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XVIII

Diejenigen, welche mit ihrer Habe den äußerlichen Zierat der Welt einbüßen, lernen gerade dadurch oft kennen, was das eigentlich Wertvolle des Lebens ist: nämlich die treue Liebe der Nächsten, welche dann Gelegenheit findet, sich herrlich zu bewähren, den nächtlichen Gestirnen gleich, die desto goldiger blinken, je mehr die Nacht sich verdunkelt. Indessen sah mein Vater zugleich mit den äußeren Stützen seines Lebens diejenigen sinken, auf die sein Herz gebaut hatte. Das war wohl zu einem Teile seine Schuld, indem er nicht den Mut hatte, nach diesen Stützen zu greifen, nämlich die Treue seiner Kinder und Freunde anzurufen. Wer aber will sich vermessen zu sagen, er würde anders gehandelt haben, wenn er alles wüßte und alles empfinden könnte, was er wußte und empfand. In seiner Not klammerte er sich an die jammervolle Hoffnung, die innerlichen Güter durch die irdischen erhalten zu können, die ihm doch auch gerade jetzt entwichen. Wie ein Irrlicht tanzte das Gespenst des Reichtums vor ihm her und lockte ihn verderblichen Regionen zu. Bald dies, bald jenes schleppte er Galeiden herbei, um sie zu erfreuen, bald eine seltene Blume im Winter, bald einen schön gefaßten, funkelnden Edelstein, und das arme Kind quälte sich zum Dank und zum Lächeln, ohne verhindern zu können, daß er das Erzwungene ihrer Freude empfand. Es war ein Schauspiel zum Erbarmen. Obwohl nun mein Vater die Kraft nicht hatte, sein Betragen dem Stande der Dinge in anderer, wie viele denken mögen, würdigerer Weise anzupassen, so ermannte er sich doch zu dem Entschlusse, unsere Heimat auf längere Zeit zu verlassen. Die Lage seines Geschäfts veranlaßte eine Reise nach drüben - so drückte man sich in unseren meergewohnten Hansastädten aus, wenn man von Amerika spricht. Er wollte noch einen Versuch, eine letzte Anstrengung machen, den Untergang seines Hauses abzuwenden, oder er mochte denken, den fürchterlichen Schiffbruch am Steuer arbeitend eher ertragen zu können.

Als er uns zuerst von seiner Absicht sprach, ohne aber die sehr bedrohliche Lage des Geschäfts zu erwähnen, beobachtete er Galeiden mit selbstquälerischer Aufmerksamkeit, um den Eindruck wahrzunehmen, den die Nachricht auf sie mache. Sie sah ihn wohl traurig an, aber es war nicht der schlichte Ausdruck von Schmerz eines Kindes, das seinen Vater entbehren soll, der sich dreist in Klagen kundgibt; denn für sie bedeutete seine Abwesenheit eine Erleichterung, ja, sie ermöglichte ihr, Ezard, der ihr das Höchste auf der Welt geworden war, häufiger als sonst zu sehen. Aber gerade dies Bewußtsein, daß sie in ihrem wilden Sinne als ein Glück ansah, was ihr unschuldiges Kinderherz gern als Leid empfunden hätte, verursachte ihr eine Pein, dem Schwerte vergleichbar, das die Brust des verworfenen Liebespaares in Dantes Gedichte durchbohrt und ihrer verruchten Seligkeit ein unablässiges Weh gesellt. Indessen war mein Vater in seiner Liebe zu Galeiden zu schwach, um die weichere Abschiedsstimmung nicht zu genießen. Er ließ sie nicht von seiner Seite, bezeigte aber auch mir innigere Zärtlichkeit, als er sonst zu tun pflegte. Da der Urgroßvater den Entschluß zu dieser Reise als ein mutiges Durchbrechen des schwermutvollen Dahinbrütens der letzten Jahre begrüßte und bewunderte, lebten wir in gegenseitiger Zufriedenheit miteinander, und die letzten Tage, die mein Vater bei uns zubrachte, sind mir als gute und versöhnende im Sinne geblieben. Es gelang sogar den Überredungskünsten des Urgroßvaters eines Abends, meinen Vater zum Singen zu bewegen, so daß er uns einige Lieder vortrug, was er seit Jahren nicht getan hatte. Er hatte eine nicht allzuhohe Tenorstimme von weichem Klange und durch edlen Schmelz auf das Herz wirkend, dazu sang er nach alter schlichter Schule und brachte Kraft und Ausdruck weniger durch künstliches Heben und Senken der Stimme hervor, als durch das seelische Mitempfinden, welches alle Töne hörbar durchdrang. Ich begleitete den Singenden auf dem Klavier und konnte von meinem Platze aus den Urgroßvater sehen, welcher in einer Sofaecke saß und horchte und sann, während Galeide, in der Fensterbank lehnend, in den tiefen, dunklen Garten hinausblickte. Mein Vater sang neben andern ein altmodisches Lied, welches beginnt: Möchte wissen, wenn ich bald begraben werde sein; des Inhalts, daß einer in der Ahnung eines baldigen Todes die wehmütige Frage stellt, ob die einzige, die er auf Erden liebt, wohl seinen Hügel in getreuer Erinnerung zu besuchen kommen wird. Ein freudiger Aufschwung der Melodie begleitet nach vorhergehenden Mollklängen die Schlußworte, in denen der Zweifelnde sich ihres treuen Gedenkens zuversichtlich getröstet. Als mein Vater dieses Lied gesungen hatte, beugte sich Galeide aus dem Fenster vor und bat ihn, es zu wiederholen, blieb auch in dieser Stellung sitzen, während er ihrem Wunsche willfahrte, und aus ihrem weichen Gesichte blickten ihre Augen so starr nach uns hinüber, daß man sie für ein Bild von Wachs hätte halten können.

An einem der Tage, die mein Vater als die letzten seiner Anwesenheit in Europa bezeichnet hatte, waren wir alle noch einmal bei Onkel Harre versammelt. Von uns allen wußte dieser am besten von dem geschäftlichen Unheil Bescheid, das hereinzubrechen drohte, und so war er voll wahrhafter Besorgnis, ja voll Angst, denn er vermochte meinen Vater nicht zu retten, fühlte sich aber doch zu eng mit uns verbunden, um nicht unser Glück als das seinige zu empfinden. Er verbarg seine Stimmung hinter einem aufgeregten Wesen, in das seine natürliche Lebhaftigkeit leicht überging; doch sah man ihn plötzlich auf Augenblicke in ein Brüten verfallen und starr vor sich hinsehen, wobei er die Haltung und das Gesicht eines alten Mannes zeigte. Dann schien er sich zu besinnen, warf sein dichtes, grauweißes Haar zurück und sprang auf, um mit einem von uns eine muntere Unterhaltung anzuknüpfen. Auch mein Vater gab sich Mühe, gefaßt und heiter zu erscheinen, verkehrte sogar in zwar ernster, aber gütiger Weise mit Ezard, was ich ihm besonders hoch anrechnete, der aber nicht ohne innerliche Pein zu ertragen schien. Vor allen dauerte mich die unglückliche Lucile, welcher es zu Mute sein mochte, als büße sie nun ihren letzten Hort ein, um allein unter feindlichen Gewalten zurückzubleiben; sie hielt sich immer an meines Vaters Seite und schmiegte weich und hingebend ihren dunklen Kopf an seine Schulter. Als wir uns spät am Abend trennten, nahm mein Vater von Onkel Harre Abschied; die Brüder warfen sich einander in die Arme und schluchzten laut; wir andern wandten uns erschüttert ab und bemühten uns, unsere eigene Rührung zu unterdrücken. Beim Gutenachtsagen küßte mein Vater uns mehrere Male schnell hintereinander, besonders Galeiden preßte er an sich, als wollte er ein Stück von ihr behalten und mitnehmen. Wir waren aber zu übermüde, um etwas Ungewöhnliches aus seinem Benehmen zu schließen. Indessen erwachte ich am Morgen, als es etwa vier Uhr sein mochte, aus wüsten Träumen, und da ich mich besinnen konnte, hörte ich Galeiden aus offenem Fenster: Papa! Papa! rufen. Ich kleidete mich in Hast an, um zu sehen, was es gebe, und eilte in den Garten, der ganz fahlgrau dalag; es herrschte die Kühle, die dem Sonnenaufgang voraufzugehen pflegt, und mich fröstelte. Galeide, die aus dem Fenster lehnte, schien nicht verwundert, mich zu sehen, und sagte: »Er ist fort! Geh du ihm nach, ich kann ja nicht.« Bei diesen Worten brach sie in Tränen aus und warf ihren Kopf auf die Fensterbank, daß die gelösten Haare nach vorn über fielen.

Es war uns nun wohl ersichtlich, daß mein Vater sich und mehr noch uns die Pein des Abschiednehmens ersparen wollte, aber wir beschlossen doch, zur Zeit der Abfahrt des Dampfschiffes, mit dem er reisen mußte, an den Hafen zu gehen, um ihm vom Lande aus noch einen Gruß zuzuwinken. Das führten wir auch aus, und da wir seiner gewahr wurden, schien er uns gefaßter zu sein, als er am Abend vorher gewesen war. Er nickte mir ernsthaft und milde zu, als wollte er mir empfehlen alles, was nun komme, mit männlicher Haltung zu ertragen, ja, als vertraue er mir nicht nur Galeiden, sondern auch sich und sein Gedächtnis an. Als er aber den Blick auf meine Schwester wandte, nahm sein Gesicht einen ganz anderen Ausdruck an, den ich nicht beschreiben kann, so voll Traurigkeit und gelinden Vorwurfs. Galeide erwiderte seinen Blick unbeweglich, solange er noch sichtbar war auf dem langsam weichenden Schiffe; sie sah aus, wie ich sie noch niemals gesehen hatte, mehr einer steinernen Sphinx als einem lebendigen Menschen gleich, wie wenn sich ihre Seele im Busen entseelt hätte, um das Unerträgliche tragen zu können.

Manchem mag es unglaublich erscheinen, daß sie ihrem Vater und Lucile zuliebe die Leidenschaft nicht von sich tun konnte, die die beiden ihr teuren Wesen so elend machte, ja, daß sie nicht einmal den Versuch dazu machte, nicht einmal in diesem Augenblicke sich das Herz zu dem Vorsatz faßte, den lassen zu wollen, den Himmel und Erde ihr versagten. Auch will ich diesen Frevel ihres gewalttätigen Gemüts nicht beschönigen, ich muß aber sagen, daß es mir zuweilen ihrer selbst würdiger erschien, daß sie sich mit sehenden Augen und bewußten Willens in den Abgrund warf. Das verschmähte sie, einer gerührten Stimmung des Augenblicks sich hinzugeben, und die Wollust, die Bittenden und Leidenden durch ein tröstliches Versprechen wenn auch nur vorübergehend beglücken zu können, verlockte sie nie dazu, sich selbst zu betrügen; beständig wußte sie, daß sie alles würde tun und alles leiden können, außer an Ezard vorüberzugehen.

Als das Schiff zu einem tanzenden Punkte vor unseren Augen geworden war, kehrten wir uns vom Wasser ab, gingen noch eine Weile schweigend nebeneinander her und trennten uns dann, Galeide, wie ich mich nicht zurückhalten konnte zu denken, um Ezard zu begegnen.

Es begann für uns nun ein eigenartiges Leben in dem großen Hause allein; denn der Urgroßvater bewohnte den obersten Stock, der kleiner war als die übrigen, wo er sich einbilden konnte, ganz für sich zu sein, wie es seinem eigensinnigen Selbständigkeitssinne zusagte. Galeide und ich belustigten uns zuerst damit, alle Türen zu öffnen und aus einem Zimmer ins andere zu gehen, um uns dadurch unsere Einsamkeit recht zu Gemüte zu führen. Denn als wir klein waren, hatte uns als Schönstes und Wünschenswertestes vorgeschwebt, einmal ganz und gar allein zu Hause zu sein, womit wir freilich durchaus keinen besonderen Zweck verbanden. Es liegt aber für kindliche Gemüter ein großer Reiz in leeren Räumen und der Ausmalung, was man daselbst am Tanzen, Springen, Falschmünzen und Unfugtreiben im weitesten Sinne des Wortes vornehmen könnte. Für diesen Reiz waren Galeide und ich damals noch gar nicht unempfänglich. Indessen hatte es doch auch seine Schrecken, zumal wenn wir uns vergegenwärtigten, wie wir vor Jahren als Kinder in diesen licht- und lustvollen Räumen unter den Augen angebeteter, jugendlicher Eltern umhergejubelt hatten. Der Urgroßvater entfaltete eine liebenswürdige Laune; Gott weiß, wie er sich mit allem drohenden Elend, wovon er doch einige Kenntnis hatte, abzufinden wußte. Er bezeigte große Lust zur Geselligkeit und setzte es durch, daß der Rheinländer häufig eingeladen wurde, mit dem er sich über die modernen Strömungen unterhielt. Obwohl von uns allen bei weitem der älteste, ging er am feurigsten auf diese merkwürdigen Dinge ein, wobei jeder, der ihn kannte, sich freilich hinzudachte, daß sie ihm nur in seinem Kopfe gefielen, wo bekanntlich die Gedanken leicht beieinander wohnen. Ich hatte damals die vertrackte Gewohnheit, immer gerade das herabzusetzen, was andere leidenschaftlich erhoben; denn mir schien nichts einer ungemischten Begeisterung wert, und so gereichte mir jede, die ich bei anderen sich äußern sah, zum Widerwillen und Gelächter. In Galeiden war ein ziemlich planloses Gemenge von Altem und Neuem, so daß sie bald eine gepuderte Rokokodame, bald eine Amazone der französischen Revolutionszeit oder auch eine Walküre aus nordischem Heidentum hätte sein können, was anderen vielleicht reizvoll und wunderbar erschien, mich aber aufs empfindlichste erzürnte, indem man nie einen festen Punkt gewann, von dem aus man sie widerlegen und tadeln konnte. Sie unterhielt sich aber nicht gerne allzulange von wissenschaftlichen oder sozialen Dingen, denn sie war nicht so emsigen und strebsamen Geistes wie der Urgroßvater oder zum Beispiel Lucile, welche beide beständig etwas zu erfahren und zu lernen suchten. (Freilich ließen sie sich trotzdem nicht gerade willig belehren.) Deswegen forderte mich Galeide häufig auf, zu spielen, und setzte sich zum Zuhören in den Schaukelstuhl oder in die Fensterbank, welches ihre Lieblingsplätze waren, und erschien dann so völlig entrückt und abwesend, daß ihr Gesicht einem Hause mit geschlossenen Läden glich, dessen Bewohner alle verreist oder gestorben sind.

Die Lebensweise brachte trotz unserer Abgeschiedenheit eine ziemliche Unruhe und Aufgeregtheit mit sich, was freilich, soviel Galeiden anging, noch andern Dingen zuzuschreiben war, die wir aber nur an der Wirkung bemerken konnten, die sie auf ihr Wesen hervorbrachten. Ezard nämlich war nun auf einmal wieder viel häufiger zu Hause, einzig aus dem Grunde, was uns erst viel später klar wurde, weil er Galeiden oft zu sehen hoffen konnte. Man sah sie zwar selten zusammen, aber wenn man sie sah, so hatten sie meiner Empfindung nach etwas wie einen Mantel von Glut um sich herum, als wäre ein brennendes Feuer in ihrem Innern. Häufig hatte Galeide den kleinen Harre den ganzen Tag bei sich und spielte auf die niedlichste Art mit ihm. Dies war ein Umstand, der stets für sie einnahm, daß die Kinder zu ihr zu halten pflegten, und es war allerdings ein merkwürdiges Schauspiel, wie die beiden stundenlang zusammen auf einem kleinen Sofa sitzen konnten und Bilder besehen, mit glückseligen Gesichtern und dem gleichen unschuldsvollen und zutraulichen Ausdruck darin. Sie plauderten dabei in freundschaftlicher Weise, indem der kleine Harre über alle Dinge zwischen Himmel und Erde Fragen stellte, Galeidens versuchsweise gegebene Antworten genau zergliederte und prüfte und entweder selbst richtig stellte oder ihr nochmals zu besserer Erledigung vorlegte. Er fragte zum Beispiel, warum seine Mutter ihn weniger liebe als seine Schwester, ob man die kleinen Jungen stets weniger liebe als die Mädchen, oder ob die Väter jene liebten und die Mütter diese, warum man sich nicht auslesen könne, was für Kinder man haben wollte, und dergleichen mehr, was alles zu beantworten Galeiden nicht geringe Mühe verursachte, da sie meinen Rat, ihm jegliches Gefrage einmal zu verbieten, durchaus nicht annehmen wollte. Ich hatte übrigens den kleinen Mann lieb, nur wußte ich nicht, wie ich ihn anfassen, noch was ich mit ihm sprechen sollte.

Es gehen mir viele Erinnerungen aus jener Zeit durch den Kopf, die ich aber nicht aufschreiben kann, denn sie gleichen den Fledermäusen, die blitzschnell aus dem Dunkel aufzucken und wieder darin untertauchen, eh man sie erfassen kann. Aber einer Nacht entsinne ich mich mit Deutlichkeit, wo der Mond so hell in meine Kammer schien, daß ich unter allerlei Träumen nur leicht schlief und von einem Geräusch geweckt wurde. Es schienen mir Schritte im Musiksaal zu sein, und ich gestehe, daß mir sehr unheimlich zu Mute war, und daß ich gern liegen geblieben wäre; doch warf ich einen Mantel über und entschloß mich hineinzugehen, um mich nicht vor mir selbst schämen zu müssen. Als ich in den Saal kam, sah ich mitten darin Galeiden stehen im langen, weißen Nachtkleide, schaurig und seltsam anzusehen in dem weiten, fahl erleuchteten Gemach, wo die hohen Wandspiegel ihre bewegungslose Gestalt vielfach widerspiegelten. Wir erschraken auch beide, als wir unser ansichtig wurden, und ich vermochte kaum zu fragen: »Was tust du hier, Galeide?« Worauf sie mich noch immer starr ansah und erwiderte, es sei ihr gewesen, als habe sie unseren Vater singen hören, und zwar habe sie deutlich die Worte verstanden: Möchte wissen, wenn ich bald begraben werde sein. So deutlich, sagte sie, habe sie den schmelzenden Klang seiner Stimme erkannt, daß sie überzeugt gewesen sei, er müsse hier im Zimmer sein, obgleich ihr klar bewußt geblieben sei, daß er weit fort, und daß es mitten in der Nacht war. Als sie nun in den leeren, dunklen Saal getreten sei, habe sie sich entsetzt, und die Kerze sei ihr aus der Hand gefallen; die lag auch erloschen neben ihr am Boden. Diese Erzählung berührte mich so eigentümlich, daß ich mich nicht ohne ein leichtes Erzittern auf den Klavierschemel setzte, neben dem ich stand; ich sagte zu Galeiden: »Es hat dir gewiß geträumt?« - »Ja,« erwiderte sie, »das mag wohl sein; aber es war schaurig.« Indem wir uns nun genauer betrachteten, fiel uns jetzt erst der seltsame Aufzug auf, in dem wir erschienen waren, und wir huben herzlich an zu lachen, womit denn der Bann gebrochen war, und jeder von uns kehrte leise in sein Zimmer zurück.

Es fiel mir nachträglich auf, wie verwunderlich es im Grunde sei, daß Galeide, die sonst im Dunkeln furchtsam war wie ein Vogel, sich allein um Mitternacht in den Saal gewagt hatte, und es stiegen mir allerhand Gedanken auf, die ich aber nicht zu äußern wagte. Doch machte ich ihr die Bemerkung, wie ich mich darüber wunderte, worauf ein feines Rot in ihre Wangen stieg, aber gleich wieder verschwand, als ob sie vermöge einer ganz ungemeinen Willenskraft den raschen Blutstrom bändigen könnte. Sie sah mir aber ruhig ins Gesicht und sagte: »Es kommt eben darauf an, daß eine andere Empfindung stark genug ist, die Furcht zu überwiegen.«

Ja, dachte ich, davon hängt alles ab, welche Leidenschaft die stärkste ist im Menschen. Es haben zwar nicht alle so ausschlaggebende Leidenschaften, daß sie jeden anderen Trieb unter sich beugen; wer sie aber hat, den können sie zum Helden oder zum Schurken machen, je nachdem das Ziel höher oder niederer ist, auf das sie losstürmen in ihrer vernichtenden Wildheit.

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