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XXXVIII

Ezard war an jenem Abend in unserem Garten umhergeirrt; Liebe und Eifersucht hatten ihn wohl dahin getrieben, wo er ihr nah war, ohne sie doch in ihren Entschlüssen zu stören oder überhaupt zu beeinflussen. Sie war nun wieder sein, kalt und bleich und seelenlos war sie doch getreulich wieder zu ihm gekommen. Den Kopf an ihre Brust geschmiegt saß er nun neben ihr stundenlang, und niemandem fiel es ein, ihn von da entfernen zu wollen. Zuweilen richtete er sich auf und betrachtete sie lange und schüttelte traurig den Kopf, als ob er es immer noch nicht fassen könnte. Es war auch wohl Ursache für einen, der von Anfang an alles mit angesehen und erlebt hatte, in eine Vergessenheit aller anderen Dinge zu verfallen und einzig die Frage auf den Lippen zu behalten: ist es möglich? ist es möglich?

Den Urgroßvater, der an jenem Abend auf die Töne der Geige gewartet hatte, die er nie im Leben mehr hören sollte, hatte das Ereignis völlig unvorbereitet und wehrlos überrascht. Man hätte ihm vielleicht sagen können, daß ein Unfall an Galeidens Tode schuld sei, um ihm den unerhörten Schmerz zu ersparen, daß sein vergötterter Liebling sich so versündigt habe, wie der Selbstmörder es seiner Meinung zufolge tat; aber abgesehen davon, daß keine Zeit und Besinnung geblieben wäre, uns darüber zu einigen, schien die Klarheit und Würde seiner Person auch den frömmsten Betrug zu verbieten. Obwohl er nun bereits in der Mitte der neunziger Jahre stand, hatte seine Natur ihre zähe Eigenart noch so völlig behalten, daß er sich bei dieser erschütternden Gelegenheit gerade so betrug, wie man es aus seinem Betragen in früheren Zeiten Grad für Grad hätte bestimmen müssen. Seine blinde Liebe trug es völlig über alle seine Grundsätze und festen Überzeugungen davon. Nicht den schonendsten Tadel über Galeiden hätte er ertragen; er hatte sie sich bald zu einer Heiligen ausstaffiert, auf welchen Titel sie gewiß keinen Anspruch erhoben hätte und nach Recht und Billigkeit auch schwerlich hätte erheben dürfen. Aber von der Höhe seiner überschwenglichen Hoffnungen war er doch allzu jählings herabgestürzt. Mit einem Male sanken nun seine Kräfte zusammen, wie jener Mann aus dem Märchen, der, ohne es zu wissen, hundert Jahre lang in der Welt draußen gewesen ist, plötzlich beim Anblick der Gräber seiner Geliebten in ein Häuflein Asche zerfällt. Wenige Monate nach Galeidens Tode starb er bewußt und gefaßt und erheischte noch im letzten Augenblick die Bewunderung, die man einem ganzen, voll ausgeprägten Menschen so gerne darbringt. In den letzten Tagen erteilte er mir, da er nun bald nicht mehr werde für mich sorgen können, noch viele Verhaltungsmaßregeln, die sich bis auf einzelnes erstreckten, wie: was ich essen und nicht essen sollte und wie ich mich Sommers und Winters am angemessensten kleiden müßte, um vor Erkältungen geschützt zu sein. Wie er sich häufig in seinen Gedanken verlor, daß er Vergangenes und Gegenwärtiges durcheinander mengte, kam es dabei auch einmal vor, daß er mich bat, darauf zu achten, daß Galeide niemals in einer ungeheizten Kirche Konzerte gäbe, und daß sie, wenn sie nun doch Ezard heiratete und etwa ein Kind bekäme, sich nicht mit Üben auf der Geige zu sehr anstrengte und vielleicht schadete; bis ihm mitten im Satze die Erinnerung der Wirklichkeit kam, und er abbrach, ehe er ganz ausgesprochen hatte. Lange saßen wir schweigend in dunklen Gedanken.

»Armer Junge!« sagte er häufig, wenn ich an seinem Bett saß, und er mich mit den erlöschenden Augen betrachtete, vor denen ein grenzenloses Meer der Erinnerung auf und ab wogte. Ja, wie fühlte ich mich arm und verlassen!

Eine ungewöhnliche, allgemeine Teilnahme gab sich bei seinem Tode kund. Obwohl er abseits in eigensinniger Gleichgültigkeit gegen das Treiben in der Stadt gelebt hatte, kannte man ihn und verehrte sein Alter und seine Seelenkraft, die so viele Schicksalsschläge ertragen hatte. Unzählige folgten in ernster Betrachtung ehrfürchtig seinem Sarge zum Kirchhof; nur ein einziger weinte unablässig wie ein Kind, das war ich. Denn ich hatte nicht nur einen des Lebens ersättigten Greis mit dem weisen Willen der Natur übereinstimmend sich von der Erde weg einer unbekannten Ewigkeit zuwenden sehen, sondern mir starb in ihm Vater und Mutter mit Haus und Familie. Mit keinem war ich so oft uneins gewesen im Leben, aber keinen von allen habe ich so bitterlich vermißt. Was würde ich geben, wenn er mir auf einmal über die Schulter sähe und sagte: »Was schreibst du da, du Kind, mit deinen dicken, undeutlichen Buchstaben? Du verdirbst dir die Augen und denen, die sie lesen sollen. Ihr Jungen habt keine tüchtigen Handschriften mehr. Nun, lies es mir vor, aber langsam und klar, daß ich dich auch verstehe, du törichter Junge!« - »Ja, Urgroßvater. Aber du hast doch selbst das Törichte lieber als das Tüchtige.« - »Neckst du deinen Urgroßvater, du Guckindiewelt? Ja, es ist wahr, ich sollte noch um vieles besser und einsichtiger werden. Gott wird mir die Zeit und die Kraft dazu geben, daß ich es lerne.«

Nachdem der Urgroßvater gestorben war, zog Ezard mit Harreken in unser Haus. Eva hatte mit ihrem Kinde, der Heileke, unsere Stadt verlassen, um in der Nähe ihrer Familie zu leben, nicht so sehr deswegen, weil sie sich von uns fort zu jenen hingesehnt hätte, als weil sie sich aus dem Bannkreise der Ursleuen entfernen zu sollen glaubte. Anna Elisabeth vorzüglich hatte ihr dazu geraten. Es ist nun einmal so, hatte sie gesagt, die Olethurms und die Ursleuen tun nicht gut zusammen; ob Eva es erleben wollte, daß aus ihrem Kinde und Harreken noch ein Paar würde? Man müsse dem einmal ein Ende machen, das Schicksal habe deutlich genug gesprochen. Da ging Eva; ich glaube, sie tat es auch deshalb, weil sie nicht in Ezards Nähe bleiben wollte, nun beide, er und sie, frei waren. Wir blieben immer im Briefwechsel miteinander, aber gesehen habe ich sie nicht mehr, weder sie noch ihr Kind, die weiße Heileke.

Die Stellung, die wir in unserer Vaterstadt einnahmen, war so, wie wir es nur je hatten wünschen können. Man begegnete uns mit Hochachtung und rechnete es uns nicht an, daß wir uns von dem Verkehr mit anderen Menschen so viel wie möglich entfernt hielten. Nach dem Vorbilde seines Vaters hatte Ezard den Teil seines Vermögens, der in den Wasserwerken war, der Stadt geschenkt, so daß sie sich nur dem Norweger gegenüber ihrer Verpflichtungen zu entledigen hatte. Daß die Anlage sich als tüchtig und sehr brauchbar erwies, sah man fast als ein Verdienst der Ursleuen an, was wenigstens insofern gerechtfertigt war, als in den schlechten Zeiten auch die Vorwürfe und Anklagen auf sie gefallen waren. Ezards übriges Vermögen war zu der Zeit, als Galeide und der Urgroßvater starben, nicht bedeutend; aber durch seine unermüdliche Tätigkeit als Advokat, die er nicht aufgab, obwohl ihm ein ehrenvolles städtisches Amt angetragen wurde, war es ihm möglich, in jedem Jahre beträchtliche Summen zurücklegen zu können. Das war das einzige, wofür er noch mit Anteil lebte. Es sei sein festes Bestreben, sagte er öfters, seinem Sohne ein stattliches Vermögen zu hinterlassen. Nicht etwa, daß er ihm die Möglichkeit zum Müßiggang damit verschaffen wolle, er hoffe im Gegenteil durch das Beispiel Trieb und Lust zur Tätigkeit in ihm rege zu halten. Aber er sei der Meinung, daß sich nur auf dem Grunde gesicherten Besitzes ein dauerhaftes und gediegenes Glück entwickeln könne. Das beste wäre, wenn dieser Besitz in Grund und Boden bestehe, dem der Besitzer mit Mühe und Arbeit den Ertrag selbst abzuringen habe. Stets bedauerte er, daß er nicht als ein Landmann zwischen seinen Feldern leben könne. Er wisse übrigens wohl, daß vieles Geld dem Menschen häufig zum Unglück ausschlage und ihn herunterbringe. Aber er könne nicht ins Unabsehbare für seinen Sohn vorausbauen; er wolle ihm geben, was er geben könne: Ausbildung der nützlichen und schönen Fähigkeiten, die die Natur ihm verliehen habe, und die Mittel, sie tüchtig im Leben zu verwenden.

Demgemäß wuchs Harre auf. Er war weichen Gemüts und zur Träumerei geneigt; aber es kam ihm zu statten, daß ein Tropfen fremden Blutes in ihm war, wie ich schon öfter gesagt habe; denn dem war es zu danken, daß er mehr Sinn für Ordnung, Maß und Selbstbeschränkung hatte, als die Natur seinen Vorfahren von der Seite des Vaters gegeben hatte. Diese Eigenschaften zu entwickeln gaben wir uns sonderlich Mühe, und je älter er wurde, desto mehr verschmolzen sich die beiden Seiten seines Wesens zu einer guten Harmonie, daß man ihm wohl zutrauen durfte, er würde sich nie von einem Wege abbringen lassen, den er einmal eingeschlagen hätte, und keinen anderen einschlagen als einen, der, wenn auch nicht oft betreten, doch mit Sicherheit zu einem schönen Ziele führte. Man darf ihm zutrauen, daß er, wenn er auch nicht nach Wolken und Sternen stürmen wird, sich doch sein Ziel nicht niedrig stecken, und daß er es zuletzt durch Ausdauer, Vorsicht und Kraft erreichen wird.

Ezard war fünfzig Jahre alt, als er an einer bösartig verlaufenden Erkältungskrankheit, die er sich durch seine Vorliebe, bei Wind und Wetter umherzuschweifen, zugezogen hatte, starb.

Er schien, als er tot vor mir dalag, verjüngt; seine Schönheit war erhabener als im Leben, da die warme menschliche Seele sie bewegt hatte. Was war es nur gewesen, das alle Menschen zu ihm hinzog und an ihn fesselte? Neben seinen guten und schönen Taten standen solche, die man durchaus tadeln, ja frevelhaft nennen mußte. Aber das bestimmt auch nicht, was wir für einen Menschen fühlen. Die Natur stellt ihn vor uns hin und weist ihn uns als ihre Schöpfung, die uns gefallen oder mißfallen muß. Es ließen sich viele Bücher anfüllen mit Erklärungen, warum wir manche berühmte Statue der Griechen schön finden müssen, aber das ist alles nichts; wenn die Bücher alle verbrennten, und keiner mehr etwas von ihrem Inhalt wüßte, so würden doch die Menschen nach wie vor hingerissen vor jenen Schöpfungen stehen und bewundern. Es bleibt ein Geheimnis dabei, warum dieser Mensch so geliebt wird, und ein anderer, der ihm in allen Eigenschaften zu gleichen scheint, so wenig. Man ist ein Liebling der Menschen, wenn man ein Liebling der Natur und in einer glücklichen Sternenstunde von ihr geschaffen ist. Wer dürfte verwerfen, was sie in ihrer Weisheit gesegnet hat? Wir feiern in einem solchen Menschen nicht sein Verdienst, denn er hat keines, sondern (obwohl wir uns dessen nicht immer bewußt sind) die Macht, die ihn schuf, nenne man sie nun, mit welchem Namen man wolle. Wie immer ihren Lieblingen hatte die Natur Ezard Glück und Unglück mit beiden gleichverteilenden Händen gereicht und nahm ihn früh von der Erde weg; denn sie will, daß das, was einmal vollendet dastand, nicht verfalle, sondern wie die Helden des Altertums in jungen Jahren unter die Sterne versetzt wurden, wo sie schön und kräftig ihrer Unsterblichkeit sich freuen, so läßt sie das Edelste, was sie schafft, sterben, damit die irdische Vergänglichkeit es nicht antastet. Als ein siegreicher Überwinder lag er auf der Bahre, den die Himmlischen zu sich rufen, weil seine Arbeit auf Erden getan ist. An ihn zu denken erweicht mich nicht, sondern kräftigt und stärkt mich. Dieser hätte ich sein mögen! Auch ihn gekannt zu haben ist gut; ihn geliebt zu haben erachte ich für meine beste Erinnerung.

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