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XXXII

Niemand fand es auffällig, daß Lucile und ihr Kind an zwei aufeinanderfolgenden Tagen gestorben waren, da ja zur Cholerazeit selten ein Todesfall in einem Hause vereinzelt blieb. Vielleicht war keiner außer mir, der sich mit peinigenden Gedanken über den genauen Verlauf des Unglücks trug. Es erscheint mir jetzt wunderbar, daß ich trotzdem wie sonst mit Ezard verkehren konnte, ja, daß ich keinen Augenblick aufhörte ihn zu lieben, daß es mir sogar wohl tat, in seiner Nähe zu sein. Die Seele, die mich aus seinen dunklen Augen ansah, hatte etwas von bewußter Unschuld, womit er auf jeden, der ihn kannte, einen siegreichen Zauber ausübte. Vielleicht war es auch die Unwiderstehlichkeit der Leidenschaft, die in ihm war, die sich den anderen mitteilte, so daß man nicht fragte, wie er dies oder jenes tun konnte, sondern fühlte, daß er es mußte.

Ich hatte keinen Augenblick vergessen, was ich Lucile versprochen hatte, und um der Toten getreuer zu sein, als ich leider der Lebenden gewesen war, faßte ich den Entschluß, den Sarg, in dem sie und ihr Kind ruhten, selbst in ihre Heimat überzuführen.

Der Urgroßvater machte den Vorschlag, daß Galeide mich begleiten möchte. Dabei hatte er einen Hintergedanken, den ich sofort durchschaute. In unserer Familie sah man es für selbstverständlich an, daß Ezard und Galeide sich nach einer anständigen Frist heiraten würden; der Urgroßvater war aber besorgt, sie möchten die Frist allzu kurz ansetzen und dadurch Anstoß bei den Leuten erregen, und da er sehr darauf hielt, daß die Sitte nicht verletzt würde, wünschte er Galeiden zunächst einmal zu entfernen, indem das weitere sich dann schon machen würde. Sie war auch damit einverstanden, umsomehr als ich des Urgroßvaters Bitte unterstützte; denn ich freute mich darauf, in den Bergen der Schweiz mit ihr umherzustreifen. Auch Ezard hatte nichts einzuwenden, schien vielmehr den Plan zu billigen, vielleicht einfach deshalb, weil er Galeiden den Aufenthalt in dem schönen Lande gönnte; sie waren überdies beide so zuversichtlich und voll beglückter Ruhe über ihre Zukunft, daß das Wort Trennung gar keine Bedeutung für sie hatte; so unauflöslich fühlten sie sich verbunden. Wir reisten also, sowie die nötigsten Vorbereitungen getroffen waren, zusammen ab; Ezard begleitete uns eine Strecke. Sie nahmen beide fest und freudig Abschied voneinander; Ezard stand vor dem Zuge, bis er abfuhr, Galeide und ich sahen aus dem Fenster unseres Wagens. Sie lächelten sich zu, solange sie sich sehen konnten; in dem Augenblick erst, als wir uns vom Fenster wegwandten, sah ich, daß sie Tränen in den Augen hatte, und daß sie sehr bleich geworden war. »Ich dachte,« sagte sie zu mir, als sie meinen verwunderten Blick bemerkte, »ich wäre nicht traurig, und nun bin ich es doch. Es wurde mir auf einmal so bange. Wie leicht könnte er krank werden. Ich hätte doch lieber zu Haus bleiben sollen.« Ich suchte diese beängstigende Stimmung zu verscheuchen und erzählte ihr, um sie zu zerstreuen und zugleich vorzubereiten, von den Menschen und Verhältnissen in Luciles Heimat, wie ich sie vor Jahren hatte kennen lernen. Meine Beschreibung des jungen Gaspard, den ich, um ihn herabzusetzen, heimlich den Kasper genannt hatte, belustigte sie besonders, und da ich das bemerkte, erzählte ich ausführlich alles von ihm, was mir irgend in der Erinnerung geblieben war, womit ich auch meinen Zweck erreichte und ihre heitere Stimmung wieder herbeiführte. Luciles Mutter holte uns am Bahnhof ab, sie sah unverändert aus. Eine gewisse Ähnlichkeit in ihrem Gesichte mit Lucile mochte Galeiden bewegen, denn sie ging blaß und schweigsam neben der kräftigen Frau her; diese ihrerseits schien sogleich Wohlgefallen an meiner Schwester zu finden und äußerte freundlich, daß ihre Art sie an unsere Mutter erinnere, welche sie so gut habe leiden können. Sie entschuldigte ihren Sohn, daß er nicht auch zu unserem Empfang gekommen sei; die Zeit habe ihm nicht gepaßt. Er hatte, wie sie uns mitteilte, an verschiedenen Universitäten Naturwissenschaften und die Landwirtschaft studiert, sodann seiner Mutter einen Teil ihrer Arbeit abgenommen, allmählich neue Ländereien hinzuerworben und bewirtschaftete diese, fuhr aber nebenbei fort, sich wissenschaftlich zu beschäftigen. Es fiel mir auf, trotzdem wir selbst gern vermieden, von Lucile zu sprechen, wie wenig ihre Mutter selbst dabei verweilte. Nach Art der auf dem Lande lebenden Leute kargte sie mit der Äußerung von Gefühlen, ja mit den Gefühlen selbst. Lucile war tot; was war noch viel von ihr zu sagen? Sie kam nun bei den Geschäften der Erde nicht mehr in Frage, und das übrige ging den lieben Gott an, der den jenseitigen Dingen vorstand. Unsere Sorge, wie sie es auffassen würde, daß nicht Ezard selbst die Leiche seiner Frau in ihre Heimat führte, war gleichfalls überflüssig gewesen, denn es leuchtete ihr völlig ein, daß sein Beruf ihm nicht erlaubte, so unvorhergesehen eine nicht unbedeutende Reise zu unternehmen, ja, sie schien ihn daraufhin im Grunde höher zu achten als uns, die wir wie Schmetterlinge gleich auffliegen konnten, wenn es uns beliebte, ohne daß dadurch eine Lücke oder ein Schaden entstand. Gaspard sahen wir erst beim Abendessen, wo er sich kurz und ziemlich ungenügend entschuldigte, daß er uns nicht eher begrüßt habe. Mich erinnerte er gleich daran, in wie wenig liebenswürdiger Weise wir zur Zeit unserer ersten Bekanntschaft miteinander verkehrt hatten, was ich, so gutartig und launig es auch klang, doch zugleich als eine Warnung auffaßte, etwa des Sinnes: wenn ich mich nicht anders betrüge, wie damals, so wäre er auch noch derselbe geblieben und schlüge noch geradeso mit der Faust durch die Scheibe, wenn er seinen Willen nicht anders durchsetzen könnte. Galeide warf mir einen belustigten Blick zu, aus dem ich entnehmen konnte, daß sie ihn abscheulich fand, was mir zu ungemeiner Genugtuung gereichte. Ich muß zwar sagen, daß er nicht eigentlich häßlich war; aber sein Gesicht fiel im ersten Augenblick fast schreckhaft auf, weil sich eine Willenskraft und Willenslust darin ausprägte, wie sich das gemeinhin wohl bei wilden Völkerstämmen findet, die auf die Schranken der Gesellschaft keine Rücksichten nehmen oder von solchen überhaupt nichts wissen. Was mich vorzüglich reizte und mir auch das höflichste Wort, das von seinen Lippen kam, vergällte, war die Einbildung, oder es mag auch Wirklichkeit gewesen sein, er teile es mir zu als eine Belohnung für meine bisher tadellose Aufführung. Galeiden beobachtete er scharf und mit dreister Unverhohlenheit, worüber ich mich gleichfalls ein wenig ärgerte. Sie schien es aber nicht zu bemerken, und plauderte meistens mit Madame Leroy, worin sie eine bescheidene Liebenswürdigkeit und Anmut entfaltete, die ihr durchaus eigentümlich war, obwohl sie keineswegs die ausgeprägteste Seite ihres Charakters bildete. Wenn sie mit Gaspard sprach, so geschah es mit einem gewissen Überlegenheitsgefühl, das einesteils aus dem Bewußtsein der Jahre, die sie mehr zählte als er, entspringen mochte, andernteils aber aus dem Vorurteil, das ich ihr eingeflößt hatte; überhaupt pflegte sie jungen Männern geringschätzige Gleichgültigkeit entgegenzubringen. Ich konnte mir nicht ganz klar darüber werden, welchen Eindruck das auf ihn machte, und ob er sich etwa gekränkt fühlte, was ich, wie ich ihn sonst kannte, für wahrscheinlich ansah. Er betrug sich sehr gelassen und anständig, aß mit großem Appetit, was mir mißfiel, da mir meine Gesundheit eine solche Entfaltung des Ernährungstriebes nicht mehr erlaubte, trank hingegen sehr wenig, was ich ihm als Unhöflichkeit und Engherzigkeit auslegte, besonders da er meiner Aufforderung, an diesem Abend eine Ausnahme zu machen, ein trockenes, unverziertes Nein entgegensetzte, wobei es auch verblieb. Als Galeide und ich unsere Gedanken über das bisher Erlebte austauschten, war Galeide sehr aufgeräumt und voll lustiger Einfälle, die auf Gaspard Bezug hatten. Indessen war der folgende Tag ein ernster, da die Beisetzung Luciles in heimischer Erde nun erfolgte. Gaspard hatte den Sarg am vorigen Tage ohne daß man übrigens etwas davon gemerkt hätte, ins Haus schaffen lassen. Er wurde nun im Flur aufgestellt und von hohen gelben Wachskerzen umgeben, die ihr schwaches rotes Licht traurig in die kalte Tageshelle hineinhielten. Der Sarg war gänzlich mit losen, abgeschnittenen Rosen überdeckt, was wohl Gaspard angeordnet oder selbst getan hatte. Als ich einmal vorbeiging, da gerade niemand anwesend war, betrachtete ich dies allerschönste, farbenreiche Sommerleben über der Schwelle des Todes gedankenvoll, und indem der feine, aber starke Duft aus der Menge der Kelche zu mir aufstieg, mußte ich jener Rosen denken, welche einst dieselbe Tote an ihrem Hochzeitstage, dem schönsten wohl und zugleich dem unheilvollsten ihres Lebens, geschmückt hatten. Wie leicht konnte ich mir die dazwischen liegenden Jahre hinwegdenken und diese Rosen für dieselben ansehen, die damals, etwa gestern, vor dem Altare geblüht hätten und heute nun das Kind des Hauses in die Erde begleiteten; in solchen seltsamen Vorstellungen war ich befangen, als Gaspard auf den Flur trat. Ich hatte im Sinne, zu fragen, ob das Rosen von dem Strauche unter seinem Fenster seien; aber ich war unsicher, ob der Ausdruck seines Gesichtes eine gutgelaunte Antwort verheiße; einer anderen aber wollte ich mich nicht aussetzen, daher wandte ich mich kurz ab und ging, um Galeiden zu holen, denn der Sarg sollte nun in die Kirche getragen werden, wo wir einer gottesdienstlichen Totenfeier beizuwohnen hatten. Da ich in Galeidens Zimmer trat, in dessen Mitte sie mich erwartend stand, erschrak ich über ihren Anblick, und mit einem Male regten sich jene fluchwürdigen Phantasien von Luciles Todestage wieder in mir, die ich mit so großer Mühe zum Schweigen gebracht hatte, denn sie sah aus, als ob die Drommeten des jüngsten Tages sie zum Gerichte riefen, und sie sollte nun vor den allwissenden Gott treten. Ihrer Art nach, die ich genugsam kannte, trug sie aber dabei das Haupt hoch und stolz, nicht wie einer, der sich verteidigen will, sondern wie einer, der sein Verdammungsurteil erwartet hat und haben will, um sich dann freiwillig und ohne Klage in den Abgrund der Hölle zu stürzen. Ich versuchte mir indessen einzureden, daß das Andenken an die einst geliebte Freundin und das, was diese um ihretwillen gelitten hatte, dazu an das Glück, das ihr aus dem Unglück der Toten erblühen sollte, eine jähe Erschütterung in ihr verursacht habe, die sich in ihrem Äußeren auspräge. Ich fragte sie, ob sie auch lieber zu Hause bleiben wolle, wozu sie nur den Kopf schüttelte, und wir gingen zusammen eine Treppe hinunter, die auf den Flur führte. Dort stand Gaspard noch neben dem Sarge, und es war mir auf einmal, als habe er auf uns gewartet, vielleicht um zu sehen, welchen Eindruck der Anblick des geschmückten Sarges, den Galeide noch nicht gesehen hatte, auf sie machen würde. Denn es war im Grunde keineswegs unmöglich, daß sich Lucile, wenn auch nicht ihrer Mutter, doch ihrem Bruder gegenüber brieflich ausgesprochen hatte über die unerträglichen Verhältnisse, in denen sie lebte, und daß er nicht nur eine Abneigung gegen uns gefaßt hatte, sondern etwa sogar Verdacht gegen Galeide, sie möchte das Ende seiner Schwester mindestens herbeigewünscht haben. Dieser Einfall peinigte mich, und ich beobachtete ihn immerwährend, konnte aber nichts geradezu Feindseliges oder Mißtrauisches in der Art, wie er sie ansah, bemerken, vielmehr lag zuweilen etwas wie Bewunderung und eine sanfte Güte darin. Ich konnte nicht umhin, dabei zu bemerken, daß der seelische Ausdruck aus seinen samtschwarzen Augen herausglänzte wie ein Gestirn aus dem bläulichen Grunde der Nacht.

Wir gingen nun in die Kirche, wo wieder der Sarg aufgestellt und eine Kerzenreihe angezündet wurde; Galeide und ich standen an seiner einen Seite, Gaspard und seine Mutter an der anderen uns gegenüber, so daß wir einander fortwährend sehen mußten. Von dem, was der französische Geistliche nun sagte, hörte ich gar nichts, denn in mir selbst sprach unaufhörlich die Stimme der Erinnerung, und viele Bilder zogen an mir vorbei, von denen der rosenbedeckte Sarg in der Dorfkirche das letzte war. Besonders lag es mir im Sinn, daß ungefähr an der Stelle, wo jetzt der Sarg war, einst Lucile am Arme Ezards gestanden hatte, ich wohl auch da, wo ich jetzt stand, und daß Galeide etwa den Platz meiner Mutter einnahm. Zwischendurch sah ich Gaspards Augen unablässig auf meine Schwester gerichtet, was mich jedesmal, wo ich es bemerkte, in Unruhe versetzte; wenn ich dann aber auf sie blickte, so schien sie nichts davon zu ahnen, sondern starrte ins Leere, als ob sie mitten in einem Traume sei. Es ging mir stets so, daß ich sie am unbefangensten sah, wenn ich mich in das Gemüt eines anderen versetzte, der sie betrachtete; und so, indem ich mir vorstellte, was Gaspard etwa denken könnte, indem er sie ansah, schien mir ihr weißes Gesicht mit den fast niemals ganz geöffneten Augen eine wundervolle Süßigkeit auszuströmen, wie der Duft einer Sommerblume, etwas das sich wie Silbersaiten leise klingend um die Seele spinnt. Wie ich das empfand, schien es mir nicht unnatürlich, wenn Gaspard sich in dies ihm so ungleiche Wesen verlieben würde, was für Vorurteile oder Verdacht er auch vorher gegen sie gehabt hätte, und dieser Gedanke beruhigte mich und behagte mir sogar außerordentlich, da ich ihm die Demütigung, die sich für ihn unfehlbar daran knüpfen mußte, wohl gönnte. Gaspard hatte aber in seiner eisernen Verschlossenheit etwas so schwer zu Enträtselndes, daß ich alle Augenblicke an dem, was ich eben von ihm gedacht hatte, wieder irre wurde; auf diese Weise beschäftigte er mich beständig mit sich, ohne es darauf abzulegen, was mich immer mehr mit feindseliger Gesinnung gegen ihn erfüllte. Von meinen Gedanken in dieser Richtung ahnte Galeide sicherlich nichts, und ich wiederum wußte nicht, welcher Art die inneren Qualen waren, die sie während des Gottesdienstes zu erleiden schien. Als es vorbei war und der Sarg aufgehoben wurde, um nach dem Friedhof gebracht zu werden, fiel eine der Rosen, welche ihn bedeckten, herunter, und Galeide, wahrscheinlich ohne jede Absicht, vielleicht ohne sich ihrer Handlung überhaupt bewußt zu sein, bückte sich nach ihr und behielt sie in der Hand, was Gaspards beobachtenden Blicken, wie ich bemerkte, nicht entging; meine Phantasie, die nun einmal im Gange war, legte sich den Ausdruck seines Gesichtes so aus, als hielte er es für ein gutes Zeichen, daß sie eine Blume, die er gepflegt und abgeschnitten hatte (was sie aber vielleicht nicht einmal wußte), auflas und mit sich nahm. Wir gingen nun, wie es dort üblich ist, hinter dem Sarge her zum Kirchhof, der keineswegs schön, nichts als ein steif angelegter Garten war, übermäßig geputzt, grell prangend von bunten Blumen, aber wegen seiner Lage ein wahrhaft himmlischer Fleck Erde genannt werden konnte. Er erstreckte sich hügelig unweit der Kirche oberhalb des Dorfes, von wo aus man nach allen Richtungen einen freien Blick hatte und am Horizonte das weiße Band der Schneeberge schimmern sah. Daß das Auge so ungehemmt ins Weite dringen konnte, gab einem ein so rechtes Bewußtsein von der Unbegrenztheit der Welt, was verbunden mit dem Anblick der schmalen Gräber, zwischen denen man stand, das Herz mit ahnungsvollem Weh bedrängte. Es war mir, als kerkerte ich wie ein Henker das armselige junge Wesen hier ein, ehe sie nur ein einziges Mal diese freundlichen, grünen Gefilde und die strahlenden Berge, unter denen ihre Kindheit glücklich verflossen war, wiedergesehen hatte. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, als müsse auch Galeide so empfinden, ja, sich des Lebens schämen, in dessen Schmucke sie so stark und jung an der traurigen Grube stand, die jener Unglücklichen bereitet war. Ich konnte auch verspüren, denn sie hatte meinen Arm genommen, daß sie zuweilen ein flüchtiges Zittern überlief, und ihre Augen hafteten mit angstvollem Blick auf dem Sarge; aber wie sie nun einmal war, konnte es sein, daß sie gar nicht an Lucile dachte, sondern an den Tod überhaupt, den sie weniger fürchtete als geradezu haßte und, wenn man sagen darf, befehdete. An Luciles Mutter sah ich hier zum ersten Male einige Bewegung, nichts dergleichen jedoch an Gaspard, welcher dafür aber mit Ausdauer und Vertiefung betete. Weil ich selbst nichts von Gläubigkeit oder Frömmigkeit in mir hatte, setzte ich auch bei andern nicht leicht derartiges voraus, sondern hielt zunächst jede Ausübung eines religiösen Gebrauches für nicht viel besseres als Heuchelei, besonders wenn ich sie an Männern wahrnahm, die ich für gebildete und denkende Leute halten mußte. Daher reizte mich auch dies Beten an Gaspard, obgleich ich im Grunde wohl wußte, daß es ihm gründlich erwogener Ernst damit war. Als Galeide, die gänzlich in ihren Gedanken versunken gewesen war, durch ein Zeichen von mir auf ihn aufmerksam wurde, öffnete sie ihre Augen weit mit grenzenlosestem Erstaunen; denn während ich in religiösen Dingen mehr das war, was man gemeinhin skeptisch nennt, hatte sie etwas geradezu Heidnisches an sich und einen natürlichen Hang zur Auflehnung gegen das christliche Wesen, in der Art, wie ihn die alten Sachsen zu Karls des Großen Zeit gehabt haben mögen. Sie sah mich an, um zu wissen, was das fanatische Gebaren Gaspards auf mich für einen Eindruck mache, und da sie meinem Blick begegnete, schlüpfte ein allerliebstes, gutes Lächeln über ihr Gesicht, das mit einem Male dies Antlitz, welches mir erst vor wenigen Stunden so medusenhaft erschreckend, so schicksalsvoll erschienen war, in lauter unschuldigen Glanz und Schimmer tauchte. Seither sah ich sie nie mehr so lächeln. Es war etwas von der Art der Sonne darin, die über Gerechte und Ungerechte scheint; mochte sie etwas für noch so töricht oder fehlerhaft halten, sie hatte weniger Tadel und Spott dafür als Mitleid oder bescheidenes Erstaunen.

Als dieser Tag vorüber war, schien es, als wäre ein Stein von Galeidens Herzen weggenommen; das Lachen kam ihr aus der Brust hervor, wie ein Lebendigbegrabener, von dessen Sarge man noch zur rechten Zeit den Deckel gehoben hat, aus seinem dunkeln Käfig ins Licht zurückkehrt; ohne Ursache rieselte es beständig daher, als würde es nicht müde sich selbst zu hören und sich seiner Erlösung zu freuen. Wenn wir allein waren, lachte sie über Gaspard und wußte so viel köstlich belustigende Dinge über ihn zu sagen, daß ich mich verwunderte, wie sie das alles in so kurzer Zeit wahrgenommen haben konnte, und noch dazu ohne ihn beobachtet zu haben. Sie lachte ihm zuweilen auch dreist ins Gesicht, und ich glaube, er bemerkte recht gut, daß sie keineswegs sehr von ihm eingenommen war. Das erschütterte aber seine Ruhe und Sicherheit keineswegs, sondern er fuhr fort sie anzusehen, wo er nur konnte, so daß ich oft dachte, es müsse ihr lästig fallen.

Wir hätten nun füglich, da unsere Aufgabe erfüllt war, unsere Reise fortsetzen können, denn wir hatten vor, nach Genf zu gehen, wo Galeide ihre Verpflichtungen, die Anstellung am Orchester betreffend, lösen und zugleich von alten Freunden Abschied nehmen wollte. Aber Madame Leroy lud uns unerwarteterweise so dringend ein, unseren Aufenthalt zu verlängern, daß wir nicht anders konnten, als einige Tage zuzugeben. Ich meinerseits war zufrieden, so lange wie möglich in der Nachbarschaft der Berge, der Freunde meiner Jugend, zu bleiben, und besorgte nur, Galeide, die doch nicht gern die Heimat verlassen hatte, möchte schleunig wieder dorthin zurückkehren wollen. Sie ging aber ohne weiteres auf die Verlängerung unseres Aufenthaltes ein und verriet nicht einmal besondere Sehnsucht, wieder nach Hause zu kommen, so daß sie mir, wie schon öfters, wie eine rechte seelenlose Undine vorkam. Ob es nun die vertraute Stimme der göttlichen Natur war, die sie in jenem bevorzugten Lande lockte und hielt, oder ob bereits etwas anderes sein verhängnisvolles Band um ihre Seele geschlungen hatte, weiß ich nicht zu sagen. So blieben wir zu unserm Verderben.

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