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XVI

Es ist unsäglich, was mein Vater einsam gelitten haben muß. Es soll vorkommen, daß Ärzte aus dem Zustande eines Leichnams, den sie sezieren, den Grad der Schmerzen ermessen können, die der Lebende erlitt; in solcher Weise erkenne auch ich jetzt erst, da ich das Vergangene ganz überblicke, wieviel elender es in ihm ausgesehen haben muß, als wir annehmen wollten. Denn es ist nicht anders möglich, als daß er den Sturz des guten alten Hauses, das seinen Namen trug, lange voraussah, und trotzdem arbeitete er weiter, unermüdlich und bis zur Erschöpfung, und was das bitterste war, ohne Hoffnung. Davon sagte er zu niemandem etwas, was freilich ein Vergehen war, aber welches ihm vorzuwerfen mir, seinem Sohne, nicht ziemt. Was für Menschen müssen wir gewesen sein, daß er nicht wagte, die Standhaftigkeit unserer Liebe in einem Feuer des Leidens zu prüfen! Schienen wir nur den Ernährer in ihm zu schätzen? Es überläuft mich und durchschauert mich bis ins tiefste Mark, wenn ich mir solche Fragen stelle. Damals aber lebten und dachten wir nur von Augenblick zu Augenblick. Galeide und ich atmeten leichter, wenn unser Vater sich des Geschäfts wegen auf weite Reisen begab. Wir waren dann so gut wie allein in dem großen Hause und trieben es, wie es uns behagte. Galeide bekümmerte sich nur ziemlich obenhin um die Haushaltung, las auch viel, besonders aber war ihr die Laune gekommen, das Geigenspiel zu erlernen, und dahinein setzte sie einen auffallend starken und dauernden Eifer. Unser Vater pflegte sie beständig zu bestürmen, daß sie sich von ihm beschenken ließe, und damit wollte er, wenn auch nicht ihre Liebe erkaufen, doch der seinigen Ausdruck geben, und er war überselig, wenn sie einmal einen Wunsch hatte. Zumeist wollte sie aber nichts haben oder nur geringfügige Dinge, denn sie war einsichtig genug, um überflüssige Ausgaben gern vermeiden zu wollen, aber um die Geige und den dazu gehörigen Unterricht ließ sie sich zu bitten herbei, ja zu betteln, ängstlich und verschämt wie ein Kind. Papa hätte ihr daraufhin ohne Zögern ein solches Instrument aus dem lebendigen Höllenfeuer herausgeholt, wenn er es anderswoher nicht hätte erlangen können.

In unserer Familie war fast ein jeder musikalisch und zwar, wie ich wohl sagen darf, in einem besseren Sinne, als er dem Worte gewöhnlich untergelegt wird. Ich weiß nicht, warum es keinem von uns eingefallen war, sich diese Kunst als Beruf zu wählen, es sei denn, daß wir sie zu sehr liebten, um sie ins Alltägliche herabzuziehen. Ezard spielte das Klavier so schön, daß er ohne Zweifel etwas Großes darin erreicht hätte, wenn er neben seiner Ausdauer auch Zeit darauf hätte verwenden können, und mir, wenn ich es auch in meiner Trägheit und Flüchtigkeit nicht dazu brachte, etwas Tadelloses zu leisten, war doch die Musik das Schönste im Leben, die Freundin und Trösterin, vor der ich kniete und in deren Schoß ich mein Haupt legte, ohne mich zu schämen. Anfangs war es mir eine Widerwärtigkeit, daß Galeide das Geigenspiel erlernte; denn es gab nichts als greuliche Mißtöne und edle, mir werte Lieder als Jugendstücke bearbeitet mit kärglichem Striche mühselig vorgetragen. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß sie rasch auf eine Stufe gelangte, wo es weniger kümmerlich zuging, so daß ich sie nicht ungern auf dem Klavier begleitete, wobei wir immer innig froh und zufrieden miteinander waren. Wir hatten in unserm Hause ein Musikzimmer, in dessen Mitte der Flügel stand, der Abends durch einen darüberhängenden Kronleuchter beleuchtet wurde. Die Wände waren abgeteilt in Fenster und hohe Spiegel, welche die ganze Höhe des Zimmers hatten und unser Bild wiedergaben, wenn wir musizierten. Ich erinnere mich, daß ich häufig einen Blick auf Galeidens geigendes Spiegelbild warf, weil sie mir da um vieles besser gefiel als in Wirklichkeit. Das erste Stück, was wir zusammen spielten, war: Lang lang ist's her! Weil sie den Bogen noch sehr zaghaft führte, klang es, wie etwa wenn einer unter Tränen singt, was sich nicht übel für dieses Lied eignete und die Ursache war, daß ich es nie von ihr hören konnte, ohne tief im Innern gerührt zu werden. In diesem Augenblicke ist es mir, als käme die so oft gehörte Melodie noch einmal durch das offene Fenster zu mir herein mit langgezogenen, betrübten Geigentönen; es ist aber wohl nichts als das Schalmeien eines Hirtenbuben auf den Bergen gegenüber.

In dieser Zeit gerieten Ezard und Galeide immer tiefer in ihre Liebesleidenschaft hinein, was ich zwar damals nur dumpf empfand, aber keineswegs so genau wußte, wie ich es jetzt leider alles weiß. Zuweilen schien es mir, als ob Galeide darauf warte, daß ich fortgehe, damit sie mit Ezard allein zusammen sein könnte, aber ich forschte nicht weiter nach, weil ich mich fürchtete. So waren sie oft in dem großen, fast leeren Hause allein miteinander, zuweilen ganz öffentlich, indem sie miteinander musizierten, zuweilen ohne daß es irgend jemand wußte. In der Zwischenzeit lebten sie in ziemlich guter Haltung dahin und versuchten wie alltägliche Menschen aufzutreten, wodurch sich auch Lucile gern beschwichtigen ließ, so daß sich äußerlich ein besseres Verhältnis herstellte. Aber für Ezard und Galeiden war das nur durch die grausamste Verstellung und beständiges, quälendes Ansichhalten möglich, und sie suchten in ihrer Verzweiflung allerhand Auswege, um es sich zu erleichtern.

Es war damals bei Gelegenheit einer Typhusepidemie auf das schlechte Trinkwasser in unserer Stadt aufmerksam gemacht worden, und der Senat kam überein, daß eine sorgfältige Untersuchung und eindringliche Besserung durchgeführt werden sollte. Zu diesem Zwecke wurde eine Kommission eingesetzt, welche zunächst die Wasserleitungen und diesbezügliche Einrichtungen in anderen Städten studieren und vergleichen sollte; Onkel Harre stand an der Spitze derselben. Er brachte auch gleichzeitig den Gedanken vor, daß die alte Medizinalordnung, welche durchaus nicht mehr genüge, durch eine neue ersetzt werden müsse und zwar in der Art, daß sie möglichst mit den andern des Deutschen Reiches übereinstimme, soweit sie brauchbar erschienen. Hiedurch kam Ezard auf den Gedanken, seinem Vater einiges von der dazu erforderlichen Tätigkeit abzunehmen; daß er sich dazu mancherlei neue Kenntnisse erwerben mußte, zog ihn besonders an, da es ihm anregende Beschäftigung zu versprechen schien, ganz besonders aber dachte er die Reisen, die in dieser Angelegenheit gemacht werden mußten, zu unternehmen und für seine persönlichen, frevelhaften Zwecke auszunützen. Er sagte sich nämlich, daß er einen Vorwand haben würde, zu allen Zeiten abwesend zu sein, was er dann öfters benützen könnte, um Galeiden zu sehen, während man ihn außerhalb unserer Stadt wähnte. Da dieser Beweggrund jedermann außer Galeide verborgen blieb, erschien es seltsam und willkürlich, daß Ezard sich mit Dingen beschäftigen wollte, die seine bisherige Tätigkeit so hinderlich unterbrechen mußten; man bewunderte von der einen Seite seine Vielseitigkeit und tadelte von der andern seinen Mangel an Ausdauer, alle hielten ihn aber, wie sie es auch beurteilten, für einen auffallenden und unberechenbaren Menschen.

Auf alles dies hörte Ezard nicht im geringsten, obwohl er sonst bescheiden genug war, um auf das Urteil der Menschen zu hören, selbst in Sachen, denen er von vornherein besser gewachsen war als sie. Aber das war nun einmal seine Eigenart, daß sein Wille gewöhnlich ruhte und sich niemals bei keiner Gelegenheit als unbequemer Eigensinn oder Grille fühlbar machte, dann aber, wenn er einmal rege geworden war, unwiderstehlich auf sein Ziel losging mit Leidenschaft und Klugheit zugleich. Wie nämlich ein erfahrener Läufer sich niemals überstürzt, sondern mäßig und gehalten sich bewegt in einem Schritt, den er lange auszuhalten vermag und dadurch zuletzt die Unbedachten, bald Ermüdeten weit hinter sich läßt, so handelte er sicher und ruhig, zwar von Leidenschaft bewogen zum Handeln, aber handelnd ohne Leidenschaft. Gerade das war es, was ihn immer, auch wenn er frevelte, überlegen und groß erscheinen ließ, so daß man ihn bewunderte, indem man ihn tadelte.

Bei dieser Gelegenheit befreundete sich Ezard mit dem Ingenieur, der zur Begutachtung der Wasserwerke zugezogen war. Die technische Wissenschaft hatte für Ezards Tätigkeitslust einen besonderen Reiz, weil sie zu sichtbaren und nützlichen Erfolgen führt, auch weil sie ein gewisses Geschick der Hände erfordert, worin sich frische, arbeitskräftige Menschen gewöhnlich gerne üben. So war der Ingenieur schon darum für Ezard anziehend, weil er ihn in diese Wissenschaft einführen und ihn belehren konnte. Auch hatte er in seinem Fache reiche und glückliche Ideen, womit er Eindruck auf meinen Vetter machte, der sich selbst für phantasielos hielt und jene anmutige Fruchtbarkeit des Geistes, die zwischen dem werktäglichen Getreide des Lebens die roten Klatschrosen aufblühen läßt, an anderen leicht überschätzte. Tatsächlich freilich hatte der Ingenieur so unendlich viel weniger Phantasie als Ezard, daß er ihren Wert und ihre Schönheit nicht einmal einzusehen vermochte, sondern sie nur, wo er ihre Spuren fand, für ein störendes Übel ansah. Nur in seinem Fache war er erfinderisch, weil er folgerichtig war und sich durch nichts ablenken und zerstreuen ließ. Er stammte aus Norwegen und hieß Karlsen. Er trug einen langen, gegabelten Bart, den er über die Schultern zurückschlagen konnte, ein Kunststück, das ihn bei Eva und Galeiden beliebt machte, welche beide zuweilen etwas ausgesprochen Kindisches an sich hatten. Ezard nämlich führte ihn alsbald in der Familie ein, wo er wohl aufgenommen wurde, ja er brachte es zu einer kaum je dagewesenen Beliebtheit und gewann besonders auf Onkel Harre einen solchen Einfluß, daß er ihn in vielen Dingen geradezu beherrschte. Da man damals anfing, sich für das Norwegische, das uns durch die berühmten Schriftsteller dieses Volkes nahegerückt wurde, zu interessieren, betrachteten wir ihn als eine willkommene Erwerbung und begrüßten mit Jubel jeden Zug an ihm, der den Ibsenschen oder Björnsonschen Typen zu entsprechen schien. Für manche bei uns einheimischen Begriffe, die mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auftreten, als von der edlen Weiblichkeit, der idealen Armut und manchen anderen überirdischen Dingen, hatte er gar kein Verständnis. Verstand und Arbeitstrieb gefielen ihm an jedem Menschen, einerlei ob an Weib oder Mann, am besten, und er hatte deswegen offenbares Mißfallen an Galeide, die er für einen verdammlichen Luxusgegenstand ansah, während er mit Lucile, die beständig im Hause herumwirtschaftete, eine Menge von Tages-, Wochen- und Monatsblättern hielt, um alle Fragen der Gegenwart daraus zu studieren, kurz, vor Eifer und Emsigkeit brannte, wohl zufrieden war und auch Eva eher gelten ließ, die doch wenigstens ein Kind hervorgebracht hatte. Galeide war stets überglücklich in seiner Gesellschaft, da sie die Meinung, die er von ihr hatte, belustigte; ich meine sie zu sehen, behaglich in ihrem Schaukelstuhl wie ein besonntes Kätzchen, wie sie ihn mit freundlichem Lachen aufforderte, sein Kunststück mit dem Barte zu zeigen. Durch solches Betragen pflegte sie Luciles Tadel hervorzurufen, während Ezard und ich unser Vergnügen kaum unterdrücken konnten. Ich habe noch vergessen von Karlsens Augen zu sprechen, welche insofern nicht unwichtig waren, als sie neben seinem Verstande die größte Ehrlichkeit ausdrückten und ihm ein Gepräge der Unbestechlichkeit verliehen. Es wäre unmöglich gewesen, den geringsten Zweifel in eins seiner Worte zu setzen, wozu noch beitrug, daß er niemals über Dinge ein Urteil abgab, mit denen er sich nicht gründlich beschäftigt hatte; eine Eigenschaft, die auch meinen Vetter auszeichnete.

Mit diesem Norweger begab sich Ezard nun einen großen Teil des Jahres auf Reisen. Die unstete Lebensweise entsprach ganz dem Zustande seines Inneren, und es tat ihm wohl, daß er den Stürmen, die seine Seele jagten, in der körperlichen Wirklichkeit nachgeben und sich von Ort zu Ort treiben lassen konnte. Denn die Übereinstimmung zwischen dem Körperlichen und Geistigen tut uns immer wohl und ein kämpfendes, ringendes Herz schlägt zufriedener in einem tätig bewegten Leibe als in einem ruhenden.

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