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XXII

Wir hatten nun wohl gedacht, es würden klägliche Briefe von Galeiden kommen, aus denen das Heimweh herausquellen würde wie goldgelbes Harz aus einer Tanne. Gott bewahre! Sie waren meist so eilig geschrieben, daß man Mühe hatte sie zu entziffern, und da war bald die Rede von dem blauen Genfersee (denn nach Genf hatte sie sich begeben) und den weißen Schneebergen, von ihren Abenteuern beim Französischreden, von den neuen Bekanntschaften, von ihrer Tätigkeit und vielen Arbeit, und alles in einem so heiteren Tone, daß man oft glaubte, sie zwischendurch lachen zu hören. Daraus schöpfte der Urgroßvater sogleich die Hoffnung, daß sie darauf und daran sei, Ezard zu vergessen oder mindestens zu verschmerzen, und da er daneben überzeugt war, daß ein jeder, der sie kenne, sich in sie verlieben müsse, formte er geschwind die prächtigsten Heiratspläne. Mir leuchtete das wenig ein; denn ich kannte den erbitterten Eigensinn, den Galeide bei aller ihrer Sanftmut besaß, und daß sie von Ezard niemals lassen würde, stand mir fest wie eine ägyptische Pyramide. Ich verschwieg aber meine Überzeugung dem Urgroßvater und ließ ihn sich an seinen Luftschlössern vergnügen.

Mir verging damals die Zeit schnell und leicht, was ich Anna Elisabeth zu verdanken hatte, die mir täglich neu und reizend erschien, so daß ich mich des Abends darauf freute, sie am folgenden Morgen wiederzusehen und des Morgens, ihr mehrere Male am Tage gegenübersitzen zu dürfen oder sie ihre lange, zierliche Schleppe anmutig durch unsere Gemächer schleifen zu sehen. Zuweilen stand es ganz fest in mir, daß ich sie liebte und sie heiraten müsse. Aber dann kam mir wieder in den Sinn, was sie über die Eigenart unserer Familien gesagt hatte, und daß wir einander doch nicht glücklich machen könnten. Ich vertraute alle meine Zweifel Eva an, welche mir verständig und wichtig zuhörte und jedes Für und Wider mit mir erwog wie ein feiner Diplomat mit dem europäischen Krieg in der Toga. Manchmal wenn ich sie so dasitzen sah, die Arme auf den Tisch gestützt und das Kinn auf den gefalteten Händen ruhend, rührte es mich, daß sie in ihrer Jugend die Vertraute meiner Liebesleiden sein sollte wie eine gute zurückgesetzte Tante, und ich sagte dann wohl zu ihr: »Nicht wahr, Eva, wenn du Kummer hast, so vertraust du es mir auch an?« worauf sie lächelnd erwiderte: »Du Einfältiger, ich bin ja längst verheiratet!« Aber ich sah, wie es dabei heimlich um ihre Lippen zuckte, fragte indessen nicht weiter nach, da es ja Leiden gibt, die sich nicht verflüchtigen, wenn man sie klagt, sondern anwachsen, und Tränen, die das Weh nicht wegwaschen, sondern vergiften.

Unversehens war der Augenblick da, wo mein Vater von drüben zurückkehren sollte. Es war, wie wenn sich Wetterwolken am Horizonte auftürmen, als von seiner nahe bevorstehenden Ankunft die Rede war. Vornehmlich war unsere Sorge, was er zu Galeidens Entfernung sagen würde. Niemand wollte der sein, der es ihm zuerst mitteilte, und ich fing an, erbittert auf sie zu werden, daß sie uns in diese Not gebracht hatte, anderseits sie zu beneiden, daß sie zu gelegener Zeit den Staub der Heimat von den Füßen geschüttelt hatte. Der Urgroßvater gab indessen vor, ihm sei es keineswegs bange, denn Galeide habe das einzig Rechte und Gute getan; er hatte völlig vergessen, wie heftig er ihrem Plane anfänglich entgegengetreten war, und sah das Ganze nun etwa so an, als ob es sein eigener Einfall und längstgehegter Wunsch gewesen sei. Wir hielten es aber doch für das geratenste, meinen Vater allmählich vorzubereiten, und wiesen Galeiden an, ihm alles zu schreiben, bevor er bei uns einträfe. Sie sah auch ein, daß sie es uns schuldig sei, uns die bevorstehenden peinlichen Tage einigermaßen zu erleichtern, und schrieb ihm einen langen Brief, worin sie ihm ausführlich erzählte, wie das alles gekommen sei, wie gute Früchte es zu tragen scheine, und wie sich dadurch alles zum Guten kehren werde. Ob sie davon so gänzlich überzeugt war, weiß ich nicht; jedenfalls waren es lauter leere und vergebliche Worte für meinen Vater, der nichts weiter daraus las, als daß ihm sein Kind entrissen sei, durch eine frevelhafte Leidenschaft von Haus und Hof gejagt, schutzlos in die ferne Schweiz, die er als ein barbarisches und gottvergessenes Land betrachtete, hauptsächlich aus dem Grunde, weil sie Galeiden an sich gezogen hatte und für sie die Fremde war. Wie dem nun auch sein mochte, es war sicherlich eine traurige Heimkehr. Wir hatten uns vor leidenschaftlichen Ausbrüchen der Verzweiflung und Anklage gefürchtet, aber dergleichen erfolgte nichts. Er begrüßte uns gütig und liebevoll, fragte nicht nach Galeiden; aber als er in das Wohnzimmer kam, sah er nach dem Platze, wo sie gewöhnlich gesessen hatte, setzte sich müde in eine Ecke des Sofas und weinte. Nun hätte ich lieber gewollt, daß er laut klagen und jammern möchte, denn dieses lautlose Rinnen der Tränen war ein Anblick, um das Herz zu zerreißen; sie schienen von selber und ungeheißen zu fließen wie ein Bergwasser den Felsen hinunter, wie posthume Tränen, die sich noch immer nicht gebieten lassen, obwohl der Weinende den Schmerzen schon erlegen ist, die sie ihm erpreßten. Er blieb auch ferner weich und innig gegen uns alle, nur Ezard weigerte er sich zu sehen, weil er ihn als den Zerstörer seines liebsten Glückes betrachtete. Von dem geschäftlichen Erfolge seiner Reise sprach er nicht, und wir drangen auch nicht sonderlich in ihn; denn, wie ich schon öfter angedeutet habe, der Urgroßvater und ich fanden es natürlich, daß stets genügend Geld da war, fragten aber nicht viel danach, wie es beschafft würde. Ich bezog nun allerdings als Verwaltungsbeamter einen leidlich guten Gehalt, aber für meine mannigfachen Bedürfnisse war er doch gering, umsomehr, da ich ihn zum Teil verwenden mußte, um alte Universitätsschulden abzutragen. Also brauchte ich gedankenlos von dem Gelde, das mein Vater nicht nur mit dem Schweiße seiner Arbeit, ich kann vielmehr wohl sagen mit seinem Herzblute verdiente. Denn dem Unglücklichen eröffneten sich stets bereitwillig neue Kredite, einesteils seines alten und guten Namens wegen, dann aber auch, weil seine Persönlichkeit überall Vertrauen erweckte, und niemand für möglich hielt, daß eine in seiner Hand liegende Sache unsicher sein könne. Es war dahin gekommen, daß seine Verbindlichkeiten zu bedeutend geworden waren, als daß er sich jemals völlig daraus zu lösen hoffen konnte; denn das Geschäft, das jetzt zum großen Teil mit fremdem Gelde arbeitete, war auf keine Weise mehr in den früheren blühenden Stand zurückzuführen. Unausgesetzt erwog er in seinen Gedanken, wie er sich, vorzüglich aber uns, aus dieser Verstrickung retten könnte, und so mag es ihm zuletzt als die einzig mögliche Erlösung erschienen sein, daß er selbst aus dem vergeblichen Kampfe und aus dem Leben zurücktrete.

Wenn ich mir vorstelle, daß ein anderer, der uns nicht gekannt hat, diese Blätter lesen würde, befällt mich eine Unruhe, daß derselbe nach der unüberlegten, kindischen Art der Menschen ein rasches Urteil über meinen Vater sprechen könnte, wobei ich nicht gegenwärtig wäre, um ihn zu verteidigen, und ich frage mich, ob meine Liebe mir nicht verbieten sollte, diese Dinge niederzuschreiben. Hinwiederum sage ich mir: nur wenn man alles, auch das Letzte von einem Menschen weiß, versteht man ihn ganz, und jeden Menschen, auch solchen, den man gemeinhin schlecht nennt, liebt man desto mehr, je mehr man ihn kennt und versteht, was für die Menschheit ein gutes Zeichen ist. Mir aber, und dieses schreibe ich mir zur Erbauung und Freude, erwächst das Bild meines Vaters, indem ich es Strich vor Strich aus der Erinnerung entwerfe, treu und ausdrucksvoll vor den Augen und deutlicher, als ich ihn im Leben begreifen konnte. Ein Kind bewundert Gott in seinen scheinendsten Werken, dem gewölbten, wolkigen Himmel, der Sonne und den nächtlichen Gestirnen; das Alltägliche oder gar das Mangelhafte in der Welt der Erscheinung, dessen Folgerichtigkeit es noch nicht einzusehen vermag, läßt es sich nicht einfallen, mit Gott in Verbindung zu bringen. In ähnlicher Weise bewunderte ich als Kind meinen Vater wegen seiner Allmacht, Allwissenheit und Unverletzlichkeit (was ich ihm alles zutraute); nun aber, da ich mir den Kampf seines hochgestimmten Herzens mit den Schwächen seiner Menschlichkeit vergegenwärtigen kann, liebe und verehre ich ihn deshalb nicht weniger, vielmehr mit umso innigerem Verständnis und tieferer Demut.

Für uns zu arbeiten hatte mein Vater sich niemals gescheut: was hatte er anderes getan lange, schöne Lebensjahre hindurch? Allein das mochte ihm unerträglich scheinen, dem Tadel und der Geringschätzung der Welt zu trotzen, vor allem aber in den Blicken seiner Kinder, die ihm jetzt schon so oft der schuldigen Liebe zu ermangeln schienen, etwa einen kalten Vorwurf zu lesen. Vieles wird er berechnet und erwogen haben: daß er, unzuverlässig geworden in den Augen der Menschen, uns nicht mehr nützen, nur noch schaden könne, daß sein Unglück unseren Lebensweg verdunkeln werde, während ein Toter, als der Geist, der er ist, keinen Schatten mehr wirft. Ich denke mir, daß er vor allem auch hoffte, ich würde mich, wenn die Not und schwerer Ernst schroff vor mich hinträten, mannhafter zeigen als bisher und das Bewußtsein meiner Pflichten lebhafter begreifen. Am meisten quälte ihn wohl der Gedanke, daß wir nicht nur von seinem Bruder, sondern auch von Ezard würden Wohltaten annehmen müssen; denn es verstand sich von selbst, daß die ganze Familie sich zusammenscharen würde, um das Unglück zu mildern, das sie nicht hatte abwenden können. Wenn ich versuche, das, was er gedacht und gefühlt hat, nachzufühlen, so kommt mir dieses; doch mag sich noch vieles und Furchtbares dazu gesellt haben, wovon ich nichts weiß. Denn ausgesprochen hat er von diesen Dingen nie ein Wort; er war sehr still und erschien uns allen verändert. Seine hohe und breite Gestalt war zwar noch keineswegs die eines alten Mannes, was er ja auch den Jahren nach nicht war; doch war sein dichtes schwarzes Haar stark gebleicht, und eine gramvolle Müdigkeit schien beständig seine Augen zu bedrücken. Er war unseren Bemühungen, ihm das Leben freundlicher zu gestalten, so sanft zugänglich wie lange nicht, und ging sogar auf unseren Vorschlag ein, eine kleine Erholungsreise mit mir anzutreten. Das offenbare Leiden seines Gemütes, welches wir hauptsächlich Galeidens Entfernung zuschrieben, glaubten wir, würde sich durch die Einwirkung der Natur am ehesten mildern lassen. Als geeigneten Aufenthalt schlug ich ihm, da die Zeit meines jährlichen Urlaubs kam, das nicht allzuferne Harzgebirge vor, wo wir schon zu verschiedenen Malen in unserer Kinderzeit gewesen waren und wohltuende, freundliche Erinnerungen zugleich mit dem würzigen Duft der Tannenwälder seine Seele erheitern konnten. Bereitwilliger als ich erwartet hatte, erklärte er sich damit einverstanden und bedang sich nur aus, daß der kleine Harreke uns begleiten sollte. Mit diesem nämlich verband ihn eine zärtliche Freundschaft; es schien, als habe er auf Ezards Sohn alle Liebe übertragen, die er einst für diesen selbst gefühlt, nun aber ihm um einer furchtbaren Verirrung willen entzogen hatte. Es war aber noch etwas, was diese beiden aneinander fesselte: während die Erwachsenen Galeidens Namen aus Rücksicht auf alle, die unter seiner Erwähnung litten, fast nie mehr aussprachen, trug ihn der kleine Harre treuherzig auf den Lippen, ohne daß man es ihm zu verbieten sich getraute. Auch bemerkte er ohnehin mit dem tiefdringenden Blick der Kinder, wo es nicht anging, diesen allzugeliebten Namen zu nennen, doch er hatte bald herausgefunden, daß meinem Vater kein Gespräch willkommener war, und zwar gerade dann, wenn er mit dem Kleinen allein war, der mit ihm die Sehnsucht nach Galeiden teilte, aber von aller Bitternis, die mit ihr verknüpft war, nichts ahnte.

So strichen diese beiden, als wir uns an einem besonders lieblichen Ort im Harze niedergelassen hatten, täglich Hand in Hand waldeinwärts, wobei mein Vater sich etwas gebeugt halten mußte, damit der kleine Mann ihn erlangen konnte. Zuweilen begleitete ich sie; allein mein Vater ermunterte mich, größere Ausflüge zu unternehmen, was ich denn auch tat, ganz allein, aber von angenehmen Bildern begleitet und unterhalten, die alle auf Anna Elisabeth Bezug hatten. Es behagte mir, mich an der Ausmalung bevorstehenden Glückes zu ergötzen, aber doch noch die Freiheit zu behalten, es herbeizuführen oder nicht. Freilich wußte ich ja durchaus nicht, wie sie mein Geständnis aufnehmen würde, aber ich traute meiner Liebe zu, wenn ich nur erst mit Bestimmtheit wollte, ihr Herz zu meinen Gunsten zu bewegen. Die Trennung von ihr würde mir schwerer geworden sein, wenn sie nicht versprochen gehabt hätte, uns in Bälde zu besuchen; so war der Schmerz, sie zu entbehren, mit der schmeichelnden Erwartung verbunden, es würde aus der kurzen Winterszeit dieser Trennung plötzlich ein wunderbarer Lenz hervorblühen. Als uns nun eines Tages eine Besucherin gemeldet wurde, schlug mein Herz froh, und ich dachte nicht anders, als daß ich im nächsten Augenblick Anna Elisabeth begrüßen würde. Es war aber Lucile, welche gekommen war, um Harreken zu holen, da sie es ihren Erziehungsgrundsätzen nicht gemäß fand, ihm ein Vergnügen überreichlich zuzumessen. Der Junge empfing seine Mutter mit nicht minderer Enttäuschung als ich, wenn auch aus anderen Gründen. Er verstand sofort, daß er nun aus dem guten, grünen Walde und von dem liebreichen Großonkel weg sollte und packte sogleich dessen Hand, als könne er sich daran festhalten. Der war selbst betrübt, daß er das Kind hergeben sollte, aber er wagte nicht Luciles Willen entgegenzureden und sprach dem Kleinen nur begütigend zu, um ihm das verhaßte Muß schmackhafter zu machen. Das kleine Wesen begriff gut, daß der Großonkel gerade so gut für sich selbst predigte wie für ihn, und der Umstand, daß sie beide gleich litten, schien ihn am allermeisten zu trösten, obgleich er anderseits die Wehmut verstärkte. Am Abend nahm mein Vater ihn auf den Arm und trug ihn selbst ins Bett.

Lucile sagte währenddessen zu mir: »Ich liebe deinen Vater, als wäre er der meinige; aber er hat eine Art, die Kinder weniger noch zu verwöhnen als zu verweichlichen durch seinen Gefühlsüberschwang, die ich durchaus mißbillige.« Im Innersten mußte ich zugeben, daß Lucile nicht unrecht hatte. Da ich es aber nicht gut ertragen konnte, jemanden sich tadelnd über meinen Vater äußern zu hören, mich jedoch auch mit Lucile nicht in einen peinlichen und vergeblichen Streit einlassen wollte, begab ich mich in das Schlafzimmer des Knaben, wo ich Papa sitzen fand, mit seiner großen, edel gebildeten Hand die kleine braune umschließend, die noch voll Grübchen war. Bislang war es mir noch nie in den Sinn gekommen, daß mein Vater sich vielleicht mit noch anderen, entscheidenderen Gedanken trug als nur mit solchen der Sorge und des Kummers, aber als ich jetzt den bitterlichen, ja erhabenen Schmerz in seinen Zügen sah, fiel es mir auf, wie wenig derselbe einer flüchtigen Trennung von dem Kleinen angemessen wäre, und eine Ahnung sank mir schwer aufs Herz, so daß ich in der Tür stehen blieb und kein Wort zu sagen vermochte. Papa nickte mir freundlich zu, stand auf und beugte sich über den Jungen, der sich schlaftrunken erhob, um den Scheidenden noch einmal zu umarmen, und sich dann willig aufs Kissen zurücklegen ließ. Mein Vater küßte ihn zweimal auf die Stirn und ließ einen Augenblick seine Hand auf dem dunklen Kopfe ruhen, was mir wie eine Gebärde des Segnens erschien und den unheimlichen Eindruck verstärkte, den ich empfangen hatte.

Am folgenden Morgen in der Frühe reiste Lucile mit Harreken ab. Obwohl mein Vater schon aufgestanden war, lehnte er es ab, den Jungen noch einmal zu sehen, gab aber Lucile einige Zweige von Tannen, Buchen und Eichen, die er selbst noch am Abend vorher gepflückt haben mochte, mit der Bitte, sie ihm als einen letzten Gruß zu übergeben. Lucile hatte inzwischen ihre Worte vom gestrigen Abend bereut (von denen mein Vater zwar nichts erfahren hatte); denn ebenso leicht wie zu unüberlegten, verletzenden Reden wurde sie auch dazu bewegt, sie wieder gutzumachen, meinem Vater gegenüber umsomehr, als sie wohl daran dachte, was für ein treuer Hort und Beschützer er ihr stets gewesen war. Sie bat ihn, ihr nicht zu zürnen, daß sie den kleinen Harre mit nach Hause nähme, worauf er mit Güte erwiderte; in dieser weichen Stimmung, sowie stets betrüglichen Hoffnungen und Vorspiegelungen hingegeben, wagte sie die Frage, ob sie auch Ezard einen Gruß bringen dürfe. Aber augenblicklich verdüsterte sich seine Miene, und er schüttelte den Kopf und wollte sich abwenden. Nun warf sich Lucile schluchzend in seine Arme, und er, selbst heftig erschüttert, streichelte zärtlich ihre schwarzen Haare, bis sie sich von ihm losriß und aus dem Zimmer eilte. Ich folgte ihr und begleitete sie zum Bahnhofe, bemüht, sie durch gleichgültige Unterhaltung zu beruhigen, was mir auch gelang; indessen trabte der kleine Harre, mit festgeschlossener Faust seinen grünen Wald umklammernd, neben uns her und veränderte seine trauervolle Miene nicht, wie wir ihn auch zu trösten suchten. Als der Zug sich in Bewegung setzte, bog er sich aus dem Wagenfenster und erwiderte mein Nicken nur durch einen ernsthaften Blick, bewegte dagegen seinen dunklen Strauß langsam auf und nieder, daß es mir fast wie eine geheimnisvolle Zeichensprache erschien, womit er meinem Vater einen von niemand anders verstandenen Gruß bestellen wollte. Denn das Kind hatte einen seltsamen Zug zum Dunkeln und Mystischen, den es kaum von den Ursleuen, aber auch nicht von seiner Mutter ererbt hatte. Ich schlenderte in meiner gedankenvollen Stimmung in den nächsten Wald, und inmitten des leisen, gemächlichen Rauschens und der unhörbar tanzenden Sonnenringe verwandelte sich die beklemmende Angst, die seit dem gestrigen Abend in mir aufgestiegen war, in die gewohnten, leichten Liebessorgen, die wie bunte Vögel vor mir her gaukelten, so daß ich, ihnen willenlos folgend, immer tiefer und tiefer in den Wald geriet. Da befand ich mich mit einem Male an einem verschwiegenen Platze, wo ich noch nie gewesen war, und wohin ich später nie mehr gegangen bin, den ich aber noch wohl aus dem Gedächtnis malen könnte, wenn ich diese Kunst verstände. Es lief da ein plätschernder Bach, über den ein schmales Steglein führte; auf das setzte ich mich, so daß ich meine Füße auf einem der Steine ruhen lassen konnte, die aus dem Wasser hervorragten. Eichen und Buchen standen um mich herum, dazu einige gewaltig hohe Tannen; die standen mehr einzeln, von uralten bemoosten Steinen umgeben, dazwischen eine hochaufgeschossene Fingerhutpflanze voll rosenroter Blüten. Je länger ich das alles betrachtete, desto seltsamer und ungewöhnlicher erschien es mir, und besonders konnte ich mich nicht mehr von dem Fingerhut abwenden, in der Meinung, mit ihm müsse sich zuerst etwas Unerhörtes begeben. Da fiel mir, ich weiß nicht wie, Anna Elisabeth ein, und ich dachte, das würde das allerliebste und allerschönste Wunder sein, wenn sie auf einmal mit ihrer schlanken Wohlgestalt zwischen den Bäumen hervorträte. Wie hätte das blonde Haar auf dem dunkelgrünen Grunde geschienen, und wie wäre das lange Schleppgewand über das krause Moos geglitten! Je mehr ich mir das ausmalte, desto gewisser wurde es mir, daß sie kommen müsse, und ich beschloß in meinem klopfenden Herzen, daß ich diesen Augenblick als ein Geschenk und Zeichen des Himmels betrachten und ihr meine Liebe warm und ehrlich gestehen würde. Konnte sie nicht gerade so gut heute kommen wie gestern Lucile? Warum sollte das Schicksal sie nicht an diese Stelle führen können, da es sie doch von viel weiter her auf meinen Lebensweg geleitet hatte? Ich saß über dem fließenden Wasser und wartete und wartete; aber allgemach entschwand mir die Zuversicht, die ich anfangs gehabt hatte, und als ich sah, daß die Sonne sich schon gegen Abend neigte, und sie war noch nicht gekommen, stand ich mit leerem, enttäuschtem Herzen auf und ging langsam den Weg zurück, den ich gekommen war. Obwohl nun im Grunde dadurch nichts anders geworden war, konnte ich mich doch nicht von der Empfindung lösen, als habe das Schicksal ein Nein gesprochen, und als sei es nun aus mit meinem Liebestraum, was ich ferner auch beginnen würde. Ich habe einmal ein Märchen gelesen von einem Königssohn, der die verzauberte Prinzessin nicht zur rechten Stunde in den Brunnen warf, weil er sich kein Herz dazu fassen konnte, und darum sie und das Glück niemals erhielt, wonach er ausgezogen war; so, war es mir, wäre für mich, freilich ohne meine Schuld, die Stunde auf ewig vorüber, wo ein Wunder hätte geschehen und mich glücklich machen können. Es half mir nichts, daß ich hundert vernünftige Gründe gegen diese Einbildung setzte; sogar jetzt kann ich mich des Gedankens noch nicht erwehren, den meine Vernunft nicht billigt, daß weder ich noch irgend jemand sonst die Brücke im Walde wiederzufinden vermöchte, auf der ich an jenem Sommertage gesessen und den roten Fingerhut betrachtet habe.

Als ich aus dem Walde kam, müde wie ein alter Mann, fühlte ich mich zu meinem Vater hingezogen, dessen einsames Leiden mir auf einmal sehr verständlich erschien, und ich war geneigt, mich zu wundern und mich zu tadeln, daß wir so lange dicht nebeneinander gelebt hatten, ohne uns in rechter Freundschaft aneinander zu schließen. Da ich in unserer Wohnung nach ihm fragte, sagte man mir, er sei ausgegangen. Ich erinnere mich nicht mehr, welchen Eindruck diese Mitteilung auf mich machte, und was mich bewog, mich in sein Zimmer zu begeben. Sogleich fiel mir ein geschlossener Brief ins Auge, auf dem mein Name stand, mit den großen, deutlichen Schriftzügen meines Vaters geschrieben. Da wußte ich mit einem Schlage alles, was geschehen war und was nun folgen würde, alles in einem Augenblick, und es befiel mich ein Zittern, so daß ich eine geraume Weile warten mußte, bis ich den Brief eröffnen konnte. Es stand vielerlei darin, was ich damals nicht las und nicht verstand vor Erregung; ich nahm nur das in mich auf, daß ich meinen Vater an einer Stelle im Walde, die er mir bezeichnete, tot finden würde. Wenn ich mich recht besinne, so scheint es mir, als hätte ich anfangs nichts empfunden als ein blindes Entsetzen, daß ich allein war. Ich ließ sogleich ein Telegramm an Ezard besorgen, des Inhalts, mein Vater sei todkrank, und er solle unverzüglich kommen. Als ich mich aber aus der Ortschaft entfernt hatte und in den Wald kam, fand ich mich wieder, erfaßte nun alles mit sehendem Herzen, und alle Furcht verlor sich in grenzenlosem, überwältigendem Weh. Je mehr ich zur Besinnung kam, desto mehr beschleunigte ich meine Schritte in der Hoffnung, ich könnte etwa noch zeitig genug kommen, um die geliebte Hand in ihrem schrecklichen Beginnen zu hemmen. Ich raste wie ein Verfolgter zwischen den Bäumen hin, und auf einmal stand ich außer Atem und ganz in Schweiß an der Stelle, wo ich ihn finden sollte. Im selben Augenblick sah ich auch den bewegungslosen Körper im Moose daliegen, und da mein Blut ohnehin von dem rasenden Laufe in höchster Wallung war, schwindelte es mir nun, und alles versank vor meinen Augen, und ich ließ mich neben dem Toten niederfallen. So blieb ich eine Weile, nur halb meiner selbst und des Geschehenen bewußt, bis die Sehnsucht, meinen Vater zu sehen, allzustark wurde, so daß ich mich aufraffte und dicht zu ihm hinschleppte. Es waren aber noch soviel Spuren des kaum gewichenen Lebens in seinem Gesicht, daß ich mich entsetzte und scheu wartete, ob nicht plötzlich eine Bewegung durch den Leichnam zucken würde. Während ich mit Schmerz und Grauen die teuren Züge anstarrte, bemerkte ich das schnelle Herabsinken der Dämmerung und machte mich eilig auf, um Leute herbeizuholen, damit der Tote die Nacht über nicht im Walde liegen bleibe.

In dem Wirtshause, welches wir bewohnten, sagte ich, daß mein Vater in der krankhaften Schwermut seines Gemüts Hand an sich gelegt habe, was man mir auch ohne weiteres glaubte, da seine beständige Melancholie und sein schweigsames Wesen wohl für eine Art geistiger Umnachtung hatte gelten können, und außerdem die Ehrfurcht, die seine Erscheinung erweckte, bei den gewöhnlichen Leuten jeden Gedanken an etwas verscheuchte, was sie frevelhaft und verwerflich genannt hätten. Indessen scheute man sich doch, durch die Anwesenheit einer Leiche im Hause die übrigen Gäste zu beunruhigen, was ich auch wohl einsah; ich ging deshalb auf den Vorschlag ein, daß mein Vater in einem kleinen Häuschen gebettet werden sollte, welches zu bequemerem Genießen einer Aussicht leicht aus Holz gebaut war und mit einem Schlüssel, den unsere Wirte aufbewahrten, verschlossen werden konnte. Ich hatte anfänglich im Sinne, bei meinem Vater, nachdem er wirklich dorthin getragen war, zu wachen, aber ich schämte mich beinahe des Einfalls als eines übermäßig sentimentalischen und begab mich, da es allerdings schon ziemlich spät in der Nacht war, nach Hause. So lag er dort allein, umsaust von den schwarzen Tannen, wo wir noch vor wenigen Tagen in Betrachtung des hügeligen Landes umher und der sanft wogenden Wipfel dicht unter uns nebeneinander gestanden hatten, er mit dem unnennbaren Geheimnis auf der Seele, das sein erstarrter Mund mir nun verraten hatte.

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