Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10. Eva

Nun war es Mai geworden. Alles blühte und duftete, auch in Dunkers Garten hatten sich die Blumen erschlossen, die Bäume standen in ihrer Blütenpracht und die Vögel sangen um die Wette. Mit dem Monat Mai war denn auch im Dunkerschen Hause das längst erwartete Mädchen, Eva Belzer, erschienen. Der Vater hatte, als sie aus der Pension kam, sich nicht gleich entschließen können, sie wegzugeben; ein paar Wochen mußte er sie noch für sich haben. Dann aber mußte die Vernunft über das Herz siegen. Das Mädchen sollte zu einer tüchtigen Hausfrau herangebildet werden, und dann – ja dann sollte sie ihm die Einsamkeit vertreiben, für ihn sorgen und ihm die Häuslichkeit, soweit es ohne Frau möglich war, gemütlich und lieb machen. In Frau Maria setzte er das völlige Vertrauen, sie werde seine Eva nicht nur wirtschaftlich heranbilden, sie werde auch über sie wachen, ihre Fehler rügen und ihre Erziehung mit Weisheit und Liebe teilen. In der Pension war alles etwas schablonenhaft zugegangen. Eva hatte eine tüchtige Ausbildung in wissenschaftlicher und sprachlicher Beziehung, aber er wußte auch, daß manches in so jungen Jahren von Mitpensionären angenommen wurde, er wußte, daß sie nicht leichtsinnig war, aber einen leichten Sinn hatte, empfänglich für alles, was ihr nahe gebracht wurde, es sei Edles und Unedles. Frau Maria, davon war er überzeugt, würde ein wachsames Auge über sie haben. Er hatte den Eltern anvertraut, daß Eva ein angenommenes Kind sei, sie aber gebeten, gegen ihre Kinder darüber zu schweigen. Eva selbst wußte es, aber sie mochte durchaus nicht daran erinnert werden. Sie weinte, wenn man davon sprach, oder wenn man sie anders nennen wollte als Eva Belzer, obgleich sie eigentlich Eva Dellmann hieß. Von einer Großmutter war ihr nie etwas gesagt worden. Es hatte keinen Zweck, da diese das Kind verleugnet und nie etwas von sich hatte hören lassen. So wurde sie denn in den Familienkreis Dunker aufgenommen als einziges Kind des Rechtsanwalts Belzer.

Eva war ein niedliches Mädchen, das einen Liebreiz besaß, der jedermann für sie einnahm. Sie war ein hübsches, schlankes Mädchen mit klugen, freundlichen, braunen Augen und lichtblonden Haaren. Das Eigentümliche war, daß die Augenbrauen auch dunkel waren, was dem Gesicht einen eigenartigen Ausdruck gab. Sie hatte Grübchen in den Wangen, die ihr etwas Schelmisches verliehen, kurz, wer sie ansah, mochte sie leiden, und wenn das kleine, rosige Mündchen sich zum Reden auftat, hörte man ihr gern zu. So war auch Gretchen, die nicht so viel Vorteile aufzuweisen hatte, sondern mit ihrem ehrlichen, etwas breiten Gesicht mehr einen hausbackenen Eindruck machte, ganz entzückt von der neuen Hausgenossin, machte gleich Schwesterschaft mit ihr, und beide Mädchen gelobten sich in der ersten Stunde ewige Freundschaft. Einen Kampf kostete es, als der Vater, der sie gebracht hatte, Abschied nahm.

»So weit war ich noch nie fort von dir, Vater«, schluchzte sie, »du schreibst mir aber oft?«

»Jede Woche, mein Töchterchen, und jeden Sonntag erwarte ich von dir einen Brief.« In den ersten Tagen gab es noch manche Tränen. Aber die lustigen Jungen, Georg und Heinz, suchten alle Künste hervor, sie aufzuheitern, wählten in dem Schatz ihrer Anekdoten die drolligsten aus und erzählten sie mit so viel Humor, daß sie lachen mußte. Trudchen zeigte ihre ganze Puppenfamilie, jedoch mit dem Zusatz: »Eigentlich spiele ich nicht mehr mit ihnen, aber ich habe sie doch noch lieb, weil es meine Kinder sind.«

»Es ist doch sehr hübsch, Geschwister zu haben«, sagte Eva schließlich, trocknete ihre Tränen, und nach einer Woche war sie eingewöhnt. Wie sollte es ihr auch nicht gefallen in der liebenswerten Familie! Tante Maria, so durfte sie sagen, war so gütig und freundlich, und der Onkel Dunker machte gern ein Späßchen mit ihr, auch fand sie, daß er in seinem Wesen ein wenig Ähnlichkeit hatte mit dem Vater. Er konnte leicht ungeduldig werden, wenn nicht alles pünktlich und schnell auf dem Platz war, das Warten liebte er gar nicht. Auch zur Heftigkeit neigte er, doch wußte er sich zu beherrschen. Wenn er fühlte, daß der Zorn in ihm aufsteigen wollte, verließ er schnell das Zimmer, und bald war alles verraucht. Er war aber von fester, treuer Gesinnung, ein Ehrenmann im wahren Sinne des Wortes und ein treuer Christ, der seinem Hause wohl vorstand.

Eva trug zwar noch Trauerkleider für die verstorbene Mutter, aber der Vater hatte gewünscht, daß sie im Sommer die Trauer ablegte. Wenn sie auch sehr an der Mutter gehangen und tiefen Schmerz über ihr Abscheiden empfunden hatte, zu lange kann die Trauer nicht haften in einem jungen Gemüt, es ist immer wieder hoffnungsfreudig und mehr zur Freude als zur Trauer aufgelegt. Und wer sollte nun noch traurig sein unter allen fröhlichen Menschen, die es hier gab! Sogar die alte Rieke scherzte und lachte, da wollte sie auch mitmachen.

Unter den blühenden Bäumen im Garten schritten die beiden Mädchen Arm in Arm dahin. Eva hatte viel aus der Pension zu berichten, wo sie mit vielen anderen Mädchen zusammen gewesen war. »Aber so gemütlich und nett wie bei euch war es doch nicht. Es ging sehr streng zu in der Pension, dann gab es einige Mädchen, die waren sehr hochmütig, und andere, die machten sich lustig über ihre Mitpensionäre, eine richtige Freundin habe ich nicht gefunden. Zu Hause bei den Eltern war es immer am schönsten. Du, Gretchen, dich ruft jemand. Ein junges Mädchen hat schon lange am Zaun gestanden und zu uns hergesehen.« Gretchen sah sich um und sagte: »Das ist Lieschen Kramer, unsere Nachbarin. Lieschen, komm doch einmal herüber.«

Das ließ diese sich nicht zweimal sagen. Sie hatte schon das fremde Mädchen einige Male im Garten gesehen und war neugierig zu erfahren, wer es sei. Schade, daß die Tür vernagelt war, sie hatte es schon oft bedauert. Nun mußte sie immer erst einen Umweg machen, wenn sie in den Nachbarsgarten wollte. Nach einem Weilchen war sie da. Nun wurden die jungen Mädchen einander vorgestellt, und Lieschen betrachtete die Neuangekommene von oben bis unten. Dann fragte sie, ob sie zum Besuch da sei, und war erstaunt, daß sie ein ganzes Jahr bleiben wolle.

»Da können wir drei ja hübsch miteinander verkehren«, rief sie, fügte aber gleich hinzu: »Viel Zeit habe ich nicht, wir gehen jetzt zu einem Verein, der im Sommer Vergnügungspartien veranstaltet und im Winter ›Reunions‹, wo getanzt wird. Das ist sehr amüsant. Gretchen, da solltet ihr auch eintreten. Aber Sie haben Trauer«, fügte sie, zu Eva gewendet, hinzu. »Wer ist denn gestorben?« »Meine Mutter, aber das ist schon länger her«, erwiderte Eva.

Nun erzählte Lieschen, daß sie zwei neue Kleider bekomme zu diesen Geselligkeiten, beschrieb, wie sie besetzt würden, was der Besatz koste, berichtete von ihren Armbändern und Halsketten, kurz, man sah, sie wollte der jungen Fremden imponieren. Diese aber sagte einfach: »Meine Eltern waren nicht für dergleichen, aber wir sind ohne dies immer vergnügt gewesen und haben mit guten Freunden im Sommer auch hübsche Partien gemacht.«

»Das war mir aus der Seele gesprochen, Eva«, sagte später Gretchen, als Lieschen sie wieder verlassen hatte. »Lieschen weiß seit einiger Zeit weiter nichts zu reden als von solchen Sachen. Unsere Eltern sind auch nicht dafür, daß ich viel mitmache, ich fühle mich am glücklichsten, wenn ich daheim bei meinen Eltern bin oder mit den Eltern und Geschwistern Ausflüge mache. Aber einen Ort gibt es, den sollst du auch kennenlernen. Wenn wir dahin gehen oder fahren, das ist ein großes Landvergnügen. Da gibt es ein junges Mädchen, das wird dir gefallen.«

»O, wer ist es?«

»Das ist Etty Hemsing, die Pfarrerstochter von Langendorf.« Und nun erzählte sie, wie sie zu der Bekanntschaft gekommen sei, was es für ein reizendes Pfarrhaus sei, welch eine kluge und interessante Tante dort lebe und wie selbige sich schon erboten habe, sie beide in der englischen Sprache zu unterrichten.

Eva schlug frohlockend die Hände ineinander. »Englisch habe ich so gern«, rief sie aus. »Es gibt so reizende Bücher in dieser Sprache.« Sie nannte einige, die sie gelesen, und welche Gretchen auch kannte. Sie unterhielten sich eine Weile über englische Sprache und englische Literatur und waren so bis unten in den Garten gekommen. Dort war eine Erhöhung, eine Art Terrasse, es führten einige Stufen herauf, oben war eine Bank angebracht, dahinter Gebüsch, von da hatte man einen hübschen Blick über die nächste Umgebung. »Siehst du dort, jenseits der Wiese den Fluß? Das ist derselbe, der an Hemsings Garten vorüberfließt. Man könnte also auch in einem Boot eine Wasserfahrt nach Langendorf machen oder im Winter ganz auf Schlittschuhen dahin fahren.«

»O, wieviel Schönes gibt es bei euch!« rief Eva erfreut. »Werde ich Langendorf auch bald sehen und die Etty kennenlernen?« »Mutter sagte, wir könnten wohl einmal zu Fuß hinwandern. Georg und Heinz haben den Weg schon oft gemacht, die sollen uns dann begleiten. Bist du gut zu Fuß? Es ist eine Stunde bis dahin.«

»Ich kann sehr gut laufen. Ich habe mit meinem lieben Vater oft sehr weite Spaziergänge gemacht. Mutter konnte nicht weit gehen, besonders in den letzten Jahren nicht.«

Wenn Eva von der Mutter sprach, nahm ihr Gesicht immer einen schmerzlichen Ausdruck an, sie mußte sie sehr lieb gehabt haben. Aber auch an dem Vater hing sie mit großer Liebe; wenn ein Brief von ihm kam, jubelte sie laut. Sie konnte überhaupt ihren Gefühlen lebhaften Ausdruck geben. Ihre Lebhaftigkeit hatte etwas Gewinnendes, das offene, fröhliche Wesen etwas Anziehendes. Mit Georg und Heinz stand sie bald auf freundschaftlichem Fuß; sie betrachteten sich wie Geschwister, so hatten es die Eltern gewünscht, es entspann sich ein harmloser Verkehr. Sie neckten sich, wie es unter Geschwistern Brauch ist; die Knaben standen aber auch jederzeit zu Ritterdiensten bereit.

»Wer sind nur die Jungen in der Nachbarschaft, die oft so unverschämte Reden haben«, fragte Eva eines Tages, als sie aus der Stadt kam und der Primaner Edgar und seine Brüder ihr Kußhände zugeworfen und sie mit »gnädiges Fräulein« titulierten und Redensarten gemacht hatten, die nichts weniger als fein waren. »Es sind unsere nächsten Nachbarn, Eva. Du mußt sie möglichst ignorieren, sie sind nicht gut erzogen. Es sind Brüder von Lieschen, die du schon kennenlerntest.«

»Verkehrt ihr miteinander?«

»Fast gar nicht. Mutter wechselt gelegentlich ein paar Worte mit Frau Kramer, das ist alles. Sie wollen keinen Verkehr mit uns, wir sind auch ganz froh darüber. Lieschen schloß sich eine Zeitlang an mich an, es war gleich nach unserer Konfirmation, aber jetzt hat sie, wie du gehört, andere Interessen. Wir können es übrigens Georg und Heinz sagen, daß sie es Lieschens Brüdern kund tun, du verbätest dir solche Redensarten.«

»Nein, nein, ich glaube, es ist besser, wir ignorieren es, sonst machen sie es noch ärger.«

Nachdem Eva im Dunkerschen Familienkreise warm geworden war, fing Frau Maria an, sie in die Wirtschaft einzuführen; das war ja der Hauptzweck ihres Hierseins. Damit ihr das Kochen mehr Spaß machen sollte, mußte Gretchen gleichzeitig mitlernen. Wenn letztere auch schon ab und an in der Küche tätig gewesen war, so konnte sie doch lange nicht als perfekte Wirtschafterin gelten.

Da herrschte nun ein fröhliches Leben in der Küche. »Nur nicht zuviel geschwatzt«, sagte eines Tages Frau Maria, »heute wird Eva nun ihr erstes Kunststück machen und uns Fische kochen. Sie weiß jetzt, wie sie ausgenommen werden und wie sie weiter zu handhaben sind. Also ich bin nun nicht da!« Frau Maria verschwand. Gretchen hatte einen anderen Auftrag bekommen, und Eva war es ganz lieb, allein gelassen zu werden, sie hatte dann mehr Selbstvertrauen und Ruhe. Sie brachte auch scheinbar alles gut fertig und sah mit Befriedigung, wie hübsch arrangiert die Fischstücke auf der Schüssel lagen, als Rieke damit hereinkam. Auch die Kartoffeln dazu waren schön und mehlig. »Wo ist aber die Sauce?« fragte die Hausfrau. »O – die Sauce! Ja, die hab' ich vergessen!« Sie ging schnell in die Küche, um die Butter klar zu machen. Da kam Heinz gestürzt. »Schnell das Salz. Vater sagt, es ist kein Korn Salz an den Fischen.« Da gab es Eva einen gewaltigen Ruck. Nun war sie ja vollständig blamiert. Und noch gestern abend hatte sie gerühmt: Fische könne sie ohne jegliche Hilfe zubereiten. Man hatte immer einmal in der Woche dies Gericht, und da es eine Lieblingsspeise des Vaters war, so hatte Frau Maria besondere Sorgfalt darauf verwandt, es Eva zu lehren. Diese schickte nun Salz und Sauce hinein, erschien aber nicht wieder, sondern setzte sich in eine Ecke am Herd und weinte bitterlich, obgleich Rieke begütigend sagte: »Gehen Sie doch hinein, Fräulein Eva, Herr und Frau Dunker sind keine Menschenfresser.«

Erst als Frau Maria selber kam und sie hereinholte, erst als Herr Dunker rief: »Liebe Eva, Lehrgeld muß jede angehende Köchin zahlen, nun kommen Sie her, ich habe Ihnen ein besonders schönes Stück aufgehoben«, da trocknete sie ihre Tränen und begann zu essen, aber gar zu gut wollte es heute nicht schmecken, und an ihr Väterchen stand im nächsten Brief zu lesen; »Ich lerne jetzt kochen und glaubte, es schon gut zu können, aber da habe ich vergessen, die Fische zu salzen, und an die Sauce habe ich überhaupt nicht gedacht, aber sie sind alle so furchtbar gut hier. Schelte hat es gar nicht gegeben, nur Tröstungen, und das hat mich so gerührt, daß ich nun doppelt aufmerksam sein will und alles so gut machen, wie ich nur kann.«


 << zurück weiter >>