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XXV

Während dieser ganzen Zeit bekam der Urgroßvater regelmäßig die langen, gut gelaunten Briefe Galeidens. Er pflegte sie, nachdem er sie für sich gelesen hatte, sich noch einmal von mir vorlesen zu lassen, was ich aus verschiedenen Gründen nicht immer mit größter Bereitwilligkeit tat. Es war in diesen Briefen ein, allerdings ziemlich gefälliges, Durcheinander von flüchtigen Berichten, Hoffnung, Zärtlichkeit, wenig Heimweh und ungemein viel von dem, was man in einem kurzen Worte Unsinn nennen kann. Denn allem was durch ihre Hände ging, setzte sie gleichsam ihr Siegel, eine lachende Maske, auf, wie ein Kanzler kein Dokument ohne einen Druck seines Petschafts oder Ringes von sich läßt; und wäre es ein Testament oder ein Todesurteil gewesen, sie hätte es nicht unterlassen können, dies kecke Abzeichen irgendwo verstohlen zwischen die ernsthaften Zeilen zu bringen. Daneben hatten es ihre Briefe an sich, daß etwas wie leichte Bergluft daraus hervorzuquellen schien, so daß mir Neid und Weh ankam um das glückliche Land, in dem sie lebte wie im Schoße des Paradieses. Wenn dann in meine sehnsüchtigen Träume der klotzige Schatten der breiten, gleichmäßigen Häuser um mich herum fiel, erfaßte mich wilder Überdruß und ein Haß gegen meine Vaterstadt, als wäre sie mein Kerker. Das war nun auch insofern richtig, als ich in ihr zu bleiben gezwungen war wie ein Gefangener an seiner Kette, und ich verabscheute das nackte, freche Pflaster nicht weniger, als jener das faulende Stroh, auf dem er liegt.

Ich hatte damals weder einen Gott, noch einen Helden, noch eine Liebe oder einen Freund, zu dem ich mit unbedingter Verehrung aufgeblickt hätte, und da es eigentlich die Andacht ist, welche den Erdensohn beflügelt, worauf er sich wie ein Vogel wiegen kann über unserer einförmigen Kugel, wäre mein Leben ein recht tierisch kriechendes gewesen, wenn die allgütige Natur mich nicht beschützt hätte. Seit jenem Sommer auf den milden Höhen des Harzes war die Liebe zur Natur wieder recht wach in mir geworden, wie man sich etwa auf ein altes Kinderliedchen besinnt, das man einst am Weihnachtsabend oder beim Spiel auf der Wiese mit heller Glockenstimme gesungen hat. Die Erinnerung an jene Zeit, wo ich als Knabe auf dem Wallensee gefahren war, Verse machte und die Schneeberge anstaunte wie uralte Väter oder Götter der Vorzeit, tauchte in meinem Bewußtsein wieder auf, dem versenkten Hort im Strome vergleichbar, der sich zur geweihten Stunde regt, um seine Rubinröte im Scheine des Vollmonds auszuleuchten. Allmählich traten die Bilder der herrlichen Gegenden der Schweiz mit größter Deutlichkeit wieder vor meine Augen, und wie ja alles Schöne miteinander Verwandtschaft hat, erschienen mir die laubigen Hügel im Harze wie die Brüder jener gewaltigeren Felsberge, und ich redete mit ihnen, als sähe ich sie wieder nach einer langen Zeit, während welcher ich mich ziellos und unbesonnen durch Wüsteneien geschlagen hätte, und klagte mich der Saumseligkeit an, daß ich so lange ausgeblieben sei. Aber die Natur ist zu weise, um zu zürnen; ihre Arme sind für jeden, der sie ruft, geöffnet, und für Lippen, die nach ihr schmachten, hat sie immer den Kuß erwidernder Liebe und Versöhnung. Mir war es, als könne sie mich entsündigen und verjüngen, als habe sie jenen Tau, der die Sünde abwäscht, und wäre sie gleich blutrot, und jenes Lethewasser, in dem sich leidende Seelen berauschen können. Zu manchen Bergen und Bäumen stand ich in einem ganz besonderen Verhältnis, und ich konnte mir einbilden, wenn ich in der Stadt war, daß sie über die flache Lüneburger Heide hinüber nach mir auslugten und sich kopfschüttelnd frugen, wo ich bliebe. Dann warf ich mich in Gedanken in das volle Moos hinein und schluchzte: wißt ihr denn nicht, daß ich arm bin? Ein Bettler und ein Sklave! Und eine solche Bitterkeit ergriff darüber mein Herz, als ob die ganze Welt Weihnachten feiere, und mir allein sei nichts, gar nichts beschert worden. Dann aber hörte ich die Bäume mit tieftönigem Rauschen göttliche Trostesworte zu mir sagen, die mir, wenn auch dies alles nur Träume waren, wirklich in die Seele drangen und sie beschwichtigten.

Noch heute, wo die stolzesten Berge und die grünsten Almen in mein Fenster scheinen, muß ich mir sagen, daß nichts ungerechter und härter zu sein scheint, als die Verschiedenheit des Bodens, dem ein jeder entspringt. Manch einer kennt die schönen Wunder der Natur nur aus Büchern, die Beglücktere davon geschrieben haben, und je besser diesen ihre Schilderungen geglückt sind, desto größer wird die Sehnsucht dessen, der sie liest. Und selbst für den Bevorzugten, der die Länder seines Herzens aufsuchen kann, bleiben sie doch nur eine schöne Fremde, an der er keinen Anteil hat. Es ist wohl empörend, andere prassen zu sehen, wenn man selbst bei redlicher Arbeit und Bemühung darbt; aber nach allem Irdischen, von Menschen gemachten kann man doch ringen und trachten, und darin schon findet sich Beruhigung. Aber wenn die Natur kargt, entweder indem sie uns verkürzt innerlich oder äußerlich, oder indem sie sich selbst uns entzieht, so ist es, als sei uns ein Fluch als Patengeschenk in die Wiege gelegt. Einen solchen vermag wohl der eine oder der andere aus der Kraft seines Geistes heraus zu überwinden; wer es aber nicht vermag, den sollte man nicht schelten oder verachten, denn er war ein ungeliebtes Kind und hat in den Tagen des Wachstums ungedeihliche, kärglich bemessene Milch eingesogen.

Galeiden hatte ihr heller Stern in ein gesegnetes Land geführt, wo alle ihre Säfte frisch zu quellen, und alle ihre Zweige frisch zu grünen anfingen, so daß es ein lustiges Rauschen gab, wenn die Elemente sie bewegten. Zuweilen war ich gesonnen, es ihr zum Vorwurf zu machen, daß sie so prahlerisch in ihren Kräften dastand, und indem sie von der kümmerlichen Bedrängtheit unseres Lebens so weit entfernt war, sich von uns losgelöst zu haben schien. Aber ich sagte mir doch, daß in ihren Briefen wohl nicht alles zu lesen stände, und nicht alles ganz so, wie es war. Obwohl es mir hätte zur Genugtuung gereichen sollen, so hätte ich es im Herzen vielmehr für einen gröblichen Verrat gehalten, wenn sie sich von Ezard losgesagt hätte; aber ich hielt es für nicht anders möglich, als daß sie noch in Verkehr miteinander ständen, wenn ich auch keine Beweise dafür hatte und überhaupt niemals weder Ezard, noch sonst jemand davon sprechen hörte. So sehr schienen sie für jeden, der sie zusammen gesehen hatte, unzertrennlich miteinander verwachsen zu sein.

Meine Vermutung wurde unerwarteterweise durch einen Zufall bestätigt, der mir eines Abends begegnete, als ich zum Kirchhof ging, um die Gräber meiner Eltern zu besuchen. Sie waren von zahlreichen hohen Rosenstöcken umgeben, die mein Vater selbst nach dem Tode meiner Mutter hatte pflanzen lassen. Um diese Jahreszeit - es war im Sommer - standen sie in voller Blüte und gaben einen starken Duft, um dessentwillen ich eigentlich hinging. An diesem Abend fand ich auf dem Hügel meines Vaters Harreken sitzen, ernsthaft und unbeweglich; in einer Hand hatte er einen dürren Zweig, den ich für einen von denen ansah, die mein Vater an seinem Todestage dem Kleinen zum Abschiede hatte reichen lassen. Der Einfall, dies ausgedörrte Holz mit sich herumzuschleppen, erschien mir abgeschmackt romantisch, dabei eigensinnig, und verdroß mich, und ich fragte den Jungen mit einiger Unfreundlichkeit, was er da mache. »Ich warte auf Papa,« sagte er, »er ist bei dem Grabe seiner Mutter.« Ich fragte: »Warum bist du nicht auch da?« worauf er entgegnete: »Die Frau kenne ich nicht; ich bin beim Großonkel, weil ich den liebe.« Diese Erklärung erbaute mich sehr und stimmte mich milder; ich forderte ihn auf, mich zu seinem Vater zu begleiten. Er schüttelte aber den Kopf und sagte: »Nein, das kann ich nicht. Da gegenüber geht die Sonne unter; ich muß aufpassen, weil ich sehen will, ob es wahr ist, daß sie stillsteht.« Auch sah er mich nicht an, während er mit mir sprach, sondern richtete seine schwarzen, sternglänzenden Augen unverwandt auf den feuerroten Sonnenfleck, den man zwischen den Ästen der Zypressen und Pappeln wahrnehmen konnte. Ich begab mich also allein nach dem an der Mauer des Kirchhofs gelegenen Grabe von Ezards Mutter, und da es ganz von dichtstehenden Bäumen und Gebüsch umringt war, bemerkte ich erst, als ich dicht davor stand, daß mein Vetter mit ganzem Leibe über dem Hügel lag wie ein Toter; sein Kopf war völlig in dem Gewirr des Efeus vergraben. Mich kam ein gewaltiges Erschrecken an, und ich rief mehrmals seinen Namen. Da raffte er sich auf und sah mich an wie einer, der aus dem Grabe wiederkommt, um den Lebendigen das Grauen des Todes zu beschreiben. Ich war erleichtert, da er sich doch regte, und fragte, indem ich näher hinzutrat, was ihm fehle, ob ihm in geschäftlicher Hinsicht etwas Schlimmes begegnet sei. Er schüttelte den Kopf, und es schien mir, als ob er lächelte. Aus irgend einem Grunde, den ich aber nicht anzugeben im stande wäre, machte mich dies verirrte Lächeln an Galeide denken, und obwohl wir sonst nicht von ihr zu sprechen pflegten, wagte ich in diesem Augenblick die Frage, ob sein Kummer sie betreffe. Da bemerkte ich sofort an dem Ausdruck seines Gesichts, daß ich das richtige getroffen hatte; denn das vorhin so tote Gesicht beseelte sich, als hätte ich das Weckwort des jüngsten Tages gesprochen. Ich glaube auch, daß er mir ausführliche Antwort gegeben hätte, wenn nicht gerade der kleine Harre herangekommen wäre, welcher mit Nachdruck verkündigte, daß die Sonne hinunter sei und sich leibhaftig bewege und von der Stelle rücke, was er nun unwiderleglich festgestellt habe.

In meiner Ratlosigkeit begab ich mich zu Eva, an deren Erröten, als ich zu erzählen anhub, sogleich zu bemerken war, daß sie um die Sache wußte. Sie versuchte auch nicht, es mir zu verbergen, sondern gestand mir, daß Ezard vor einigen Tagen bei Gelegenheit einer Geschäftsreise mit Galeiden zusammengetroffen sei, und daß ihn nun, nachdem er zurückgekehrt sei, die Sehnsucht nach ihr in den verzweiflungsvollen Zustand gebracht habe, den ich an ihm soeben wahrgenommen hatte. Etwas Näheres darüber, wie sie es angestellt, und ob sie es schon öfter getan hatten, wußte sie nicht, oder wollte es nicht sagen. Ich fragte, wie es zu erklären sei, daß er sich ihr anvertraut habe, worauf sie erwiderte, er habe in seinem Jammer nicht mehr aus und ein gewußt und wohl gefühlt, daß sie ihn nicht verdammen, nur bemitleiden könne, selbst wenn er noch Schrecklicheres täte. »Was könnte er noch Schrecklicheres tun?« bemerkte ich bitter (denn ich dachte nicht mehr daran, daß ich noch kürzlich gesonnen war, Galeiden einen Vorwurf daraus zu machen, wenn sie etwa Ezard aufgeben sollte); »er richtet uns alle zu Grunde.« - »Der Unglückliche!« sagte Eva traurig; »doch auch sich selbst. Vor solcher Leidenschaft, wie in ihm ist, lasse ich die Arme sinken und denke: dawider kann kein Mensch, das kommt von Gott.« Obwohl ich bei mir selbst schon ähnliches empfunden hatte, konnte ich mir doch nicht versagen, eine mürrische Bemerkung darüber zu machen, was alles man doch dem lieben Gott in die Schuhe schöbe, und was das überhaupt für ein Gott sei, der die Angelegenheiten der Menschen aus Mutwillen oder Unverstand, denn eines von beiden sei doch nur möglich, so in Wirrwarr und Elend setze. »So sage Schicksal anstatt Gott,« entgegnete Eva geduldig. Da ich für den Augenblick darauf nichts zu erwidern wußte, verließ ich Eva und teilte die ganze Sache dem Urgroßvater mit, was ich allerdings wohl lieber hätte unterlassen sollen. Denn was konnte es ändern oder nützen? Der Urgroßvater hatte längst vergessen, daß er früher einmal der Meinung gewesen war, die Vorsehung habe Ezard und Galeiden füreinander bestimmt; jetzt betrachtete er diese Liebe so, als ob Ezard und Galeide sie aus lauter Trotz, Eigensinn und Frevelmut, ungeachtet des großen Schadens, den sie damit anstifteten, böswillig festhielten, während sie es ebensogut lassen könnten. Er vertiefte sich mehr und mehr in seine Entrüstung, und als Ezard das nächste Mal zu uns kam, begann er sogleich von seinem Wiedersehen mit Galeiden zu reden, ohne indessen zu verraten, durch wen er davon unterrichtet worden war. Ezard hörte still zu und regte sich nicht; in seinem Gesicht war nichts zu lesen als eben der übermenschliche Wille, der es in dieser steinernen Ruhe festhielt. Desto mehr erhitzte sich der Urgroßvater, und in sein welkes Gesicht strömte das schwache Greisenblut, daß es glühte, dazu funkelten seine hellblauen Augen zornig unter den dichten, eisgrauen Haaren hervor. »Denke was du warest und was du bist!« rief er. »Ein reiner, liebenswerter Jüngling warest du, ein rechter Liebling Gottes. Nun bist du ein verwüsteter, zerstörter Mensch, ja, und du selbst hast dich dazu gemacht in deiner schmählichen Leidenschaft! Kann ich das Liebe nennen, was seinen Gegenstand in Verderben und Schande reißt? Was hast du gemacht aus meinem süßen Kinde? Wo ist Galeide? Verlassen steht ihr Vaterhaus, fremdes Volk haust darin, und die eigenen Kinder sind tot oder zerstreut und im Elend. Das alles komme auf dich! Fluch, Fluch, Fluch über dich! Glaube mir, ich werde nie nachlassen; noch wenn wir dereinst vor Gott stehen, werde ich Galeidens Seele von dir fordern!«

So mengte der Urgroßvater in seiner ohnmächtigen Verzweiflung das verschiedenste durcheinander und warf meinem Vetter Dinge als Anklage vor, in denen er sich vielmehr Anspruch auf unseren Dank erworben hatte. Ezard rechtfertigte sich aber nicht, sondern entgegnete nur ungefähr so: »Was du sagst, ist alles vergebens. Ich liebe Galeiden, und sie liebt mich. Und ich werde nie, nie auf ihre Liebe verzichten, selbst wenn ich könnte. Selbst wenn ich mit meinem Willen alles, was geschehen ist, ungeschehen machen könnte, würde ich es nicht tun, noch würde Galeide es wollen. Wir beklagen uns nicht und tragen deinen Fluch. Was ist der gegen den Fluch des Geschicks, unter dem wir leben!«

Ezard hatte uns kaum verlassen, als der Urgroßvater seine leidenschaftlichen Worte bereute. Bei der nächsten Gelegenheit überschüttete er ihn mit Zärtlichkeit, sprach ihm zu und hätschelte ihn wie ein krankes Kind. Ezard verhielt sich dabei ebenso unerschüttert wie vorher den Ausbrüchen des Zornes gegenüber; doch schienen ihn die weniger zu schmerzen als die liebreiche Milde, deren er sich unwert fühlen, oder auf die er verzichtet haben mochte.

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