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XXXVII

In Hinsicht auf Gaspard schien mir das Weiseste zu sein, gar nichts zu unternehmen; man antwortete ihm nicht, woraus er füglich hätte schließen können, daß er nicht gerade willkommen war; hätten wir ihn aufgefordert, sein Kommen zu unterlassen, so hätte ihn das vielleicht veranlaßt, seinen Besuch nun erst recht zu beschleunigen, widerspenstig und eigenwillig wie er war. In Ezards Benehmen trat insofern eine Veränderung ein, als er seit jenem Abend nicht mehr zu uns kam; er könne Galeiden so nicht sehen, sagte er. Galeide, die in beständiger Sorge um ihn war, drängte mich, ihn so viel wie möglich zu besuchen, damit er nicht allein wäre, was ich auch gerne tat, umsomehr, als ihm meine Gesellschaft lieb zu sein schien. Häufig blieb ich auch Nachts bei ihm, denn die Nächte waren das Unerträglichste, wenn er nicht schlafen konnte oder einen Traum hatte, Nächte hintereinander denselben, den ich jetzt wiedererzählen will. Ihm träumte, daß zwei Todesgespenster, mein Vater und der seinige, in weißen Gewändern durch die geschlossene Tür in seine Kammer träten, und daß er sich, obwohl erstarrt vor Entsetzen, aufrichtete und sie fragte: »Wen sucht ihr?« Worauf sie beide zugleich ganz leise, aber deutlich vernehmbar antworteten: »Die dritte!«

Als mir Ezard dies erzählte, faßte mich ein eisiges Grauen, und ich sagte mit Anstrengung: »Und dann kommt Lucile?« Aber Ezard schüttelte den Kopf und sah mich mit heißen schwarzen Augen an. »Nein,« sagte er, »Lucile kommt nicht. Sie war nicht die rechte.« Aus welchen Gedanken dieser Traum entstanden war, sah ich wohl; aber in diesem Augenblicke war es mir, als wäre das Schicksal selbst zwischen uns getreten, geisterhaft unsichtbar, und schaute auf uns mit einem unentrinnbaren Blicke.

Es gingen einige Tage hin, während welcher ich Gaspards Erscheinen jede Stunde unter irgend welchen erschütternden Anzeichen erwartete. Aber die Wirklichkeit kann das Blitzen und Donnerrollen, ohne welches die Phantasie sich kein bedeutendes Ereignis vorstellen kann, entbehren, denn sie ist ihres Eindrucks ohnehin sicher, eben weil sie wirklich ist. Gaspard kam an einem Tage, als ich ihn zum ersten Male gänzlich vergessen hatte, wo Galeide wieder in einem Konzerte spielen sollte. Jenes erste nämlich hatte derartig gefallen, daß man gewünscht hatte, es möchte wiederholt werden, was umsomehr Anklang fand, als wieder ein guter Zweck damit verbunden werden konnte. Galeide hatte sich dazu bereit erklärt. Sie wurde, als der dafür angesetzte Nachmittag gekommen war, frühzeitig in einem Wagen abgeholt: da ich mich eben anschickte, mich zu Fuß in die Kirche zu begeben, kam Gaspard. Vor Überraschung entfiel mir fast mein Ingrimm; immerhin hieß ich ihn nicht allzu freundlich willkommen, konnte aber doch nicht anders als ihm mitteilen, wohin zu gehen ich im Begriff war, und ihn fragen, ob er sich mir anschließen wolle. So gingen wir miteinander, und während Gaspard mich mit seinem Französisch und seiner überlegenen Weisheit zugleich ärgerte, versuchte ich mir voller Angst auszudenken, wie ich mich zu verhalten hätte, um ihn für Galeide nach Möglichkeit unschädlich zu machen. In der Kirche sah ich sogleich Ezard, welcher Galeide doch hören wollte, deren Anblick er nicht mehr ertragen konnte. Ich wäre ihm gern ausgewichen, aber da er mich erkannt hatte, drängte er sich durch die Menschenmenge zu mir und gewahrte Gaspard erst, als er dicht vor uns stand. Sie begrüßten einander, wobei sie wohl beide Empfindungen des Hasses zu bemeistern hatten, Ezard Galeidens und Gaspard seiner Schwester wegen. Aber ich glaubte zu bemerken, daß sie trotzdem Wohlgefallen aneinander fanden, und indem ich Gaspard mit Ezards Augen zu betrachten suchte, erschien er auch mir weniger unleidlich. Sein Betragen war so eigen wie je; überhaupt stellte er in jedem Augenblick ein abgerundetes Charakterbild seiner eigenen Person dar. Man konnte von unserem Platze aus Galeiden sehen, wenn man sich mit einer unbequemen Wendung rückwärts kehrte. Diese Stellung fand er sogleich heraus, nahm sie ein und betrachtete meine Schwester unausgesetzt, und zwar durch zwei Gläser. Er äußerte kein Wort über das, was vorgetragen wurde, bekümmerte sich nicht im mindesten um Ezard und mich, war aber, nach seinem bewegten Mienenspiel zu schließen, mit der Ausmalung fabelhafter Träume und Pläne beschäftigt; es fiel mir auf, wie unterhaltend, ja wie reizend es war, demselben zuzusehen, und ich konnte mir auf einmal denken, wie sich der Wunsch und Drang in einem festsetzen könnte, dieser launischen Seele habhaft zu werden, um sich unaufhörlich an ihrem schnurrigen Wesen erbauen zu können. Wenn er lächelte, tat sich unverhofft eine solche Lieblichkeit in seinem dunklen Gesicht auf, daß man leicht dazu kam, dies und jenes anzustellen, damit das Sonnenaufgangsschauspiel sich wiederhole, zumal wenn man ein so unersättliches, kindisch habgieriges Herz hatte wie Galeide, die am liebsten Berg oder See in der Tasche mit sich fortgetragen hätte, wenn er ihr gefiel. Es war mir, als müßte ich durchaus Gaspard verstecken, zudecken, kurz, auf irgend eine Weise unsichtbar machen, damit Galeide ihn nicht sähe. Als das Konzert zu Ende war, hoffte ich, ihn im Gedränge unbemerkt zu einer Seitentür herausschleppen zu können, freilich ohne zu wissen, was ich nachher mit ihm anfangen sollte. Aber zufälligerweise kam Galeide, vielleicht um Ezard aufzusuchen, in das Schiff und trat uns plötzlich entgegen. Sie sank nicht etwa um wie von einem Blitze gerührt, wankte nicht, noch wechselte sie die Farbe; denn wenn sie unvorbereitet sehr heftig erregt wurde, wußte sie sich immer am besten zu fassen. Sie nickte uns zu und gab Gaspard die Hand; beide lächelten sich an wie zwei, die ein unschuldiges Geheimnis miteinander haben und sich ein Zeichen darüber geben. Dann aber wandte sich Galeide schnell zu Ezard, bat ihn, sie zu ihrem Wagen zu begleiten und verabschiedete sich von uns mit einem Gruße. So hatte ich Gaspard für mich, und er schien es für selbstverständlich anzusehen, daß ich ihm unsere Gastfreundschaft anbot, was ich ja auch ohne eine förmliche Erklärung kaum hätte vermeiden können. Daß sich Galeide so kurz von uns abgewandt und Ezards Begleitung ausgebeten hatte, schien ihm doch aufgefallen zu sein; sein Gesicht war mit einem Schlage verändert wie ein Tal, nachdem die Sonne hinter die Berge gegangen ist. Der Kummer prägte sich so ausgiebig darin aus, daß er nicht nur wie ein Trauriger, sondern wie ein Kranker aussah, und wiederum konnte ich mir denken, wie es eine, die die Macht dazu hätte, locken müßte, das goldige Lachen wieder aus den Wolken hervorzuschmeicheln. Sowie wir zu Hause angekommen waren, begab ich mich sogleich zu Galeiden, die allein in ihrem Zimmer war, und fragte sie, was nun werden solle? ob ich Gaspard alles offen sagen solle, damit er uns verlasse? Aber sie nahm mir heftig das Versprechen ab, alles derartige zu unterlassen. »Wenn du ihm alles sagen würdest,« sagte sie, »würde er mich hassen, und das kann ich nicht ertragen. Sage es ihm, wenn ich einmal tot bin.« Aber gleich darauf besann sie sich wieder anders und sagte: »Ich wollte ihm ja gerne alles sagen und ihn fragen, ob er mich nun haßte, oder ob er mich doch noch lieb hätte. Ja, das möchte ich, ihm sagen, wie lieb ich ihn habe, und dann sterben. Aber wie könnte ich das Ezard antun? Laß mich keinen Augenblick allein mit ihm, hörst du, damit sich mein Herz nicht vergißt.« Ich entgegnete, ob es nicht besser sei, wenn sie ihn überhaupt nicht sähe; zunächst für diesen Abend könnte sie ja leicht eine Unpäßlichkeit vorschützen, um nicht beim Nachtessen erscheinen zu müssen. Sie sagte, ja, das wolle sie tun; aber ich sah ihr wohl an, wie schwer es ihr wurde, ihren Liebling so grausam zu kränken, und ich zweifelte, ob sie es aushalten würde.

Während sich Gaspard trotz seiner immer zunehmenden Trauer auf recht anmutige Weise mit dem Urgroßvater unterhielt, daß dieser ganz von ihm gefesselt wurde, lauschte ich voll Unruhe auf jedes Geräusch; denn ich hatte eine Ahnung, als ob Galeide doch noch erscheinen würde, und wußte nicht, wie ich es machen sollte, um Gaspard vorher zu entfernen. Der aber machte nicht Miene, sich zurückzuziehen, sondern horchte wie ich, ob nicht ein leichter Schritt Galeiden verkündigte. Es kam so, wie ich gedacht hatte, daß Galeide doch zuletzt dem Drange ihres unbändigen Herzens nachgab. Auf einmal stand sie hell und glühend auf der Schwelle und sah uns an, als ob sie sagen wollte: Da bin ich dennoch; ich konnte nicht anders. Als sie näher herankam, zeigte es sich, daß sie ein weiß und schwarz geflecktes Kätzchen auf dem Arme hatte, das sich, wie sie sagte, in unser Haus eingeschlichen haben müsse; sie habe es in ihrem Zimmer gefunden und wolle es nun behalten. Sie hatte das weiche Geschöpf an ihre Brust gepreßt, so daß es sein Köpfchen an ihren Hals schmiegen konnte; sie setzte sich in einiger Entfernung von uns in einen Sessel und begann mit dem Tiere zu spielen, seine großen runden Augen, die zarten Pfötchen und alles übrige zu bewundern und anzupreisen. Gaspard hatte sich nicht gerührt, noch ein Wort gesagt, als Galeide ins Zimmer gekommen war, aber er betrachtete sie in der ihm eigenen Art unablässig mit standhafter Glut, was ich übrigens wohl begriff; denn Galeide sah, vielleicht im Bewußtsein, daß sie im Kampfe mit ihrer Liebe unterlegen war, so demütig, hold und kindlich hilflos aus, wie ich sie kaum je gesehen hatte, zugleich aber so menschlich warm und kräftig, weil es doch eben die Leidenschaft in ihr war, die sie besiegt hatte. Sie sah nicht ein einziges Mal nach Gaspard hinüber, doch fühlte sie die Macht seines Blickes so sehr, daß ihre spielenden Hände sich plötzlich lösten und die Katze entwischen konnte. Gaspard fing sie auf und handhabte sie in etwas täppischer Weise in seinen Kinderfäusten, was drollig und nicht unlieblich anzusehen war, besonders da sein dunkler Kopf sich so prächtig von dem weißen Pelz abhob. Galeide hatte ihn nun doch ansehen müssen, und ein herzlich vergnügtes Lachen verklärte sogleich ihr ganzes Gesicht. Nun konnte sie es auch nicht lange mehr lassen, ihn anzureden und sagte: »Sie dürfen mein Kätzchen nicht quälen, Monsieur Leroy!« Hierauf gab er Galeiden eine äußerst anmutige und rührende Antwort, indem er sagte: »Ich quäle es nicht; ich will es fragen, was es macht, daß Sie es so lieb haben.« Er sagte diese Worte auf deutsch, und da seine Stimme stets eine zaghafte, besonders weiche Färbung annahm, wenn er diese ungewohnte, Galeidens wegen heimlich geliebte Sprache redete, verstärkte das noch den lieblichen Eindruck, den sie schon durch sich machen mußten. Ich konnte mich nicht enthalten, ihm in diesem Augenblick gut zu sein, vollends aber Galeide war von der flehenden Musik der kleinen Klage so betört, daß ich mich nicht verwundert hätte, wenn ich sie plötzlich zu seinen Füßen gesehen hätte. Immerhin kniete da ihre Seele, die man aus ihren Augen und ihrem halbgeöffneten, zitternden Munde fast körperlich zu ihm hinüberfliegen sehen konnte. Ohne daß es in irgend einem Zusammenhang mit den vorher geführten Gesprächen gestanden hätte, sagte sie plötzlich zu ihm: »Was soll ich für Sie tun? Soll ich Ihnen ein Märchen erzählen? Soll ich Sie zur Flöte begleiten? Soll ich Geige spielen?« Gaspard nickte; das Kätzchen entschlüpfte wieder und machte sich aus dem offenen Fenster. »So will ich spielen, wenn Sie wollen,« sagte Galeide, indem sie aufstand. Wir begaben uns in den eine Treppe höher gelegenen Musiksaal, nur der Urgroßvater blieb unten zurück, um von dort aus zuzuhören. Gaspard war sich seiner Macht über Galeide kaum wieder bewußt geworden, als er sich ihrer sogleich bediente, um sie wie ein launisches Ding von Mädchen zu quälen und sie gleichsam zu strafen, daß sie sich so lange dagegen gewehrt hatte. Insgeheim zitterte er vor Glück und zugleich vor Angst, daß ihm die Krone des Lebens dennoch entgehen könnte; aber wie deutlich man auch die sehnlichste Liebe in seinen schwarzen Augen flimmern sah, gab er sich doch voll Trotz und Eitelkeit ein ganz anderes Ansehen und sagte nörgelnd zu Galeide, dies und jenes Stück möge er nicht leiden, überhaupt habe er Geigenspiel an diesem Tage nun genug gehört und sei es müde. »Was soll ich aber dann tun?« fragte Galeide geduldig. »Singen Sie etwas,« sagte der Unselige, als ob es sich von selbst verstehe, daß sie Spinnen essen würde, wenn er den Befehl dazu gäbe; und da sie bescheiden einwandte, daß sie ja keine Sängerin sei, sagte er in demselben sanftbeherrschenden Tone: »Singen Sie doch.« Während ich mir überlegte, ob ich ihn nicht auf der Stelle beim Kragen nehmen und erwürgen dürfte, suchte Galeide zwischen ihren Noten, bis sie etwas zum Singen gefunden hatte, und setzte sich dann ans Klavier, um sich selber zu begleiten. Ihre Stimme brach aber schon bei den ersten Tönen ab, wahrscheinlich weil sie allzu erregt im Innern war, und sie hörte auf und sagte: ich kann nicht. »Warum sagen Sie denn, Sie wollen alles tun, was ich will?« beharrte der Unhold. »Versuchen Sie es doch,« erwiderte Galeide. »Sagen Sie, was Sie wollen! Soll ich mich aus dem Fenster stürzen?« Sie hatte ihren Klavierstuhl gedreht, so daß sie ihm gerade gegenübersaß und ihm voll ins Gesicht sah. Er saß regungslos da wie ein Schlaraffe, über den sich ein Füllhorn der süßesten Dinge ergießt, und der ganz still hält, um das schöne Wunder nicht zu verscheuchen. »Soll ich?« fragte Galeide noch einmal leise. Er nickte und sagte sein halbgesungenes: »Oui, Mademoiselle.« Sogleich stand sie auf und ging auf das nächste Fenster zu; alle standen offen, da es eine sehr warme Nacht war. Gaspard sah ihr still lächelnd nach und mochte denken: wie wird sie sich nun aus ihrer Schlinge ziehen? Ich werde sie aber zuvor ein wenig zappeln lassen. Mir hingegen vergingen die Sinne, ich sah alles und sah es doch nicht, ich wußte, was kommen würde, ich faßte es doch nicht. In einem Augenblick hatte sie sich auf die Fensterbank geschwungen und stand groß und frei in dem hohen Rahmen. Dann lachte sie leicht und leise; ein gutes, kleines, klingendes Gelächter, wie sie zu lachen pflegte, wenn ihr eine Schelmerei im Sinne lag. Ja, sie lachte ihn aus, den Kasper; aber was kostete es sie? Ihr ganzes herrliches junges Leben, das unwiederbringliche! Denn noch war der freundliche Silberlaut ihrer Stimme nicht verklungen, da lag sie schon tot zwischen den blühenden Lilien auf dem Beete vor unserem Hause.

Ich habe nie begreifen können, daß sie wirklich ganz fort sei von der Erde, daß sie nicht irgendwo noch zu finden sei tief im Berge oder auf einer Einöde auf den Höhen. Noch jetzt, wenn ich einsam über den Berghang gehe am Rande des Waldes, so kommt es mir oft, als müsse sie plötzlich zwischen den Bäumen hervortreten mit ihrem leuchtenden Gesicht und mir ihre weichen, kräftigen Hände entgegenstrecken. Oder doch ihre Stimme müsse von irgendwoher Antwort geben, wenn ich sie bei Namen riefe: Galeide! Gute, kleine Galeide!

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