundliche Worte zuflüsterte.

»Sieh, durch diese beiden braven Mädchen, die beide ihrer Herrschaft treu geblieben sind, ist alles an den Tag gekommen. Sie haben einander wiedererkannt, denn Minna hat dich damals als kleines Kindchen zur Großmutter gebracht, und als man sie abgewiesen –«

»Hat die gute Mutter Belzer mich behalten, und beide haben mich als ihr eigenes Kind gepflegt und aufgezogen. Nie kann ich es ihnen danken, was sie an mir getan. Und auch euch, die ihr euch meiner nach dem Tod des geliebten Pflegevaters angenommen, wie soll ich euch meine Dankbarkeit beweisen!« Hier umschlang sie die geliebte Pflegemutter und bedeckte sie mit Küssen.

Gerade jetzt steckte Herr Dunker den Kopf zur Tür herein. »Ist alles fertig?« fragte er.

Da mußte Eva unter Tränen lächeln. Sie kannte den Vater, er liebte solche Szenen nicht und entzog sich denselben gern. Eva umschlang den geliebten Vater ebenfalls.

»Nur nicht weinen, mein liebes Kind«, sagte er, als er sah, daß sie schon wieder das Taschentüchlein zur Hand nahm. »Ich weiß alles. Die Mutter hat wieder einmal etwas Wunderbares zuwegegebracht. Du bleibst aber unser gutes Kind und wir deine Eltern, das will ich mir ausgebeten haben.«

»Gewiß, lieber Vater, immer und immer, aber es ist doch schön, daß ich jetzt auch ein Großmütterchen habe, und zwar eins, das ich schon liebe und das mich auch ein bißchen gern hat.«

Frau Maria nahm jetzt Eva unter den Arm mit den Worten: »So, nun sei vergnügt; wir gehen jetzt in die Laube zu unseren Gästen und sehen, was sie unterdes gemacht haben.«

Als sie in den Garten kamen, war die Laube leer, die drei waren wahrscheinlich, wie sie schon vorher geplant hatten, in die Stadt gegangen, um Frau Minna alle Sehenswürdigkeiten zu zeigen.

Es war den beiden ganz lieb, noch ein wenig allein zu sein. Frau Maria ging mit ihrem Töchterchen, das, wie sich denken läßt, innerlich sehr bewegt war, auf und ab im Garten und tröstete sie, als sie traurig sagte:

»Es ist mir so schwer zu denken, daß meine wirklichen Eltern – sie zögerte, als ob sie den Satz nicht gern vollenden mochte, und doch war es ihr ein Bedürfnis, sich gegen ihre Pflegemutter offen auszusprechen, – daß meine Eltern beide nicht recht gehandelt haben.«

»Deine Mutter hat schwer darunter gebüßt, daß sie ihrer Mutter ungehorsam war. Es freut mich, daß ein Brief von ihr an die Mutter noch vorhanden ist, ich bin überzeugt, daß sie darin ihre Schuld bekennt und die Mutter um Verzeihung bittet; das wird Frau Röder versöhnen. Vom Vater wissen wir nichts. Vielleicht, wenn er noch lebt, kommt er auch zur Erkenntnis. Wir wollen Gott darum bitten. Die Hauptsache für dich ist jetzt, deine Großmutter mit Liebe zu umgeben und sie die letzten Jahre ihres Lebens zu erheitern und zu erfreuen. Nun sorge nicht um das, was vergangen ist, sondern freue dich der Gegenwart.«

Welches junge Gemüt ließe sich das nicht gern sagen, sich der Gegenwart freuen. Im Grunde klopfte ja auch ihr Herz in banger und froher Erwartung, was der folgende Tag bringen würde.

Sieh, da kamen Betty und Minna, Arm in Arm, eifrig plaudernd, den Gartenweg entlang. »Nun, wo bleibt die dritte?« fragte Frau Dunker.

»Rieke hatte große Eile, in die Küche zu kommen, und ich«, sagte Betty, »muß auch eilen, Frau Röder wird lange nach mir aussehen. Das war ein schöner, schöner Nachmittag. Wir zwei«, hier drückte sie der Minna energisch die Hand, »sind heute sehr gute Freundinnen geworden. Das können Sie sich wohl denken, Frau Dunker.« Dann drückte sie Eva die Hand und rief: »O, Fräulein Eva, wer hätte das geahnt. Was wird, o, was wird nur meine Herrin sagen, wenn sie in Ihnen ihre so vielbeweinte Enkelin findet.«

»Verraten Sie nur heute abend nichts, Betty. Morgen komme ich, da wird alles allmählich an den Tag kommen.«

»Verraten werde ich nichts, aber vergnügt will ich sein, so vergnügt, wie Frau Röder mich noch nie gesehen hat. Nun muß ich aber gehen. Sie, liebe Minna, müssen mich begleiten, damit Sie sehen, wo meine Herrin wohnt.«

»Da muß ich schon mitgehen, Frau Dunker. Sie können sich denken, wie mich das interessiert.«

Kaum konnte Eva den folgenden Nachmittag erwarten. Es war ausgemacht, daß Minna die Frau Dunker und Eva begleiten und sich bei Betty aufhalten sollte, bis man nach ihr rief. Eva aber sollte sich im Garten zu tun machen, bis auch sie gerufen wurde.

Frau Röder empfing Frau Maria im Gartensaal. Sie freute sich, wie gewöhnlich, sehr über den Besuch, sah aber heute recht trübselig aus.

»So traurig, Frau Röder? Und das im schönen Monat Juni, wo die Sonne so herrlich scheint, die Vögelein singen, die Rosen blühen.«

»Es ist immer der Monat, der mich am traurigsten stimmt. Ich weiß gar nicht, was meine Betty heute hat. Sie singt und schmettert ein Lied nach dem anderen, das bin ich gar nicht an ihr gewohnt.«

»Vielleicht werden Sie heute auch noch froh, liebe Frau Röder. Ich begreife nicht, warum Sie sich gerade den Juni ausersehen haben, um besonders traurig zu sein.«

»Weil ich im Juni etwas getan habe, was mich seit Jahren bedrückt. Ich habe mir selbst den Kummer zugezogen, den ich nie wieder los werde.«

»Wer weiß«, sagte Frau Maria zuversichtlich. »Wenn Sie sich doch entschließen könnten, liebe Frau Röder«, hier ergriff sie ihre Hand und sah ihr treuherzig und voll Liebe in die Augen, »wenn Sie sich doch entschließen könnten, sich einmal das Herz frei zu sprechen, Ihren Kummer andern mitzuteilen, es würde sich leichter tragen.«

Sie sah traurig vor sich nieder und schwieg. Nach einer Weile blickte sie auf und sagte: »Es ist schwer und demütigend, sein Unrecht zu bekennen, aber zu Ihnen habe ich unbegrenztes Vertrauen, liebe Frau Dunker, ich werde Ihnen alles sagen. Und wenn Sie schlecht von mir denken und sich von mir wenden, so habe ich's verdient und muß die Einsamkeit als Strafe für meine Vergehen weiter tragen.«

Sie begann mit der Erzählung ihrer traurigen Schicksale, sagte, daß sie durch das, was ihre Tochter ihr angetan, so verbittert und böse geworden sei, daß sie, ohne zu wissen, was sie tat, das kleine Kind, das die Tochter ihr zuschickte, einfach von der Tür gewiesen habe. Was sie damit für ein großes Unrecht begangen, sei ihr erst nach Jahren zum Bewußtsein gekommen. Welche Freude und Wonne hätte sie an einem so kleinen Wesen, daß ihr ganz zu eigen gehörte, haben können. Nun sei es vielleicht verkommen oder tot oder in Not, das quäle und drücke sie besonders.

»Vielleicht haben es gute Menschen angenommen und es zu einem tüchtigen Menschenkind erzogen.«

»Sollte es möglich sein, daß die Dame, die es damals gebracht hat, es behalten hätte? Aber ich weiß ja keinen Namen, weiß weder, aus welchem Ort es kam, noch wie die Dame heißt, die es brachte. Nein, liebe Frau, es ist unmöglich, dem noch jetzt nachzuforschen.«

»Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Denken Sie nur, unsere Eva, die wir zu eigen angenommen haben, hatte auch nur Pflegeeltern, ihre eigene Mutter hat sie nie gekannt.«

»Wie sind denn die Pflegeeltern zu dem Kind gekommen?«

»Genau weiß ich es auch nicht. Der Pflegevater, den mein Mann in einem Badeort kennenlernte, erzählte uns, das Kind habe eine Großmutter gehabt, die seine Annahme verweigert habe, da haben sie, die keine Kinder hatten, die Kleine behalten und erzogen.«

»Und wo – wo war das?« fragte Frau Röder, die erregt zugehört hatte und nun Frau Marias Hände ergriff und sie gespannt ansah.

»Es ist in der Nähe von Berlin gewesen, in einem kleinen Städtchen, wo auch die Mutter begraben liegt.«

»Wissen Sie – wissen Sie zufällig den Namen der Mutter?«

Frau Maria, die sich auf alles vorbereitet hatte, sagte ruhig: »Die Mutter hieß: ›Frau Dellmann.‹« Da sprang die alte Dame in großer Erregung auf und rief: »Dellmann sagen Sie? Dellmann? Wissen Sie, was Sie, damit aussprechen? Irren Sie nicht? Täuschen Sie sich nicht? Meine liebste, meine beste Frau Dunker, dann wäre ja, o mein Gott, ich kann es nicht fassen, dann wäre ja unsere liebe, kleine Eva meine Enkelin!«

»Ja, liebe Großmutter, das bin ich«, rief plötzlich Eva, die gerade an der offenen Tür des Gartensaales vorübergegangen war und von Frau Maria herbeigewinkt wurde.

Eva umschlang die alte Dame und rief: »Nicht wahr? Jetzt weisest du mich nicht wieder zurück, jetzt nimmst du mich an. Ich will dich auch immer recht liebhaben, mein gutes Großmütterchen.«

»Das wolltest du wirklich, nachdem die alte Großmutter dich von sich gestoßen, dich verleugnet hat?«

»Daran denkt Eva nicht«, nahm Frau Maria das Wort. »Sie will nur die Großmutter, die sie als Frau Röder schon liebgehabt, mit Liebe umgeben und für sie sorgen.«

»Ich kann es noch nicht fassen. Es ist so schnell über mich gekommen.« Sie war wieder ins Sofa zurückgesunken und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. »Es muß doch ein Irrtum sein, es ist mir wie ein Traum. Können Sie es mir beweisen, liebe Frau Dunker, daß ich nicht träume, daß kein Mißverständnis obwaltet?«

»Ich kann es seit gestern. Das Mädchen, das Ihnen damals die Kleine zubrachte mit Frau Rechtsanwalt Belzer, ist augenblicklich unter Ihrem Dach. Sie und Betty haben einander wiedererkannt und zur weiteren Aufklärung ist ein Brief vorhanden, den die treue Minna aufbewahrt hat. Er ist von der sterbenden Tochter geschrieben und wird Sie mehr als alles andere überzeugen, daß alles kein Irrtum, sondern Wahrheit ist. Wenn Sie wollen, kann das Mädchen kommen und Ihnen bestätigen, was wir sagen.«

»O, wie wunderbar, wie – mir schwindelt, heute nicht mehr, morgen – will ich – das Mädchen sehen.«

Als sie diese Worte gesprochen hatte, war es aus mit ihren Kräften, sie schloß die Augen, fiel zurück und verlor das Bewußtsein.

»O, nun stirbt die gute Großmutter«, rief Eva weinend.

»Still, mein Kind, es ist eine Ohnmacht, Großmutter wird sich wieder erholen.« Sie nahm eine Flasche Kölnisches Wasser, die sie auf einem Nebentisch entdeckte, rieb ihr Stirn und Schläfen damit, und nicht lange währte es, so schlug sie die Augen wieder auf. Ihre Hand fuhr tastend herum, als suche sie etwas. Eva kniete vor ihr und legte ihre Hand in die der Großmutter.

Frau Maria war leise hinausgegangen. »Sie weiß alles, aber Sie, liebe Frau Berg, dürfen heute noch nicht zu ihr, es ist zu viel für die alte Dame. Wir gehen jetzt nach Hause, und Betty, die am besten mit Frau Röder Bescheid weiß, bringt sie zu Bett, Ruhe ist jetzt die Hauptbedingung.«

Frau Dunker hatte recht, eine große Schwäche hatte Frau Röder befallen, so daß sie sich willenlos von ihrer Betty ins Schlafzimmer führen ließ, während Frau Maria mit Eva und Minna ihrem Hause zueilte. Evas Frage, ob sie lieber hier bleiben solle, verneinte die Mutter. »Heute noch nicht, mein liebes Kind. Dein Anblick würde so vieles Vergangene aufrühren, die Großmutter muß erst völlige Ruhe haben, um diese große Aufregung zu überwinden, aber später müssen wir wohl, so schwer es uns wird, in die Trennung willigen. Es ist ein Recht, das der alten Dame zukommt, dich ganz für sich zu beanspruchen. Und ich denke, wir gönnen ihr diese Freude nach allem Schweren, was sie erlebt hat.«

Am Abend saß Eva noch lange an ihrem Schreibtisch. Sie führte regelmäßig Korrespondenz mit Gretchen; was sie heute zu berichten hatte, füllte mehrere Bögen.

Am anderen Morgen, man saß noch beim Kaffee, erschien Betty mit der Botschaft, Frau Berg möchte zu ihrer Herrin kommen, sie habe sich wieder erholt und möchte sie gern sprechen.

»Eigentlich gruselt's mich ein bißchen, daß ich nun die Frau, die ich mir immer so schrecklich vorgestellt habe, sehen soll«, sagte Minna zu Betty, als sie miteinander zur Villa wanderten.

»Das haben Sie nicht mehr nötig, Minna. Frau Röder wird so liebenswert sein, wie sie sich's gar nicht vorstellen können. Und dankbar ist sie Ihnen, das können Sie glauben.«

Es währte lange, bis Minna wiederkam. Man sah, sie hatte geweint. Aber sie war ganz entzückt von der alten Dame.

»Eine charmante Frau, eine ganz charmante Frau. O, wie kann der Mensch sich ändern! Unser Herrgott tut wirklich noch Wunder, nicht nur in der Natur, nein, auch an den Menschen selber. Ich hab' ihr lang und breit alles berichten müssen, sie hat viel geweint und immer wieder die Belzers gesegnet, die so Großes an dem Kinde getan haben. Und mich hat sie nach allem ausgefragt, ich mußte ihr erzählen von meinem Mann, von unserer kleinen Wirtschaft, und als ich sagte, daß uns vor kurzem unsere schöne Kuh gestorben, da rief sie erfreut: ›Nun weiß ich, wie ich mich dankbar erzeigen kann gegen Sie, liebe Frau Berg.‹«

»Und denken Sie, als ich ging, hat sie mir mehrere Goldstücke in die Hand gedrückt und gesagt, dafür sollten wir uns eine andere Kuh kaufen. Was wird sich mein Mann freuen! O, was werden sie alle sagen, wenn ich erzähle, was ich hier erlebt habe! Eh' ich's vergesse, Fräulein Evchen soll gleich zur Großmutter kommen, sie hat schon große Sehnsucht.«


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