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XIII

Lucile hatte während einer großen Hitze mit ihrem kleinen Mädchen einen Landaufenthalt genommen; zu der Zeit war der kleine Harre bei uns, hauptsächlich unter Galeidens Obhut, damit beider Kinder Gegenwart nicht der Erholung der Mutter im Wege stände. Ich mochte ihn auch wohl leiden mit seinen trotzigen Augen; aber sie machten zu Hause allzuviel Wesens und Händeringens um ihn, dadurch wurde er mir verleidet. Mein Vetter hatte wegen der Geschäfte die Stadt nicht verlassen können und war, schon des Knaben wegen, häufig bei uns; fast immer nahm er die Mittagsmahlzeit bei uns ein. Einmal als wir bei Tisch saßen, beging Harreken eine Ungezogenheit, indem er, anstatt seine Suppe zu essen, mit dem Löffel mitten hineinschlug, daß es spritzte. Er saß zwischen Ezard und Galeiden. Ezard mochte an diesem Tage durch geschäftliche Dinge gereizt sein, denn während er für gewöhnlich nur dann den Erzieher herauskehrte, wenn es durch bedenkliche Unart geboten schien, verbot er jetzt dem Übeltäter sein Betragen in schärfster Weise. Der erschrak über den unerwarteten Überfall seines sonst so freundlichen Vaters und fing an zu weinen; Galeide errötete vor Ärger und Angst um ihren Liebling und zog ihn an sich, um ihn möglichst geschwind zu beruhigen und einer Steigerung des väterlichen Zornes vorzubeugen. Ezard wurde seinerseits rot, als er Galeiden sich gebaren sah, als ob sie gewissermaßen ein näheres Verhältnis zu dem Kinde hätte als er, und empfahl dem Schluchzenden, still zu sein und seine Suppe zu essen. Galeide warf einen kalten Blick auf Ezard, denn um in des Kindes Gegenwart mit ihm über die Erziehung zu rechten, war sie zu klug; jedoch prägte sich der Eindruck, den der kleine Vorfall machte, nun in dem Betragen der übrigen aus, indem der Urgroßvater etwas spöttisch lächelte und Galeiden verständnisvoll ansah und mein Vater düstere Blicke von einem zum anderen gehen ließ. Ich wollte eben durch eine unschuldige Unterhaltung die Gemüter zerstreuen und wandte mich an meine Mutter, der eine launige Rede auf den Lippen zu zögern schien, als Ezard aufstand, den noch immer leise weinenden, dicht an Galeide geschmiegten Sünder ergriff, in ein anderes Zimmer trug, dann sogleich zurückkehrte und weiter aß. Meine Mutter lachte nun hell heraus, was Ezard liebenswürdig aufnahm, wie er auch auf meine Neckereien in gleichem Tone antwortete. Aber Galeide war ganz blaß geworden; sie blieb indessen doch am Tische sitzen und beteiligte sich an der Unterhaltung. Nachdem die Mahlzeit beendigt war, ging Ezard sogleich zu seinem Kleinen, söhnte sich mit ihm aus, denn er zürnte nie lange, und kam mit ihm auf dem Arme ins Zimmer, wobei das Kind seinen Hals fest umschlungen hatte und mit lustig leuchtenden Augen anzeigte, daß aller Kummer und Hader vergessen war. Da es inzwischen für Ezard Zeit geworden war zu gehen, setzte er Harreken auf Galeidens Schoß und reichte ihr, indem er sich verabschiedete, die Hand, welche sie auch nahm; aber ihre Nasenflügel bewegten sich dabei in der Art, wie es immer aussah, wenn sie sich von oben herab über jemand lustig machte. Mein Vater begab sich voll schwerer Gedanken, die ein jeder von uns außer Galeiden durchschaute und belachte, auf sein Zimmer. Indessen erging sich der Urgroßvater in reichlichen Bemerkungen über den an sich so unbedeutenden Vorfall, beklagte, daß Ezard in ungünstiger Weise von Lucile beeinflußt sei, da er sonst nicht so kindisch gewesen sein würde, auf ein so kleines Kind durch feierliche Strenge anstatt durch Lächeln und spielende Weisheit einwirken zu wollen, und dergleichen mehr. Er sprach auch hernach mit Ezard selbst darüber und hielt ihm vor, wie Galeide sich um das Kind verdient mache und es fast besser pflege als die eigene Mutter, und wie sie nun in ihrem weichen Herzen verwundet sei, obwohl sie es nicht zeige. Dies war nun freilich durchaus nicht wahr; denn Galeide war nicht leicht verletzlich und dachte nichts anderes, als daß Ezard von Kindererziehung nichts verstehe, triumphierte auch vielleicht, wie der Kleine sie doch lieb behalten würde, wenn er ihn ihr auch zu entreißen gedächte. Hingegen litt sie unter der seltsamen Art meines Vaters, die sie sich nicht recht zu erklären wußte, und mochte aus dem Grunde an jenem Tage traurig erscheinen, was sich in ihren weichen, beweglichen Zügen immer so unverhältnismäßig ausprägte, daß sie wie eine Niobe aussah, wenn sie sich über einen Regentropfen ärgerte. Nach des Urgroßvaters Reden mußte Ezard denken, er habe ihr Kummer bereitet, worauf er sofort gewillt war, es wieder gut zu machen. Da sie nun aber nie anders als in den Formen liebenswürdiger Höflichkeit miteinander verkehrt hatten, wußte er nicht recht, wie er es anzustellen habe, und verschob es so lange, bis Galeide den Kleinen zu Bett gebracht hatte und noch neben ihm saß, während er im Einschlafen eine ihrer Hände umklammert hielt. Ezard pflegte, wenn er um diese Zeit zu uns kam, noch in das Schlafzimmer zu gehen und dem Sohne einen Gutenachtkuß zu geben; er setzte sich nun an diesem Tage, nachdem er es getan hatte, zu Galeiden auf den Rand des Bettes, ergriff ihre freie Hand und zog sie an seine Lippen, als wolle er damit um Verzeihung bitten. Sie waren dabei allein, doch habe ich viel später den Vorgang von ihnen erzählen hören; sie wußten beide noch genau zu sagen, wie in diesem Augenblick eine wohltuende Zufriedenheit über sie gekommen sei, so süß zu empfinden, wie sie noch nie zuvor etwas gefühlt zu haben glaubten. Sie blieben nebeneinander sitzen, bis meine Mutter hereinkam, um auch nach dem Kleinen zu sehen, und diese berichtete uns, wie die beiden einander glückstrahlend angesehen hätten, so daß sie sich jedenfalls ausgesöhnt hätten, und nun alles in Ordnung sei. Sie erzählte es in Gegenwart meines Vaters und nicht ohne Absicht; denn sie war der Meinung, man müsse seinen unnatürlichen Wahnideen entgegentreten, indem man ihnen mit voller Unbefangenheit das richtige und gesunde Verhältnis, wie es sei und sein dürfe, entgegenhalte. Damit erwirkte sie aber nur, daß mein Vater zusammenzuckte, als ob er gerade das vernehme, was er gefürchtet habe, und was ganz in das Muster seiner Ahnung hineinpasse. Zum ersten Male stimmten jetzt seine Befürchtungen mit der Wirklichkeit überein, was aber noch von keinem von uns geahnt wurde, so daß wir ihn noch immer als verblendet und von einem leidigen Hange zur Selbstquälerei befallen ansahen.

Indessen machte sich das seltsame und fürchterliche Schicksal bald für uns alle bemerkbar. An den Tagen, die diesem Unglückstage zunächst folgten, waren Ezard und Galeide von außergewöhnlicher Fröhlichkeit; das Glück strahlte ihnen aus den Augen, was sie auch taten, und wovon sie auch sprachen. Wir gaben uns dem angenehmen Einfluß hin, der von beglückten Menschen ausströmt, und genossen die goldene Laune, ohne ihrem Ursprung nachzufragen. Es konnte aber nicht wohl anders sein, als daß die beiden unseligen Menschen sich allgemach auf sich selbst und das, was mit ihnen vorgegangen war, besannen. Sie mochten sich anfänglich arglos dieser Zuneigung gefreut haben wie einer Blume, die in einer warmen Nacht aufgeblüht ist und am Morgen in ihrer Pracht dasteht, oder wie ein Kind die Weihnachtsbescherung anstaunt, die ihm ungesehene Hände, während es schlief, vor seinem Bettchen ausgebreitet haben. Aber die Liebe ist wahrhaftig einem Feuer zu vergleichen, insofern als sie sich niemals begnügt, sondern stets mehr Nahrung will, sich reckt und riesenhoch anschwillt zu furchtbarer Schönheit und zum Verderben alles dessen, was ihr im Wege steht. Lucile kehrte bald von ihrem Ausfluge zurück, einer Schwalbe gleich, die im Frühling ihr altes Nest aufsucht und es vom Unwetter oder von feindlichen Händen zerstört findet. Zwar empfing sie Ezard vergnügt und herzlich und teilte ihr alsbald mit, wie er endlich auf den rechten Blick für Galeide und ihre Schönheit geraten sei, und daß er nun, den oft geäußerten Wünschen Luciles entsprechend, ihr Freund und Bruder sei, wie Lucile selbst sich früher als ihre Freundin und Schwester betrachtet habe. Die Arme durchschaute besser als Ezard, wie es mit dieser vermeintlichen Freundschaft beschaffen war; sie hätte auch nicht einmal eine solche ruhigen und neidlosen Gemütes ertragen und hatte sie nur herbeigewünscht, weil sie, ihres Glückes allzu sicher, sie sich gar nicht vorstellen konnte; aber es gehörte zu ihrer Eigenart, sich im Geiste untadelige, ja erhabene Rollen spielen zu lassen, denen sie in Wirklichkeit nicht gewachsen war.

Äußerlich ging indessen alles seinen gewöhnlichen Gang weiter, wie sich denn auch das Merkwürdigste und Erschütterndste peinvoller zwar, aber viel gemächlicher und selbstverständlicher erlebt, als es sich erzählt. Denn hernach weiß man bereits, wohin dies und jenes zielte, was man damals übersah oder falsch auslegte. Wenn auf einen hohen und breiten Berg viele Pfade und Pfädchen führen, so gerät man im Besteigen in Verwirrung, wagt bald diesen, bald jenen nicht zu nehmen, da man nicht absehen kann, wohin er einen bringt; unabsehbar scheint das, was vor einem liegt, und der Augenblick, wo man das Ziel erreichen könnte, unerreichbar. Ist man aber oben, so übersieht man das Gewebe der Straßen und entwirrt es; weswegen der eine Pfad vom Gipfel weg führte und der andere zum Gipfel hin, wird einem auf einmal klar, und es erfüllt einen mit Lust und Befriedigung. Man sieht auch, wo man irre ging, und woran es lag, daß man sich verspätete, daß man aber dennoch wieder auf den guten Weg gelangte. Die Zeit, die man gebrauchte, erscheint einem kurz, und man denkt, wie so leicht und einfach man das nächste Mal auf den Gipfel gelangen würde.

Damals nun empfanden wir zunächst nichts als ein großes Unbehagen; es war, als ob uns das frühere Glück zwischen den Fingern durchzusickern beginne und im Sande verlaufe. Wenn wir nun, wie es einmal üblich war, uns zu Familienzusammenkünften in den großen und edel ausgestatteten Gemächern einfanden, herrschte häufig eine beklommene Stille, die jeder von uns sich zu unterbrechen bemühte, wodurch eine erzwungene und unerquickliche Lustigkeit entstand. Ezard und Galeide waren die einzigen, die ein vollkommenes Bewußtsein von dem hatten, was die Veränderung verursacht hatte.

Wir andern, unfähig und auch nicht willens, einen vollen Einblick zu gewinnen, beschuldigten zumeist meinen Vater mit seinem vergiftenden und belastenden Argwohn, aber auch Lucile mit ihrer, wie wir zu glauben vorzogen, unberechtigten Eifersucht. Denn Ezard und Galeide gehörten zu jenen glücklichen Menschen, denen man recht gibt, und auf deren Seite man sich stellt, aus keinem andern Grunde, als weil das Schicksal und die Natur auf ihrer Seite stehen. Denn diese fragen nicht, wer recht habe nach den moralischen Grundsätzen der Menschen, sondern sie wissen, wer stark und lebensfähig ist, und den begünstigen sie. Daher erscheint der Stärkere oft roh, wenn er sich über ebenso gute oder bessere Menschen aufschwingt und wohl gar die Trümmer ihres Lebens zum Unterbau eines stattlichen Glückes benützt.

Zuweilen freilich, wenn sich die verhaltene Leidenschaft der beiden Unseligen verriet durch einen Blick oder ein verschleiertes Wort, schrak man zusammen, und ich fühlte dann einen Groll gegen sie aufsteigen, weniger aus moralischer Entrüstung über den Frevel, als aus Ärger über die Friedensstörer. Aber das ging schnell vorüber, wenn sie unbefangen miteinander plauderten, und man gab sich willig von neuem der erwünschten Täuschung hin. Oder aber die innere Leidenschaft und Qual prägte sich auf den beiden ungleichen und doch verwandten Gesichtern so gewaltig und zugleich so vornehm aus, daß man sich erschüttert und zu ihnen hingezogen fühlte und sie gern gebeten hätte, ihren Jammer auszusprechen, damit wir alle den Hohn des Schicksals, das zwei füreinander geschaffen und dann auf ewig getrennt zu haben scheine, als ein gemeinsames Verhängnis beklagten und ertrügen.

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