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7. Im Seebad

Schöne Herbsttage folgten auf den etwas regenreichen Sommer. Herr Dunker war abgereist, eine Strecke von Georg und Heinz begleitet, die eine Einladung von Onkel und Tante hatten, die Herbstferien bei ihnen zu verbringen. Onkel Ernst war schon seit einigen Jahren zum Direktor des Gymnasiums in E. ernannt nach dem Tode des vorigen und lebte in sehr angenehmen Verhältnissen.

Herr Dunker reiste weiter bis an die Küste und ließ sich in dem Seebad St. in einem Hotel zweiten Ranges ein bequemes Zimmer geben, von wo er den Anblick der See genießen konnte. Das war ihm Hauptsache. Im übrigen fand er in dem Gasthof alles, was zu seines Leibes Nahrung und Notdurft gehörte, also daß er um nichts zu sorgen brauchte, nur seiner Gesundheit leben konnte.

Wie tat es ihm wohl, als die frische Seeluft seine Schläfen umwehte, als er frei und ledig aller Sorgen sich in der Stille am Strande ergehen konnte, das Tun und Treiben des Badelebens beobachten, oder sich über die Kinder freuend, die in ihrem Nachahmungstrieb am Seestrand große Burgen erbauten, Höhlen und Kanäle gruben, um dann das Meerwasser hineinzuleiten und sich dabei im Schweiße ihres Angesichtes abzuarbeiten.

Oft stand er still und sah ihnen zu, oft ging er aber weiter auf den langen Steindamm hinaus, der weit ins Meer hineinragte. Da umspülten ihn die Wellen von beiden Seiten, und wenn Sturm kam und hoher Seegang, da schlugen die Wellen über den Damm hinweg. Das machte dem Mann aus dem Gebirge großen Spaß, er konnte lange dem Schauspiel zusehen. Oft wünschte er die Seinen hierher, besonders, wenn er ganze Familien heranziehen sah. Es gab nicht viele einsame Männer wie ihn, man sah nur gruppenweise die Herren zusammengehen, oder es taten sich zwei und zwei zusammen, die sich zueinander hingezogen fühlten.

*

Seit einigen Tagen jedoch war ein Herr aufgetaucht, der ihm einen sympathischen Eindruck machte, der sich auch, wie er, ganz allein hielt. Er suchte weder abends die Gesellschaft der übrigen Herren, noch schloß er sich draußen an irgend jemand an. Dunker traf ihn oft auf einsamen Spaziergängen, sein Interesse für ihn ward rege. Der Mann mußte Kummer gehabt haben, schon ein paarmal hörte er ihn seufzen. Er mochte ihn nicht anreden, aber einmal kam doch die Gelegenheit dazu. Der eine kam vom Strande, der andere ging dorthin. Da kam ein Windstoß und riß dem Fremden den Hut vom Kopf. Er rannte schleunigst hinterher, denn die Kopfbedeckung rollte dem Meere zu. Da kam Herr Dunker ihm zuvor. Er ergriff den Hut, und mit freundlicher Verbeugung überreichte er ihn dem Unbekannten. Dieser dankte höflich, und einige weitere Worte waren unausbleiblich. Am nächsten Tage trafen sie sich wieder, da wurde über das Wetter gemutmaßt, und dann gab ein Wort das andere. Am dritten Tage schüttelte man schon Hände miteinander, und Herr Dunker schrieb ganz vergnügt nach Hause, er habe eine sehr angenehme Bekanntschaft gemacht, ein kluger, interessanter Mann, ein gewisser Rechtsanwalt Belzer, sei hier mit ihm zusammengetroffen. Sie wohnten in einem Hotel und hätten schon einen kleinen Spaziergang zusammen gemacht. Er hoffe, es werde ein angenehmer Umgang für ihn werden in dieser Zeit.

Einmal, als die Herren einen längeren Spaziergang miteinander machten, erzählte Herr Dunker von seiner Familie. Er hatte gerade längere Briefe von daheim und hatte das Bedürfnis, sich gegen jemand auszusprechen. »Ich habe ein wenig Heimweh nach meiner Frau«, sagte er.

»Ich jeden Tag«, versetzte Herr Belzer und fügte mit einem tiefen Seufzer hinzu: »Meine Sehnsucht kann auf Erden nicht mehr gestillt werden, meine geliebte Frau ist im Frühling heimgegangen.«

»Sie armer Mann«, sagte Herr Dunker in herzlichem Mitgefühl. »Haben Sie keine Familie?«

»Nur ein Töchterchen von 16 Jahren. Da wir in einer kleinen Stadt leben, so haben wir sie, als sie 12 Jahre alt war, in eine Pension gegeben in der Residenz, damit sie etwas Tüchtiges lernt. Sie kommt aber zum Winter nach Hause, damit es mir nicht zu einsam wird.«

Dann sprachen die Herren von ihren Frauen. Der Rechtsanwalt erzählte, wie die Entschlafene seines Hauses Zierde und Krone gewesen, wie der rauhe März ihr eine Lungenentzündung gebracht, die in wenigen Tagen ihre zarte Konstitution aufgerieben habe. Er könne sich noch gar nicht zurechtfinden ohne sie. Nun hätte der Arzt auf Zerstreuung gedrungen und ihm geraten, auf einige Wochen sein Heim zu verlassen, um andere Eindrücke zu gewinnen. Er fühle auch, daß es ihm wohl tue. Er habe erst ganz für sich bleiben wollen, aber er merke, die Aussprache tue ihm gut, besonders mit einem Gleichgesinnten.

»So geht es mir auch«, erwiderte Dunker. »Wo ich gleiche Gesinnung finde und Vertrauen fassen kann, da suche ich gern Verkehr. So wollen wir es einem glücklichen Zufall, oder vielmehr einer gütigen Fügung verdanken, daß wir uns näher kennenlernten.«

Sie schüttelten sich die Hände und kamen seitdem täglich zusammen. Da die Abende schon länger waren und sie nicht liebten, in dem Gesellschaftszimmer des Hotels oder in anderen Restaurants zu sitzen, so besuchten sie sich auf ihrem Zimmer, rauchten eine Zigarre zusammen, politisierten, oder der Rechtsanwalt erzählte interessante Sachen aus seiner Praxis. So verging die Zeit im Fluge, man merkte kaum, wie die Wochen schwanden. Am Schluß des Urlaubs nahm Herr Dunker seinem neuerworbenen Freund das Versprechen ab, er müsse ihn durchaus einmal besuchen, er müsse seine Frau, wie auch seine Familie kennenlernen.

Neu gestärkt an Leib und Seele kam Dunker wieder nach Hause. Alle freuten sich seines Aussehens, auch war seine Stimmung eine viel heitere als vordem. Und als er nun bei dem befreundeten Kommerzienrat die Stelle als Prokurist in dessen Kontor bekam, die mit einem ansehnlichen Gehalt verbunden war, da war er doppelt dankbar, daß alle Sorgen, die er früher um den eigenen Besitz gehabt, abgestreift waren und er nun im Besitz eines hübschen Hauses und Gartens glücklich und zufrieden mit seiner Familie leben konnte. Sein ältester Sohn Christian, der Student, kostete jetzt schon eine größere Summe, aber er war ein fleißiger und begabter Jüngling, wandte seine Zeit gut an und berechtigte zu den schönsten Hoffnungen. Er studierte Naturwissenschaften und Chemie, hatte auch die langen Sommerferien daheim zum fleißigen Arbeiten benutzt und war nebenbei während des Vaters Abwesenheit der Mutter Beistand und Stütze gewesen. Jetzt war er wieder zur Universität abgereist. Christian konnte mitunter etwas Absprechendes, Rechthaberisches haben und hatte nicht gerade eine liebenswürdige Außenseite. Aber ein treues, aufrichtiges Gemüt war vorhanden, seinen Geschwistern war er ein guter Bruder, wenn er ihnen gegenüber auch oft betonte, daß er als Ältester gewisse Vorrechte beanspruche. Trudchen war sein Liebling, ihr schlug er so leicht keine Bitte ab. Gegen das weibliche Geschlecht war er zurückhaltend, er konnte im Verkehr mit Damen etwas Hölzernes, Steifes haben.

Die Mutter war wirklich der Frau Kramer in dieser Zeit ein klein wenig näher gekommen. Zu ihrem großen Erstaunen klopfte es eines Tages, Frau Kramer erschien selbst und brachte das gewaschene Taschentuch, das Frau Maria an jenem Abend auf die Wunde gelegt hatte. Sie setzte sich zwar auf Frau Dunkers Bitten nicht, verweilte aber stehend ein bißchen und sprach einige freundliche Worte. Frau Maria hatte aber das Gefühl, als ob die Nachbarin auf Kohlen stände. Hatte sie Eile, oder fürchtete sie das Verbot ihres Mannes?

Lotte war richtig wieder eingerückt. »Es is bei alle was«, hatte sie gesagt, »wenn man einmal in Stellung gehen muß, is es egal, wo man is. Gutes Essen hab' ich ja und aus Schelten mach' ich mir nu nichts. Geschenkt hat sie mir auch was.« So war der Friede nach dieser Seite hin wieder hergestellt.

Die Tage wurden allmählich kürzer, rauhe Winde wehten, die Gärten standen verödet, nicht lange, da setzte der Winter ein mit Schnee und Eis. Er kam früh in diesem Jahr, aber für die Kinder und jungen Leute immer willkommen. Eissport ging ihnen über alles. Georg und Heinz hatten denn auch bald ihre Schlittschuhe vorgesucht und wanderten in den Freistunden nach dem Fluß, auf dessen Eisfläche schon reges Leben herrschte.

Eines Tages kamen sie mit der Nachricht nach Hause, die verlassene Villa müsse wieder bewohnt sein, sie hätten Licht dort brennen sehen im Hausflur und in den Zimmern. Nun mutmaßten sie wieder, welche Familie dort wohl eingerückt sein werde. Hoffentlich gäbe es nette Jungen von ihrem Alter, mit denen es sich anständig verkehren lasse.

Frau Maria, die es hörte, seufzte innerlich: Nur nicht noch eine solche Familie, wie die nächstwohnende. Dann zündete sie die Lampe an über dem großen Familientisch, die Jungen holten ihre Schularbeiten, sie und Gretchen hatten Wäsche auszubessern, Gertrud lernte französische Vokabeln, ein friedliches, gemütliches Familienbild.

Es klingelte an der Haustür, männliche Tritte ließen sich hören, es stampfte jemand Schnee von den Füßen und schien mit Rieke zu sprechen.

»Gretchen, sieh, wer da kommt. Ist es ein fremder Herr, so führe ihn ins Besuchszimmer und zünde die Lampe an.« Rieke begegnete ihr schon in der Tür. »Ein ganz fremder Herr«, flüsterte sie.

Gretchen ging hinaus und verbeugte sich. Der Herr, sich ebenfalls verneigend, fragte: »Kann ich Herrn Dunker sprechen?«

»Mein Vater kommt erst um sieben Uhr aus dem Kontor, aber wenn Sie die Mutter sprechen wollen, sie ist zu Hause. Bitte, wollen Sie hier eintreten?« Sie öffnete das Besuchszimmer, drehte die Lampe auf und bat den Herrn Platz zu nehmen. Dann eilte sie zur Mutter.

»Er will Vater sprechen, seinen Namen hat er noch nicht genannt.«

»Vielleicht der neue Besitzer der Villa«, dachte Frau Maria und ging.

Ziemlich bekannt kam der Herr auf sie zu. »Frau Dunker?« sagte er mit freundlicher Verbeugung, als ob er sie lange kennte.

»Verzeihen Sie, Frau Dunker, daß ich Sie gleich anrede, aber Ihr Herr Gemahl hat mir so viel Liebenswertes von Ihnen erzählt, daß mir ist, als müßte ich Sie lange kennen. Ich bin der Rechtsanwalt Belzer aus dem Städtchen R. Ich hatte Ihrem Herrn Gemahl versprochen, wenn meine Geschäftsreisen mich einmal in die Nähe seiner Heimat führen sollten, ihn zu besuchen. Dies Versprechen wollte ich halten, Sie müssen nur verzeihen, daß ich unangemeldet komme und zu unpassender Stunde.«

»O, wie sehr wird mein Mann sich freuen. Er hat mir so viel von Ihnen erzählt, und wie die Bekanntschaft mit Ihnen zu den wertvollsten seines Lebens gehört, wie sehr sie ihm den Aufenthalt an der See verschönt hat.«

Belzer wehrte bescheiden ab, sagte im Gegenteil, daß der Vorteil auf seiner Seite gewesen sei. Herr Dunkers Gesellschaft hätte viel dazu beigetragen, ihn von seinen traurigen Gedanken und schmerzvollen Erinnerungen abzulenken.

Sie sprachen von der verstorbenen Frau. Frau Dunker konnte mit ihrem teilnehmenden Herzen alles verstehen, was ihn bedrückte und fragte nach seinem Töchterchen.

»Eva ist noch in Pension, kommt aber in den Weihnachtsferien nach Hause. Da ich jetzt noch allein bin, wollte ich die Gelegenheit benutzen, meinen Besuch bei Ihnen auszuführen.«

Frau Maria wollte eben etwas darauf erwidern, da hörte sie ihren Mann kommen. Sie ging schnell, ihn von dem Besuch in Kenntnis zu setzen, öffnete die Tür und rief:

»Otto, geh' nicht in dein Zimmer, hier ist Besuch von auswärts.«

Ganz verwundert, wer es sein möchte, kam er näher. Herr Belzer erhob sich und rief: »Sehen Sie, Herr Dunker, wie schnell ich mein Wort halte.«

»Das ist ja köstlich, alter Freund, ganz köstlich. Einen besseren Einfall hätten Sie gar nicht haben können. Mutter, laß das Gastzimmer heizen, Herr Belzer bleibt natürlich die Nacht.«

»Zwei Nächte sogar, wenn Sie mich behalten wollen.«

»Zwei Wochen und länger«, rief der erfreute Hausherr. »Aber nun setzen Sie sich wieder, lieber Freund.« Bald waren die Herren in eifrigem Gespräch wie damals an der See, während Frau Maria für ein gutes Abendbrot sorgte und Gretchen Anordnung gab wegen des Tischdeckens und Rieke wegen des Gastzimmers.

»Dies ist nun meine ganze Familie, bis auf den Ältesten«, sagte Dunker zu seinem Freund, als er mit ihm ins Eßzimmer trat, wo seine Kinder, wie gewöhnlich, um den Tisch standen, der Eltern harrend. Die Knaben verneigten sich höflich, Trudchen ging auf Herrn Belzer zu, reichte ihm die Hand und machte einen zierlichen Knicks. Nach dem Gebet setzte man sich. Der Freund des Vaters schien angenehm überrascht von dem Ton, der in der Familie herrschte. Es war eine ungezwungene Unterhaltung, ein höfliches Anbieten der Speisen, ein durchaus gesittetes und bescheidenes Benehmen der Jugend.

Herr Belzer ließ es sich wohl sein in dem Hause seines Freundes. Er blieb nicht zwei Nächte, wie er zuerst geplant, es wurden beinahe acht Tage daraus. Was Frau Maria wunderte, war, daß er keine Langeweile zu empfinden schien während der Geschäftsstunden Herrn Dunkers. Er schien gern Frau Marias Unterhaltung zu suchen, er beobachtete ihr Tun und Treiben mit scharfem Auge, ließ sich gern in Gespräche ein mit den Söhnen des Hauses und auch mit der erwachsenen Tochter, machte auch Spaziergänge in der Umgebung der Stadt. Wenn Herr Dunker bedauerte, daß er sich ihm nicht so widmen konnte, wie er wohl möchte, versicherte Herr Belzer, er habe durchaus keine Langeweile, sondern nur große Freude von seinem Aufenthalt.

Endlich aber war der letzte Abend gekommen, am anderen Morgen sollte die Reise fortgehen. Die Freunde saßen noch einmal beisammen in Herrn Dunkers eigenem gemütlichem Zimmer. Als alle Hausfrauenpflichten erfüllt waren, gesellte sich auch Maria zu den Herren.

»Das ist recht, Frau Dunker, ich habe auf Sie gewartet, nun darf ich mit meinem Plan herausrücken, der in diesen Tagen zur Reife gelangt ist.«

Verwundert blickte das Ehepaar auf, und nun kam Herr Belzer mit dem, was er auf dem Herzen hatte, heraus.

»Ich war mir bisher nicht klar, wie ich die Zukunft meines Kindes gestalten sollte. Meine Frau und ich faßten den Entschluß, sie zur Lehrerin ausbilden zu lassen, damit sie einst etwas habe, auf eigenen Füßen zu stehen. Wir gaben sie deshalb in Pension zu einer Freundin meiner Frau, die Vorsteherin eines Mädchenpensionats war und sie ganz in unserm Sinne erzog. Seit meiner Frau Tod bin ich anderer Meinung. Jetzt möchte ich meine Eva für mich behalten, sie muß mir jetzt in etwas die Frau ersetzen. Sie soll mir den Haushalt führen, mir Gesellschafterin sein, mich, wenn ich alt bin, pflegen und für mich sorgen. Dazu gehört nun aber, daß sie vor allen Dingen zuerst den Haushalt richtig lernt. Was nützt mir alle Gelehrsamkeit, wenn ein Mädchen nichts von der Wirtschaft versteht! Nun habe ich lange hin und her erwogen, wo ich das Kind hintun soll. Es muß eine Familie sein, zu der ich volles Vertrauen habe. Wo könnte ich sie besser finden als hier! Ein achttägiger Aufenthalt bei Ihnen hat mich überzeugt, daß meine Eva in keinem Hause besser aufgehoben wäre als hier. Darf ich die große Bitte aussprechen, ob Sie mein Kind ein Jahr, von Ostern ab, in Ihr wertes Haus nehmen würden, sie in allem unterweisen, was zu einer guten Hausfrau gehört, damit sie dann ihrem Vater eine treue Stütze und Wirtschafterin sein kann? Nun, liebe Frau Dunker, was sagen Sie dazu?«

Frau Dunker schwieg zunächst erstaunt und sah ihren Mann an.

Dieser sagte lächelnd: »Ja, Maria, das mußt du entscheiden, die Wirtschaft ist dein Revier.« Maria meinte, Herr Belzer setze zu viel Vertrauen in sie, mit fremden jungen Mädchen habe sie sich noch nicht befaßt. Sie sei eine strenge Mutter und werde auch eine strenge Lehrmeisterin sein.

»Das wünsche ich auch, denn ohne Strenge gedeiht nichts. Und daß die rechte Liebe dabei ist, habe ich in diesen Tagen wahrnehmen können. Meine Eva wird es Ihnen nicht schwer machen, sie ist immer ein liebes gehorsames Kind gewesen und wird Ihnen hoffentlich Freude machen. Aber eins muß ich Ihnen anvertrauen. Eva ist kein eigenes, sondern ein angenommenes Kind.«

»Ein Pflegekind!« rief Frau Maria erstaunt. »Das merkt man Ihnen nicht an, wenn Sie von ihr sprechen.«

»Sie ist mir ganz wie ein eigenes Kind. Wir haben sie angenommen, als sie kaum drei Monate alt war.«

Nun berichtete er, was wir bereits wissen, erzählte das ganze Erlebnis, die Reise zur Großmutter, deren Verleugnung der Tochter wie des Enkelkindes usw. »Wir haben später noch einmal versucht, an die Frau zu schreiben und haben sie noch einmal auf ihre Pflicht aufmerksam gemacht, haben aber nie eine Antwort bekommen. Wir freuten uns, keiner Antwort gewürdigt zu werden, denn nun hatten wir Eva bereits so liebgewonnen, daß wir sie mit schwerem Herzen abgegeben hätten. Nun weiß ich, warum alles so kommen mußte, das Kind sollte mir zum Trost bleiben, nachdem mir Gott das Liebste genommen hatte.«

»Weiß Eva selber darum, daß sie kein eigenes Kind ist?«

»Zuerst wußte und ahnte sie nichts. Wir waren die Eltern, wie konnte es anders sein. Aber es blieb ja nicht aus, daß es dem Kinde zu Ohren kam. So kam sie eines Tages weinend zu meiner Frau und klagte ihr, die andern Kinder hätten gesagt, wir seien nicht ihre Eltern. Da hat meine Frau sie an ihr Herz genommen und hat ihr so schonend wie möglich die Wahrheit geoffenbart. Sie weinte erst ein wenig, aber am andern Tage war es vergessen. Die Liebe zu uns war schon zu tief eingewurzelt, als daß es einen bleibenden Eindruck hinterlassen konnte. Sie war und blieb unser Kind und wird mein Kind bleiben, solange mir Gott das Leben schenkt.«

Herr und Frau Dunker, denen diese Anfrage ganz überraschend kam, baten sich etwas Bedenkzeit zur Überlegung aus, worauf Herr Belzer äußerte:

»Natürlich verlange ich nicht sofort eine Zusage. Ich bitte nur, mir nach Weihnachten eine bestimmte Nachricht geben zu wollen, ob ja oder nein.«

Es war spät geworden nach allen diesen Auseinandersetzungen, und da der Rechtsanwalt am anderen Morgen mit dem Frühzug reisen wollte, so trennte man sich mit der Versicherung, daß man sich gegenseitig liebgewonnen habe und sich fortan als Freunde betrachten würde, selbst wenn Dunkers genötigt sein würden, das Anerbieten mit der Tochter ablehnen zu müssen.


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