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6. Familie Kramer

Es wurde ernstlich gerüstet zu einer Erholungsreise für den Vater. Herr Dunker hatte alle die Jahre eine schwere Arbeitslast auf den Schultern gehabt, dabei die mancherlei Sorgen und nun zuletzt die Abwicklung der Geschäfte beim Verkauf der Fabrik sowie vieles Unangenehme, was damit zusammenhing. Dazu kam mancher stille Ärger mit dem Nachbar. Er sagte seiner Frau nicht alles, was er durch ihn zu leiden hatte. Sie trafen mitunter in der Stadt zusammen, wo Herrn Kramers feindselige Blicke ihn oft trafen. Leider mußte er auch wahrnehmen, daß er ihm anderweitig zu schaden trachtete. Er suchte oft, seinen Nachbar in ein gehässiges Licht zu stellen, so daß solche, welche ihn nicht kannten, gegen Herrn Dunker eingenommen wurden. So wußte der letztere, daß er ihm einen Käufer, der schon wegen der Fabrik in Unterhandlung mit ihm gewesen war, verscheucht hatte, ein Freund hatte es ihm verraten. Dunker wußte recht gut, woher die Feindschaft stammte, aber er war zu edel, um die alten Geschichten ans Licht zu ziehen. Besser Unrecht leiden, als Unrecht tun. Es fand sich schließlich ein anderer Käufer, und allmählich wickelte sich unter Gottes Beistand alles glücklich für ihn ab.

Und kam er nach mühevollem Tagewerk nach Hause, so empfing ihn Friede und Freude. Er fand immer ein freundliches Gesicht, ein harmonisches Wesen bei seiner Maria. Sie hatte stets Zeit für ihn, hatte keine Klagen, war nie durch Kleinigkeiten verstimmt oder übel gelaunt, wie es im Nachbarhause bei Frau Kramer leider oft der Fall war.

Heute z. B. war wieder ein böser Tag drüben. Ein großer Mädchenskandal. Das Mädchen war am Sonntagabend nicht, wie es sollte, nach Hause gekommen, sondern erst am Montag. Darob große Entrüstung, arge Schimpfworte flogen hin und her, denn das Mädchen, das erst kurze Zeit da war, antwortete mit gleicher Münze.

Auf einmal sah man das Mädchen aus der Hoftür rennen, etwas Unverständliches schreien, durch den Garten laufen, über den Zaun steigen und querfeldein über die Wiesen laufen.

Frau Maria, die mit Rieke in der Küche war, fragte diese, ob sie gehört habe, was Lotte geschrieen. »Sie rief, sie wolle ins Wasser gehen.«

»Sie wird es doch nicht tun«, sagte Frau Dunker erschrocken.

»Das tut sie. Das Mädchen ist leidenschaftlich, im Zorn weiß sie nicht, was sie tut.« »Lauf ihr nach, halte sie zurück«, bat Frau Maria.

»Sie ist längst über alle Berge, die hole ich nimmer ein.«

Die Kinder erzählten am Mittag, Reinhold hätte gesagt, ihre Lotte hätte sich im Fluß hinter ihren Gärten ertränkt.

»Redet keinen Unsinn, Kinder«, warnte der Vater.

»Ja, Vater, es wird wohl wahr sein«, stimmte Gretchen bei. »Lieschen bat mich vorhin, ich möchte mit ihr zu Lottes Mutter gehen, sie möchte nicht allein gehen. Sie sollte fragen, ob das Mädchen bei ihr sei. Die Mutter war ganz verwundert, als wir kamen, und sagte, sie habe ihre Tochter nicht gesehen, Lieschens Mutter müsse doch besser wissen als sie, wo sie sei. Lieschen ist es nun auch angst geworden, ebenso Frau Kramer, sie fürchten, daß Lotte ihr Vorhaben ausgeführt habe, weil sie ganz von Sinnen gewesen sei.«

»Die Leute gehen nicht so schnell ins Wasser, glaubt es mir«, meinte der Vater. »Wißt ihr übrigens schon, daß der alte Herr von Henning, unser Nachbar zur Linken, gestorben ist?«

»Nachbar, sagst du, Vater«, bemerkte Heinz. »Der wohnt doch ein ganzes Stück weg von uns.«

»Nächster Nachbar war er ja nicht, es liegen einige kleine Häuser dazwischen« –

»Und dann kommt noch ein Stück von dem Park, der zu Herrn von Hennings Villa gehört«, warf Georg dazwischen.

»Nun ja, Kinder, insofern habt ihr recht. Ich nenne ihn nur Nachbar, weil er in unserer Nähe wohnte, hier täglich vorbeiging und sich stets freundschaftlich und nachbarlich zu mir stellte.«

»Ich mochte den alten Herrn immer gern«, bemerkte Frau Dunker, froh, daß die Mädchengeschichte ein Ende hatte. »Was mag ihm gefehlt haben?«

»Der Diener sagte mir, eine Lungenentzündung habe seinem Leben ein Ende gesetzt. Ich bin neugierig, was aus der schönen Villa und dem wohlgepflegten Park wird.«

»Sind keine Kinder da?«

»Ich glaube nicht. Es können ja aber Neffen oder Nichten oder andere Erben da sein.«

»Da gibt es also wieder Veränderungen in unserer nächsten Nähe«, sagte Frau Maria.

»Wollte Gott, es wären angenehme«, seufzte Herr Dunker.

»Nun ist wieder großer Lärm drüben im Hof«, berichtete Rieke, die kam, den Tisch abzuräumen. Sie war schon lange in der Familie Dunker und konnte sich erlauben, ein Wörtchen mitzusprechen.

»Ist Lotte wieder da?«

»Nein, ihre Mutter. Sie will wissen, wo ihr Kind ist. Sie hat in ihrer Kammer einen Zettel gefunden, darauf steht: ›Ich gehe ins Wasser, weil die Frau mich schlecht behandelt.‹ Nun verlangt die Mutter, es soll nachgeforscht werden, wo ihre Lotte ist.«

»So zieht eine Sünde immer die andere nach sich«, klagte Frau Maria. »O, wie kann dies arme verblendete Mädchen mir leid tun.«

»Glaubt es mir, sie liegt noch nicht im Wasser«, sagte Herr Dunker kopfschüttelnd und verließ das Zimmer.

Am Abend ging Frau Maria in die innere Stadt, um Besorgungen zu machen. Sie nahm Gretchen mit sich und besuchte verschiedene Läden, in denen sie zu kaufen pflegte. Sie traten eben aus einem Laden, als Gretchen plötzlich rief: »Mutter, sieh! Da steht Lotte am Bilderladen mit einem jungen Herrn am Arm.«

Wirklich, da stand das Mädel, frisch, rosig und lachend. Es war, als ob sich ein Druck löste vom Herzen der Frau Dunker, die Geschichte hatte ihr den ganzen Tag zu schaffen gemacht. Wenn sie doch das Mädchen bewegen könnte, zu ihrer Herrin zurückzugehen. Da – jetzt verabschiedete sich der junge Mann von ihr; sollte sie versuchen, mit ihr zu reden?

Lotte schlenderte langsam durch die Straße, blieb immer wieder stehen und sah sich an den Läden an, was ihr gefiel. Da rief Frau Dunker sie bei Namen. Schnell wandte sie sich um und wurde feuerrot.

»Lotte«, begann Frau Maria, »wie können Sie Ihre Herrschaft so in Angst und Schrecken setzen, überall hat man Sie gesucht.«

»Die Frau sollte auch Angst haben, sie sollte denken, ich läge im Wasser und sie wäre schuld.«

»Und Ihre arme Mutter?«

»Zu der gehe ich jetzt, dann sieht sie, daß ich lebe.«

»Gehen Sie zu Ihrer Herrschaft zurück, bitten Sie Frau Kramer um Verzeihung und bleiben Sie nicht wieder die ganze Nacht auf dem Tanzboden.«

»Nein, zu Frau Kramer geh' ich nicht wieder, wenn sie mich wieder haben will, kann sie mich von meiner Mutter holen.«

Es war nichts mit dem Mädchen zu machen, Ermahnungen fruchteten nichts.

So ging sie mit Gretchen ihrem Hause zu. Eben dachte sie daran, ob sie wohl Botschaft hinüberschicken möchte und Frau Kramer sagen lassen, daß sie sich nicht beunruhigen solle, da näherten sie sich dem Hause, aus dem ein wütendes Geschrei ertönte.

»Was ist nur geschehen«, rief Frau Dunker besorgt, »da scheint ein Unglück passiert zu sein!«

»Die Jungen sind heute allein zu Hause. Lieschen erzählte mir, daß die Eltern und sie eine Einladung hätten zu den reichen Vogts; sie hat eine kostbare, neue Toilette dazu bekommen.«

Frau Maria schwieg, dachte aber, daß sie nicht den Mut gehabt haben würde, am heutigen Abend zu einer Gesellschaft zu gehen.

»Ob wir hineingehen?« fragte sie sich bang.

Das Schreien hörte nicht auf, dazwischen klang es wie leises Wimmern. Entschlossen sagte sie: »Komm Gretchen, wir gehen, es mag werden, was da will, es ist Nächstenpflicht.«

Als sie eben die Haustür öffnen wollte, stürzte Reinhold heraus. »O, Frau Dunker, kommen Sie schnell. Edgar und Otto, die beide Karten miteinander spielten, haben sich furchtbar erzürnt. Edgar hat Otto mit einem Messer verwundet, das Blut stürzt aus der Wunde.«

»Lauf schnell zum Arzt, mein Junge, ich gehe zu den Brüdern.«

Sie eilte ins Zimmer. Da hockten die Jungen alle um den Blessierten, aber keiner war so vernünftig gewesen, Wasser zu holen und das Blut damit zu stillen. Edgar, ein großer 17jähriger Primaner, stand mit finsterem, verlegenem Gesicht am Tisch und entfernte sich schnell, als er Frau Dunker eintreten sah. Die Karten lagen zerstreut auf dem Tisch und auf dem Erdboden. Reste vom Abendbrot standen auf ungedecktem Tisch. Eine große Unordnung herrschte im Zimmer. Aber das alles war jetzt Nebensache.

»Schnell Wasser, Gretchen!« Das junge Mädchen hatte schon eine Wasserflasche entdeckt. Sie hatte irgendwo eine Schüssel stehen sehen und das Wasser hineingetan. In Ermangelung von Leinwand nahm Frau Dunker schnell ihr eigenes Taschentuch und wusch zunächst das Blut ab. Sie sah zu ihrem Schrecken die klaffende Wunde an der Stirne. Immer noch floß das Blut, der Junge war schon ganz blaß geworden von dem Verlust. Er sagte leise: »Ich danke Ihnen.« Es schien ihm eine Wohltat, das kühlende Wasser auf der blutenden Stirn.

»Etwas frisches Wasser, Gretchen«, bat Frau Maria.

»Wo ist die Küche?« fragte diese beklommen.

»Du weißt es doch von früher.«

»Ach ja, ich weiß es. Aber es ist so finster.«

»Ihr Jungen, rührt euch einmal«, sagte Frau Dunker zu den beiden, die noch immer da hockten und genau zusahen, was die Nachbarin mit dem verletzten Bruder machte.

Da sprangen sie auf und gingen mit Gretchen, zündeten das Gas in der Küche an und ließen frisches Wasser ein.

Kam denn der Doktor nicht bald? Die Wunde mußte genäht werden, es war höchste Zeit.

»Daß sich auch Lotte gerade heute ertränken mußte, sonst wäre die doch dagewesen«, sagte einer der Jungen zu Gretchen.

Da klingelte es. Dr. Werner trat ein. Er war Dunkers wohlbekannter Hausfreund. Nach Reinholds Beschreibungen hatte er sich gedacht, daß genäht werden müsse, und hatte alles Erforderliche dazu mitgebracht. Mit Marias geschicktem Beistand war die Sache bald in Ordnung, der Verband angebracht und der Junge auf die Chaiselongue gelegt.

»Eine schöne Überraschung für die Eltern«, murmelte der Doktor kopfschüttelnd. »Ich habe übrigens Reinhold geraten, die Mutter zu holen, es ist immerhin eine tiefe Wunde, es wird Zeit erfordern, eh' sie heilt. Eine Tollheit von den jungen Leuten, gleich die Messer zu ziehen. Wer ist denn der Missetäter?« Er sah die beiden Buben scharf an.

»Wir sind es gar nicht gewesen. Edgar, unser ältester Bruder, war so böse, weil Otto ihn beim Kartenspiel betrog. Nun ist er nach oben gegangen.«

»Das glaube ich«, sagte der Arzt. »Jetzt zieht er sich aus der Affäre.«

Es klingelte wieder. Eilige Schritte ließen sich vernehmen.

Frau Dunker erschrak. Es war das erstemal, daß sie in den Räumen des Nachbarhauses war, wie würde Frau Kramer ihr begegnen? Eine Dame in schwerer Seide rauschte herein.

»Doktor«, sagte sie, »was haben die bösen Buben gemacht?« Sie verneigte sich leicht gegen Frau Maria, die sich etwas in den Hintergrund zurückgezogen hatte, und sagte verlegen: »Sehr freundlich von Ihnen.«

Der Doktor gab ihr Verhaltensmaßregeln, da wahrscheinlich etwas Wundfieber dazukommen würde, und ging dann mit dem Versprechen, morgen wieder nachzusehen.

Auch Frau Maria glaubte jetzt entbehrt werden zu können und wollte sich still entfernen. Da plötzlich schien es wie eine Regung über Frau Kramer zu kommen. Sie warf sich leidenschaftlich der Nachbarin an den Hals und begann zu weinen.

»Ich habe so böse Kinder, ich habe ein böses Mädchen und mein Mann ...«

Weiter kam sie nicht. Frau Maria konnte nicht umhin, in herzlichem Mitgefühl zu sagen: »Ja, Sie haben es schwer, Sie arme Frau.«

»Heute war es zu bunt«, fuhr Frau Kramer fort. »Ich hoffte, mich nach dem Schrecken mit dem Mädchen etwas zu zerstreuen, denn wer weiß, welche Unannehmlichkeiten noch folgen werden; nun kommt dies. Frau Dunker, Sie sind besser als ich, das sehe ich ein, ich danke Ihnen.«

»Wenn ich Ihnen helfen kann, so tue ich es jederzeit gern, aber man will sich nicht aufdrängen. Übrigens kann ich Ihnen zum Trost sagen, daß Ihre Lotte sich nicht ertränkt hat, ich habe sie in der Stadt spazieren gehen sehen und selbst mit ihr gesprochen.«

»Gott sei Dank«, sagte Frau Kramer erleichtert. »Wo hält sie sich denn auf?« »Sie ist bei der Mutter. Sie müssen sehen, ob sie gewillt ist, wieder zu Ihnen zu kommen. Zugeredet habe ich ihr.«

»Sie ist ein sehr brauchbares Mädchen, aber leichtsinnig. Es wäre gut, wenn sie wiederkäme. Diese ist in diesem Jahr schon die sechste, sie taugen alle nichts.«

Frau Maria schwieg. Es war die höchste Zeit, daß sie nach Hause ging, obwohl Gretchen schon vorangeeilt war, und sie wußte, daß sie und Rieke den Tisch gedeckt und das Abendbrot fertig gemacht haben würden.

Sie ging zu Otto, der ziemlich ermattet von dem Blutverlust dalag, wünschte ihm gute Besserung, wies noch einmal den Dank der Frau Kramer mit bescheidenen Worten zurück und verließ das Nachbarhaus.

Als sie in ihre Behausung kam, saß die Familie bereits in der Eßstube um den großen runden Familientisch beisammen. Die Hängelampe brannte. Welch einen gemütlichen, behaglichen Eindruck machte dieser wohlgeordnete Haushalt!

»Nun, Mutter, es ist gut, daß du kommst. Wir wollten eben ohne dich anfangen, da Gretchen meinte, es könne noch lange währen. Komm, setze dich zu mir, Maria, du wirst müde sein.« Herr Dunker strich ihr liebevoll die Wangen.

»Müde nicht, aber erschüttert. Wenn ich mir dächte, meine Kinder betrügen sich so, wenn ich einmal nicht daheim bin.« Da streckte ihr Heinz treuherzig die Hand hin und sagte: »Mutter, das tun wir ja gar nicht.«

»Gretchen hat uns schon alles berichtet, wir wollen nicht weiter darüber sprechen. Gretchen, teile du heute die Suppe aus, Mutter soll jetzt ruhen.« Es ging still und ernst zu. Die Ereignisse drüben ließen bei allen nicht die Fröhlichkeit aufkommen, die sonst im Familienkreise zu herrschen pflegte.

Später am Abend, als die Eltern allein über die Vorkommnisse des Tages sprachen, meinte Maria: »Es ist merkwürdig, daß Herr Kramer nie zu sehen ist, man hätte denken sollen, daß er auch nach Hause geeilt wäre auf die Nachricht von der Verwundung des Sohnes.«

»Er hat es wahrscheinlich nicht erfahren. Der Kleine wird wohl die Mutter gerufen haben. Er wird wohl mit den Herren im anderen Zimmer am Kartentisch gesessen haben. Es heißt überhaupt in der Stadt, er sei dem Spiel ergeben. Ich fürchte, es nimmt hier in der Nachbarschaft einmal kein gutes Ende.«

»Der Mann hat etwas Scheues«, meinte Frau Dunker. »Ich bin ihm in allen Jahren zwar erst selten begegnet, aber ich habe noch nie Gelegenheit gehabt, ihm ins Auge zu sehen.«

»Er kann uns nicht gerade ansehen, das hat seine Gründe. Doch laß' gut sein, du hast deine Pflicht heute getan, und vielleicht gewinnst du die Frau mit der Zeit.«

»Ich glaube, sie ist nicht glücklich mit ihrem Mann. Heute ist es mir zum Bewußtsein gekommen. Es war immer, als wollte sie noch etwas sagen, aber als sei ihr die Zunge gebannt«, sagte Frau Dunker.

»Es ist spät, Maria, laß uns schlafen gehen. In acht Tagen reise ich.«

»Darauf freue ich mich. Es ist hohe Zeit, daß du aus allem einmal herauskommst, dann geht's mit frischen Kräften vorwärts.«


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